Scheinangriff

Mit frischem Wind in den Segeln verfolgte die Schwarze Wolke die Roter Drache auf ihrem Weg nach Castelduro. Pete hielt mit seinen Befehlen die Mannschaft in Atem, er wollte die höchste Geschwindigkeit aus dem Schiff herausholen. Nach nur zwei Tagen meldete das Krähennest, Land sei in Sicht.

Joshua wunderte sich, dass sie so schnell ihr Ziel erreicht hatten, allerdings ließ Pete die Schwarze Wolke direkt auf die Insel zufahren, die am Horizont rasch größer wurde. Castelduro konnte es also nicht sein.

»Was wollen wir hier?«

»Wir setzen unsere Gefangenen aus«, antwortete Jeremiah.

»Aber ... man kann doch nicht …«

»Sie bekommen Wasser, etwas Proviant, Waffen und Munition. Damit werden sie auf der Insel so lange überleben, bis ein Schiff vorbeikommt, das sie abholt.«

Auf Joshuas Stirn erschien eine steile Falte, so sehr zog er seine Augenbrauen zusammen, doch er schwieg. Als die Schwarze Wolke die Insel erreicht hatte, wurden einige Beiboote zu Wasser gelassen. Fast die gesamte Mannschaft nahm an Deck Aufstellung, jeder bewaffnet, ehe die Gefangenen einzeln und gefesselt zu den Booten geführt wurden. Blinzelnd schlurften sie vorüber.

Die Prozedur kostete Zeit, man konnte Pete ansehen, dass seine Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde, doch so erschien es sicherer. Nur ein Pirat blieb zurück sowie drei Schiffsjungen, die vor allem George zur Hand gehen sollten.

Als der letzte Gefangene von Bord war, wurden sie auf die Insel gerudert und, wie von Jeremiah angekündigt, ausgesetzt. Kaum waren die Boote vom Strand zurückgekehrt, lichtete die Schwarze Wolke den Anker, setzte Segel und begab sich auf die Fahrt nach Castelduro.

Einige Tage später rief Pete die beiden Jungen zu sich in die Kapitänskabine. Als sie eintraten, kam er gleich zur Sache.

»Bald erreichen wir Castelduro. Morgen unternehmen wir den Versuch, unseren Kapitän zu befreien. Ich habe bereits einen Plan. Ihr habt ja die Roter Drache gesehen. Ein starkes Schiff, viel größer und schwerer bewaffnet als die Schwarze Wolke . Die Größe hat ihren Preis: Sie ist langsamer und schwerfälliger als unser Schiff. Darauf beruht mein Plan – zumindest ein Teil davon.«

Pete sah Joshua und Jeremiah ernst an.

»Die Schwarze Wolke wird Castelduro frontal angreifen, früh morgens vor Sonnenaufgang, wenn die Wachen müde sind. Wir werden ihnen einen hübschen Morgengruß senden, während wir vor dem Hafen kreuzen.«

Es würde also das Gleiche geschehen, was sie auf dem Felsenhort erlebt hatten – nur mit vertauschten Rollen.

»Selbstverständlich werden sich unsere Gegner wehren. Drei oder vier Salven werden wir ungestört abfeuern können, dann spätestens werden die Geschütze auf den Befestigungen das Feuer erwidern. Wir werden mit der Schwarze Wolke weiter kreuzen; vielleicht ein Stück aufs Meer fahren, zurückkehren und wieder feuern.«

Pete tippte mit dem Finger auf die Karte.

»Es wird für Eisenkralle eine gehörige Überraschung sein, dass er die Schwarze Wolke wieder verloren hat! Er wird mit der Roter Drache auslaufen und angreifen. Wenn das Schiff aus dem Hafen kommt, fahren wir ihm vor der Nase weg. Es wird uns folgen und dann kommt ihr ins Spiel.«

Pete blickte von einem Jungen zum anderen.

»Nicht wir werden nämlich den Kapitän befreien – das macht ihr!«

»Wir?«, rief Joshua entgeistert.

»Genau! Castelduro ist deutlich größer als der Felsenhort. Auf der einen Seite befindet sich der Hafen mit dem Ort, außerdem diese Zitadelle, in der unser Kapitän gefangen gehalten wird, nach allem, was ich weiß.«

Pete wies auf die Karte der Insel, auf der das Castillo de San Felipe eingezeichnet war, die mächtige, von den Spaniern errichtete Festung auf der Insel.

»Morgen früh werden wir euch und ein Dutzend unserer Männer auf der Rückseite der Insel an Land bringen. Ihr geht in den Ort, ganz offen, zwei Jungen werden nicht weiter auffallen. Dort sucht ihr nach einem günstigen Versteck in der Nähe der Zitadelle und holt die Männer. Dann wartet ihr.«

»Worauf?«, wollte Jeremiah wissen.

»Darauf, dass wir mit der Schwarze Wolke angreifen!«, antwortete Pete. »Der Angriff wird Eisenkralles Piraten ablenken. Gemeinsam mit unseren Männern könnt ihr in dem Chaos die Wachen vor dem Tor der Zitadelle überwältigen und die Gefangenen befreien. Vielleicht ermöglicht euch das Durcheinander, ohne Gewalt in das Castillo einzudringen. Wenn ihr das geschafft habt, beginnt der zweite Teil meines Plans.«

Pete schaute die Jungen bedeutungsvoll an.

»In der Zitadelle wird nicht nur unser Kapitän gefangen gehalten, dort befinden sich auch jene Gefangene, die Eisenkralle während seiner Raubzüge als Geiseln genommen hat. Es sind mit Sicherheit auch Soldaten darunter. Wenn es euch gelingt, diese zu befreien, dann müsste es auch möglich sein, ganz Castelduro einzunehmen. Die meisten von Eisenkralles Piraten werden nämlich zu diesem Zeitpunkt auf der Roter Drache sein, um die Schwarze Wolke zu jagen, viele außerdem auf den Befestigungen.«

Für einige Augenblicke herrschte Schweigen in der Kabine.

»Der Angriff der Schwarze Wolke ist also nur ein Scheinangriff«, sagte Joshua. »Um die Roter Drache aus dem Hafen zu locken …«

»… damit wir in die Zitadelle gelangen und die Gefangenen befreien können«, ergänzte Jeremiah.

Pete nickte.

»Genau!«

»Und was ist mit den anderen Schiffen Eisenkralles? Du hast doch gesagt, dass er mehrere unter seinem Kommando hat.«

»Die sind ausgeflogen, wie mir einer der Gefangenen erzählt hat. Von dem habe ich auch die übrigen Informationen über die Geiseln und die Zitadelle.«

»Du glaubst ihm?«

»Ja, er sagt die Wahrheit, da bin ich mir sicher, denn er hat allen Grund dazu, uns keine Lügen aufzutischen.«

Der Pirat, der nicht auf der Insel zurückgelassen wurde, dachte Joshua, der sich beim Gedanken daran immer noch sehr unwohl fühlte. Er hatte im Gegenzug geplaudert. Offensichtlich hatte Pete die Drohung, mit den anderen auf einem einsamen Eiland zu schmachten, wirksam eingesetzt.

»Gut«, meinte Jeremiah und schaute Joshua an. »Dann machen wir es so, oder?«

»Aye.«

Joshua bemühte sich um einen tapferen Gesichtsausdruck. Er hatte gedacht, die Gefahren wären mit der Befreiung Petes überstanden; doch jetzt würde er neue auf sich nehmen müssen.

»Ich danke euch. Einfach wird es nicht, aber diesmal seid ihr nicht allein und unser Scheinangriff wird alles leichter machen. Ihr werdet vor allem keinen Verdacht erregen, wenn ihr in Castelduro herumstreunt.«

Pete legte je eine Hand auf die Schultern der Jungen.

»Erfahrung in der Befreiung von Gefangenen habt ihr ja schon«, fügte er hinzu. »Jetzt geht und ruht euch aus, es wird eine lange Nacht werden.«

Joshua und Jeremiah verließen die Kapitänskabine.

»Meinst du, wir schaffen das?«, fragte Joshua. Ihm gingen viele Dinge durch den Kopf, die schiefgehen und sie in große Gefahr bringen konnten.

»Klar! Diesmal haben wir die Überraschung auf unserer Seite!«

Die beiden Jungen gingen nach unten in die kleine Kabine neben der Küche und spannten ihre Hängematten auf.

George schüttelte in gespielter Missbilligung den Kopf. Seit er mit Schiffsjungen als Gehilfen belohnt worden war, wirkte er trotz seines geschundenen Gesichts wie ausgewechselt. Er pfiff bei seiner Arbeit vor sich hin, raunzte seine Helfer sehr viel seltener an, als Jeremiah es von ihm kannte, und war gegenüber allen umgänglich.

»Mitten am Tag schlafen, wo gibt es denn so etwas?«, grummelte er.

»Befehl von Pete«, erklärte Jeremiah lässig.

George hob die Augenbrauen.

»So, dann wird es wohl seine Richtigkeit haben«, meinte er. »Hat Pete noch etwas angeordnet?«

Jeremiah grinste frech.

»Wenn wir geruht haben, gebratenes Hühnchen mit Weißbrot – nur für uns.«

»Hat er das wirklich gesagt?«

»Aber ja doch«, prustete Jeremiah.

An Schlaf war natürlich nicht zu denken und so befanden sich beide Jungen bald wieder an Deck und warteten darauf, dass sich die Schwarze Wolke ihrem Ziel näherte.