Kampf um Castelduro

Auf den Mauern der Zitadelle wachten nur wenige Männer, ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das, was draußen geschah. Noch immer grollte der dumpfe Lärm der Geschütze, über dem brennenden Ort lag dichter, beißender Rauch, den die Brände in gespenstisches Rot tauchten.

Die Schwarze Wolke feuerte unverändert Breitseiten auf den Ort ab, ihre Kanonenkugeln gingen jetzt auf den Befestigungen und am Hafen nieder. Nur vereinzelt jaulte eine Kugel über den Häusern durch die Luft und hieb irgendwo in den Boden.

Noch war also die Roter Drache nicht ausgelaufen und hatte die Schwarze Wolke zur Flucht gezwungen. Einauge und Woolbrook waren sich einig, dass sie die Festung schnellstmöglich einnehmen mussten.

»Ich gehe voraus und schaue, ob die Luft rein ist und wie viele Männer auf den Wehrgängen sind«, verkündete Jeremiah und verbarg seine Pistolen unter seinem Hemd. Woolbrook und die übrigen Soldaten musterten den forsch auftretenden Jungen verwundert, mehr noch erstaunte sie die gleichmütige Reaktion Einauges und seiner Männer.

»Zu zweit ist es unauffälliger.« Joshua mochte selbst kaum glauben, was er sagte. Es musste an der Müdigkeit liegen, nach der fast durchwachten Nacht und den Aufregungen am Morgen war es kein Wunder, dass er nicht bei Sinnen war.

Jeremiah trat ins Freie.

»Was ist, wenn ihr angehalten werdet?«, fragte Woolbrook.

»Wir tun so, als kümmerten wir uns um die Pferde«, antwortete Joshua und folgte seinem Freund in den Schatten der Arkaden, die entlang des Innenhofs zum Schutz gegen die Sonne und nicht weniger erbarmungslose Regengüsse errichtet worden waren.

Der Tag war noch jung, doch lastete die Hitze schon schwer zwischen den Mauern des Castillo. Joshua kam alles unwirklich vor, wie in einem Traum, aus dem er partout nicht aufwachen wollte. Die Pferde, die ihnen den Zutritt zur Festung verschafft hatten, standen noch immer am selben Platz.

Völlig unbefangen ging Jeremiah einige Schritte unter den Arkaden nach rechts und schaute umher. Dann trat er in den Hof, blinzelte in die Sonne und machte sich zu den Pferden auf. Joshua spähte von seinem Platz aus über den Hof, im Sonnenlicht waren die Wachen bloß dunkle Schemen auf den Mauern; nur einer von ihnen bemerkte Jeremiah, doch der blieb ruhig, hob seine Hand und grüßte.

Der Pirat vollführte mit seiner Rechten eine knappe Bewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte und wandte sich wieder ab. Jeremiah ging langsam weiter und zählte rasch die Gestalten auf dem Wehrgang – mit seiner Rechten bedeutete er Joshua, dass es zwölf Bewaffnete waren. Dieser gab die Zahl an Einauge und Captain Woolbrook weiter und machte sich dann ebenfalls auf den Weg zu den Pferden.

Dicht hinter ihm huschten ihre Mitstreiter aus dem Gebäude und eilten im Laufschritt unter den Arkaden zu den Treppenaufgängen der Mauern, wo sie sich sammelten. Unterwegs blieben einige zurück, um die Eingänge zu bewachen, damit ihnen niemand in den Rücken fallen konnte.

Alles ging ebenso rasch wie leise vonstatten. Noch ehe Joshua bei den Tieren angekommen war, standen Einauge und Woolbrook mit ihren Trupps bei den Aufgängen bereit. Gerade als er sich einen Eimer schnappte, um den Pferden Wasser zu holen, setzten sie zum Sturm an. Die Gewehre schussbereit im Anschlag rannten die Männer die Treppenstufen hinauf.

Joshua erstarrte – jetzt!

Die Wachen fuhren herum, als sie das Scharren, Schnaufen und Rascheln in ihrem Rücken hörten, und ließen die Läufe ihrer Waffen hochschnellen, um auf die Heranstürmenden zu feuern. Doch hatte Woolbrook einige Schützen unter den Arkaden und am Treppenaufgang postiert, die augenblicklich das Feuer eröffneten.

Lautes Knallen füllte den Innenhof des Castillo. Zwei Wachen gingen getroffen zu Boden, doch ihre Kameraden schossen nun ihrerseits auf die Angreifenden. Hast und Schrecken ließen ihre Schüsse fehlgehen.

Trotz der Übermacht nahmen die Wachen entschlossen den Nahkampf auf, benutzten die Gewehre als Knüppel oder zogen ihre Säbel und Messer. Ihr Anführer, der in der Mitte der Mauer direkt über dem Tor stand, richtete seine Waffe auf Einauge und brüllte: »Du …!«

Ein vielstimmiges Knallen schnitt ihm das Wort ab, auch Jeremiah feuerte mit seiner Pistole, die Pferde wieherten ängstlich und scheuten; Joshua brachte sich rasch vor ihren Hufen in Sicherheit. Auf der Mauer sank der Anführer getroffen zu Boden, die noch kampffähigen Piraten gaben sofort auf. Die Wehrgänge der Zitadelle waren eingenommen.

Joshua und Jeremiah tauschten einen erleichterten Blick und machten sich auf den Weg hinauf zu Einauge und Woolbrook. Ein Teil der Befreiten durchkämmte die Räume der Festung, die anderen führten die bezwungenen Wachen ab, die ihre verwundeten und toten Kameraden mitschleppen mussten.

»Der Anfang wäre gemacht«, sagte Einauge zufrieden zu Woolbrook, als die beiden Jungen bei ihnen ankamen und sie gemeinsam über die Dächer Castelduros blickten.

»Zwei Verwundete, die Sache ging glimpflich aus. Wie es aussieht, hat in dem Geschützlärm niemand die Schüsse in der Festung bemerkt. Das wäre ein großes Glück.«

»Jetzt kommt der schwierige Teil: die Ortschaft und die Befestigungsanlagen oben auf den Hügeln«, bemerkte Einauge. »Was meint Ihr, Captain: Wie sollen wir vorgehen?«

»Ich glaube, Blacks Schiff dürfte mittlerweile den Hafen verlassen und die Jagd auf Eures eröffnet haben, Kapitän.« Der englische Offizier strich sich mit seiner Linken über sein Kinn. »Ich denke, wir können einen direkten Angriff riskieren. Mit allen verfügbaren Kräften mitten durch den Ort zum Hafen.«

»Wir sind dabei!«, meldete sich Jeremiah zu Wort. Er hatte seine Pistole bereits nachgeladen.

»Das ist kein Kinderspiel, mein Junge«, wandte Woolbrook ein.

»Das war es bisher auch nicht, Sir!«

Einauge lachte leise in sich hinein.

»Ihr habt keine Einwände, Kapitän?«

»Nein!«

Der englische Offizier schaute Joshua fragend an.

»Wenn Jeremiah mitkommt, werde ich nicht zurückstehen, Sir!«

Woolbrook nickte und fuhr fort, seinen Plan darzulegen.

»Spätestens am Hafen werden wir auf Widerstand stoßen. Wenn wir schnell sind, können wir auch dort die Männer Eisenkralles überraschen. Wir verteilen unsere Leute auf zwei Gruppen. Sollten wir mit Piraten in einen Kampf verwickelt werden, nimmt sich eine Gruppe ihrer an, die andere stößt weiter zu den Befestigungen vor.«

»Einverstanden. Das ist …« begann Einauge, doch Jeremiah unterbrach ihn: »Ach! Das hätte ich fast vergessen! Pete hat noch eine kleine Truppe losgeschickt, die am Waldrand gewartet hat. Sie wollten in den Ort eindringen und versuchen, die Kanonen an den Befestigungsanlagen auszuschalten.«

»Nun, zumindest ist ihnen das nicht gelungen, denn vom Berg wird unverändert gefeuert, wenn ich mich nicht irre«, meinte Woolbrook und fügte mit besorgtem Unterton hinzu. »Dann wollen wir besser keine Zeit verlieren.«

Der Angriffstrupp sammelte sich hinter dem Tor, die Männer hatten ihre Gewehre und Pistolen wieder geladen. Die drei Seeleute, die am Vorabend aufgegriffen und gefangen gesetzt worden waren, und drei Soldaten blieben zurück, sie sollten Eisenkralles Leute im Auge behalten und die Zitadelle bewachen.

Auf Einauges Zeichen hin wurden die schweren Türflügel aufgeschoben, die kleine Streitmacht stürmte hinaus und überquerte im Laufschritt den Platz. Joshua und Jeremiah befanden sich recht weit hinten und mussten beim Laufen den Staub schlucken, den die Stiefel ihrer Vorderleute aufwirbelten. Alle waren äußerst angespannt, jeder rechnete damit, dass auf sie geschossen wurde.

»Vielleicht kehren Eisenkralles Leute vom Hafen zur Zitadelle zurück. Seid wachsam!«, rief ihnen Einauge zu, als sie in die Straße hineinstürmten, die zum Hafen führte. Doch erreichten sie nahezu unangefochten das weitläufige Areal am Kai, die Gassen zwischen den Häusern waren verlassen.

Zwischen dem leeren Hafenbecken und den Lagerhäusern befand sich ein recht breiter, befestigter Streifen, an den sich ein wenig Grün mit einigen Büschen und Bäumen anschloss. Dafür hatten die Heranstürmenden kein Auge, denn ihnen stellten sich nun tatsächlich mehrere Piraten entgegen.

Sie gehörten zu den kampferprobten Männern Eisenkralles und ließen sich nicht so leicht den Schneid abkaufen. Sie rissen ihre Gewehre nach oben und feuerten auf die heranstürmende Gruppe.

Sofort erwiderten Einauges und Woolbrooks Männer das Feuer und suchten Schutz. Einige Kugeln fanden ihr Ziel, begleitet von Schmerzensschreien wälzten sich Verwundete am Boden, Sterbende verabschiedeten sich mit Lauten aus dem Leben, die Joshua durch Mark und Bein fuhren.

Die noch kampffähigen Piraten zogen sich fluchtartig zu einem der großen Lagerhäuser zurück, wo sie sich verschanzten. Einauges und Woolbrooks Männer folgten ihnen, sprangen von Deckung zu Deckung und verharrten schließlich hinter Fässern, Ballen und umherliegenden Trümmern, als ihnen zu heftiges Gewehrfeuer entgegenschlug.

Joshua stolperte orientierungslos hinter Jeremiah her, bis dieser sich zielstrebig hinter einem Fuder Feuerholz verbarg und ohne Verzögerung begann, seine Waffe nachzuladen. Sein Gesicht war rußverschmiert. Über sie pfiffen Kugeln hinweg oder hieben mit einem dumpfen Ploppen ins Holz.

Joshua blickte sich schwer atmend um, er sah die Toten im Staub, zwischen ihren reglosen Körpern die zuckenden, zappelnden, sich windenden Verletzten, deren Schreie ihn wie bissige Krähen umflatterten. Sein Magen bockte, während sein Herz wie rasend schlug; schließlich beugte er sich würgend zur Seite und übergab sich.

Warum bloß war er nicht in der Zitadelle geblieben? Hier konnte er niemandem helfen und war nicht mehr als eine Zielscheibe. Furchtbar erschöpft und mit sich hadernd kauerte er hinter dem schützenden Holzstapel.

Die wilde Schießerei dauerte an. Jeremiah feuerte seine Pistole mehrfach ab, während Joshua nur danebensitzen und zuschauen konnte. Er vermochte seinem Freund nicht einmal beim Laden zu helfen. Irgendwo in dem wilden Wust an Gefühlen plagte ihn auch die Scham über die eigene Unfähigkeit zu kämpfen.

Bald war die Luft schwer von beißendem Rauch. Es wäre töricht gewesen, einen Sturm auf das Lagerhaus zu unternehmen. Die Piraten waren zwar in der Unterzahl, doch hätte es viel Blut gekostet, das Haus direkt anzugreifen.

Wild gestikulierend und brüllend verständigten sich Captain Woolbrook und Einauge, irgendwann begriff der Kapitän, was der Offizier von ihm wollte: Das Lagerhaus, in dem sich die Piraten verschanzt hatten, besaß vielleicht einen Hinterausgang, durch den Eisenkralles Männer fliehen oder ihnen in den Rücken fallen konnten. Mit hektischen Handzeichen entsandte der Kapitän eine Handvoll Männer zur Rückseite des Gebäudes, um es auch dort zu sichern.

Jetzt saßen die Piraten in der Falle! Sie würden aus dem Lagerhaus nur als Gefangene oder Tote herauskommen. Doch donnerten unverändert die Kanonen der Befestigungen in ihrem Rücken, der Sieg war noch nicht erreicht.