Kapitel 3

»Nein, es geht mir gut«, sagte ich zum hundertsten Mal. »Ich schwöre, dass ich völlig okay bin, Mam. Warum auch nicht, mir ist doch nichts passiert.«

Meine Mutter schwieg am anderen Ende der Leitung, als ich mein Wohlbefinden reklamierte. Endlich hörte ich einen tiefen Atemzug.

»Ich war besorgt«, sagte sie. »Ich habe es heute Morgen beim Frühstück in der Zeitung gelesen und versuchte, dich über dein Handy zu erreichen, aber ich erhielt keine Antwort. Also rief ich in deinem Büro an ... und dann das Mädchen, das im Empfang arbeitet – wie heißt sie noch gleich?«

»Molly.«

»Ja, richtig. Molly. Sie ist ein entzückendes Mädchen. Als sie mir erzählte, dass du gestern mit Andrews dort gewesen bist – in diesem Haus –, bin ich fast ohnmächtig geworden. Mein Herz machte einen Sprung, das schwöre ich bei Gott, und ich hoffe, dass ich nicht Angina pectoris bekomme wie Hilary, die leibliche Cousine deiner Großmutter. Sie starb in New York mit nur zweiundsechzig Jahren in einem Kino, und niemand bemerkte, dass sie tot war, bis die Reinigungsleute kamen. Erinnerst du dich daran, dass ich dir das erzählt habe?«

Also war es eine Frau in einem Kino gewesen und nicht ein Mann in einer Kirche.

»Es besteht kein Grund aufgeregt zu sein, Mam. Nichts ist geschehen.«

»Aber die Zeitung schrieb, dass dieser Mann ermordet worden ist. Was, wenn der Mörder sich noch im Haus aufhielt?«

»Der Mörder war längst verschwunden«, sagte ich und unterdrückte einen Seufzer.

»Ja, aber woher hättest du das wissen sollen? Du hattest keine Möglichkeit, das zu erfahren.«

»Doch, das hatte ich.«

»Nein, bestimmt nicht. Sei nicht albern.«

»Du irrst dich, Mam. Ich konnte es wissen. Wenn du gerochen hättest, was ich gerochen habe, wärst auch du sicher gewesen, dass der Mörder bereits verschwunden war.«

»Heiliges Herz Jesu«, murmelte meine Mutter. »Heiliges Herz ... und das soll mich jetzt wohl trösten?«

»Nun, zumindest bedeutet das, dass der Mörder nicht mehr dort war«, sagte ich, erschöpft von dem Bemühen, mich gegen meine Mutter durchzusetzen.

Es entstand eine weitere Pause.

»Mam?«, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte, »bist du noch da?«

Ich hörte ihren üblichen langen leidenden Seufzer. »Du hast nicht angerufen«, sagte sie mit flacher Stimme. »Ich musste das von einem Fremden erfahren.«

»Ich weiß. Ich wollte nicht, dass so etwas geschieht. Ich wollte anrufen. Ich meine, der Einzige, der in dem Zeitungsartikel vorkam, war Andrew, und ich hätte nie erwartet, dass Molly es dir am Telefon erzählt. Ich war erschöpft nach dem, was geschehen ist, und ich bin eingeschlafen, als ich nach Hause gekommen war. Nicht, dass mir etwas geschehen ist – ich war einfach nur müde. Ich wollte auf dem Heimweg anrufen und dir alles erzählen. Ich schwöre es.«

Noch eine Pause.

»Und hattest du nicht sowieso geplant, vorbeizukommen?«, fragte meine Mutter.

»Ja«, log ich.

»Und du hast sicherlich keine Möglichkeit gefunden, eine anständige Mahlzeit zu dir zu nehmen, weil du den ganzen Tag gearbeitet hat. Wirst du also zum Abendessen bleiben?«

»Sehr gerne«, sagte ich durch zusammengepresste Zähne. »Ich werde in zwanzig Minuten bei dir sein.«

Meine Mutter wartete hinter der Haustür, als ich eintraf. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und ihr Gesicht trug den berühmten Blick einer besorgten Mutter. Ihr grau meliertes Haar war immer so adrett frisiert, dass ich dachte, sie müsste jeden Tag zum Frisör gehen. Adrett war überhaupt ein passendes Wort, um meine Mutter zu beschreiben. Alles an ihr war adrett und ordentlich und farblich übereinstimmend. Heute trug sie eine gestreifte Chefkoch-Schürze und dazu passende Schutzhandschuhe. Das gab ihr das Aussehen, als wüsste sie, was sie tat.

Sie sah blass und besorgt aus, als wäre sie diejenige gewesen, die einen Leichnam in Mrs. Harris' gefunden hatte. Ich beugte mich vor, um ihr die Wange zu küssen, und sie streckte die Arme aus und umarmte mich, als hätte sie es gerade noch geschafft, mich aus den Klauen des Mörders zu retten. Ich kam mir in der Gegenwart meiner Mutter immer vor wie eine Riesin. Ich hatte meine Schlaksigkeit von Dad geerbt. »Arbeitet Dad noch?«, fragte ich, während ich mich aus der Umarmung meiner Mutter befreite.

»Er hat Spätschicht«, sagte sie und ging vor mir her in die Küche. »Er muss wieder bei der Arbeit essen, kannst du dir das vorstellen? Dieses Kantinenessen kann ihm doch nicht gut tun.«

Nein, dachte ich, doch es würde wenigstens genießbar sein. Meine Mutter drehte sich nach mir um und schaute mich an, als könnte sie meine Gedanken lesen.

»Nein«, sagte ich laut und versuchte, sie abzuwehren. »Das kann nicht gut für ihn sein. Und was gibt es heute Abend zu essen?«

»Ein neues Nudelgericht. Ich habe das Rezept in einer Zeitschrift entdeckt, als ich am Donnerstag beim Frisör war. Ich habe es mir nicht ausgeschnitten, sondern mir einfach eingeprägt. Ich denke, wenn man schon so lange kocht wie ich, kann man sich die Zutaten und alles andere sehr gut merken.«

»Oh, ja«, sagte ich und war entsetzt von der Vorstellung, dass meine Mutter etwas nach einem halb vergessenen Rezept gekocht hatte. Mein Bruder Will stand am Küchentisch, als wir in die Küche kamen. Er war gute dreißig Zentimeter gewachsen, seit ich ihn vor zwei Tagen gesehen hatte. Und der frisch rasierte Kopf ließ ihn noch größer erscheinen.

»Will«, sagte ich und war froh darüber, dass ich nicht die Einzige sein würde, die leiden musste.

Er setzte sich an den Küchentisch und warf mir ein Lächeln zu. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass er sich zu einem wirklich gut aussehenden, jungen Mann entwickelte. Natürlich würde ich ihm das niemals sagen.

»Ell«, sagte er und spielte mit seiner Gabel herum.

»Hübsches Piercing an der Augenbraue«, sagte ich, als ich mich ihm gegenüber hinsetzte.

»Danke.« Er lächelte, und seine Augenwinkel kräuselten sich.

»Ich halte es für eine Schande«, verkündete meine Mutter hinter mir, wo sie das zusammengekochte Essen auf Tellern anrichtete, »Ringe und Stäbe und Gott weiß was sonst noch durch seine Haut zu schieben. Es würde besser zu dir passen, William, wenn du dich um deine Studien kümmern würdest.« William seufzte. »Ich habe für meine Weihnachtstests nur Einser bekommen, Ma, verflixt noch mal.«

»Entschuldige, Junior«, sagte meine Mutter, während sie dampfende Teller mit einer undefinierbaren klebrigen Masse vor uns hinstellte. »Ich verbitte mir deinen Ton. Ich weiß, dass du in den Tests Einser bekommen hast, doch vielleicht wärest du noch besser gewesen, wenn du nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wärest, dir Löcher in deinen Körper zu stechen und in dieser Band zu spielen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich etwas Besseres als einen Einser bekommen könnte ...«, begann Will, und ich gab ihm unter dem Tisch einen Tritt, weil ich es leid war, mit unserer störrischen Mutter unlogische Gespräche zu führen. Er schaute mich an.

»So«, sagte ich und grub meine Gabel in den gallertartigen Hügel vor mir, »wie geht es denn mit den Shakin' Shaykhs jetzt? Spielen sie noch immer vor dem Tempel?«

»Prima«, sagte Will, atmete tief ein, ehe er sich den Mund mit Nudeln vollstopfte und sie schnell schluckte. Ich kannte diesen Trick. Will und ich hatten ihn uns ausgedacht, damit wir das, was wir aßen, nicht schmecken konnten.

»Wir haben vor, uns an einem Wettbewerb zu beteiligen«, sagte er, nachdem er sich von dem unausweichlichen Schauder erholt hatte, der immer folgte, wenn man Mutters Gerichte geschluckt hatte. »Und wir nennen uns jetzt Gut Instinct, Ellen, die Shakin' Shaykhs sind Jahre her.«

»Ein Wettbewerb ist eine gute Idee, Will.«

»Es wäre besser, wenn du deinen Bruder zum Lernen anhalten würdest«, sagte meine Mutter.

»Himmel, Mam«, sagte Will, »ich lerne. Woher, glaubst du, hätte ich sonst meine Einser bekommen?«

»Ja, aber wenn du all die Zeit, die du mit deiner Band verbringst, zum Lernen verwenden würdest, dann, William, dann stell dir mal vor, wie deine Noten dann wären ...«

»Ich habe gestern einen Toten in einem Haus entdeckt«, sagte ich, um das unendliche Gespräch zu unterbrechen.

»Lieber Gott«, fuhr meine Mutter fort. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich auf ihre Hilflosigkeit zurückzog – doch wenigstens war es eine Abwechslung.

»Cool«, sagte Will. »Wie war er denn?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich nach dem nächsten Schauder. »Es war dunkel im Raum, und der Geruch ... er ist erschossen worden.«

»Jesus, Maria und Josef«, sagte meine Mutter und bekreuzigte sich.

»Hast du gewusst, dass er erschossen worden ist?«, fragte Will.

»Nicht, als ich ihn fand.«

»Es stand alles auf der Titelseite der Morgenzeitung«, sagte meine Mutter.

»Cool«, wiederholte Will. »Sind die Journalisten gekommen und haben dich interviewt?«

Ein dicker Nudelklumpen blieb mir im Hals stecken. Das war zu viel. Ich begann zu husten und zu würgen, und schließlich musste ich aufstehen und aus der Hintertür hinauslaufen und in den Mülleimer spucken. Ich blieb ein paar Minuten lang draußen im Garten und versuchte, die aggressive Galle und die Reste von dem Essen meiner Mutter zu schlucken. Meine Mutter rief, dass ich zurückkommen solle. Ich versicherte ihr, dass es mir gut ging und ich gleich wieder hineinkommen würde, und dann atmete ich tief ein und aus und versuchte, so lange zu warten, bis das Essen vorbei war. Als ich in die Küche zurückkehrte, räumte meine Mutter die Teller ab, und Will las in seiner Musikzeitschrift. Ich hatte es geschafft.

»Also?«, fragte er, als ich mich neben ihn an den Tisch setzte.

»Bist du in Ordnung?«, fragte meine Mutter.

»Prima«, versicherte ich ihr.

»Also?«, wiederholte Will. »Warum haben sie dich nicht interviewt?«

»Woher weißt du, dass sie mich nicht interviewt haben?«

»Mam sagte, dass sie nur Andrew Kenny interviewt haben.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig? Wirklich, Will, ein Mann ist tot. Ist das nicht das Wichtigste?«

William klappte seine Zeitschrift zu und sah mich an.

»Ja«, sagte er sanft. Ich war überrascht – er wurde tatsächlich erwachsen.

»Ich habe einen Apfelauflauf als Nachtisch gemacht«, verkündete meine Mutter, während sie ein dampfendes Gericht vom Herd nahm. Will und ich sahen einander an und machten abwehrende Gesten mit unseren Fingern. Wir nannten dieses Gericht Magendreher. Sie brachte den Auflauf zum Tisch und stellte ihn schwungvoll genau in die Mitte.

»Also, er ist perfekt geworden«, sagte sie und schnitt riesige Stücke davon ab.

»Klingelt das Telefon?« Will sprang von seinem Stuhl auf und rannte aus der Küche, ehe wir ihn aufhalten konnten.

Miststück, dachte ich, denn jetzt musste ich bleiben. Es war eine unausgesprochene Regel zwischen uns, dass nur einer entkommen konnte und der andere bleiben und das Essen durchleiden musste. Ich war nicht mehr im Training. Ich stocherte in dem breiigen Apfelkuchen herum, damit es aussah, als äße ich davon.

»Komm her und schau dir das an, Ellen, komm schnell, ehe es zu Ende ist«, rief Will aus dem Wohnzimmer.

Ich ließ erfreut meine Gabel fallen und rannte, mit meiner Mutter im Schlepptau, los.

»Sieh dir an, wer im Fernsehen ist, sieh doch nur!« Will deutete auf den Bildschirm, als hätte er eine bedeutsame Entdeckung gemacht. Ich brauchte einen Moment, bis ich das Bild auf dem Bildschirm begriff. Andrew stand vor unserem Bürogebäude, man konnte deutlich den Namen Gladstone und Richards über seinem Kopf lesen, und wurde für die Abendnachrichten interviewt. Dieser riesige Mistkerl. Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was er sagte, doch ich hörte nur Wortfetzen – Leichnam, Sofa, Polizei, alles an einem Arbeitstag. Er sah wie ein männliches Model aus, das gerade den Seiten einer hochglänzenden Sonntagsbeilage entstiegen war – weiße Zähne, perfekte Haut und nur der winzige Hauch eines Lächelns. Nun ja, man konnte nicht breit grinsen, nachdem man einen Leichnam gefunden hatte, und Andrew wusste das.

»Er sieht noch immer blendend aus. Du hast das Boot mit ihm verpasst, Ellen. Ein wirklich guter Mann, und du hast ihn ausgerechnet nach London geschickt«, sagte meine Mutter, als der Bericht vorbei war.

Will kicherte im Sessel neben mir. Ich schwor, dass ich mich nicht verteidigen würde. Ich lernte es, mit meiner Mutter umzugehen.

»Mam, du hast überhaupt keine Ahnung. Er ist ein eingebildetes und arrogantes Schwein. Ihn interessiert nur die Arbeit. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Hast du ihn in den Nachrichten gesehen – kriecherisch und nett – und der arme tote Mann interessiert ihn überhaupt nicht ...« Meine Stimme verklang. Will lachte. Meine Mutter schaute mich an, als hätte ich mich plötzlich in eine geheimnisvolle Außerirdische verwandelt, die völlig unerwartet in ihr Leben eingefallen war und behauptete, ihre Tochter zu sein. Sie seufzte und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.

»Möchtest du zu deinem Apfelauflauf Kaffee haben?«, fragte sie.

Dad fuhr mich an diesem Abend nach Hause. Geliebter, zuverlässiger Dad, der wie ein Kavallerist rauchte, trotz einer leichten Herzattacke im vergangenen Jahr. Er gab Mutters Essen die Schuld an dem Herzanfall und rauchte jetzt nur noch heimlich. Sein Auto stank nach abgestandenem Zigarettenrauch und nach Junkfood von McDonalds oder Burger King. Ich nahm es ihm nicht übel, dass er sich an Junkfood oder Zigaretten gütlich tat. Mam war harte Arbeit.

Er ließ mich vor meinem Haus aussteigen, nachdem er mir eingeschärft hatte, Onkel Gerry wegen eines Wagens anzurufen. Ich betrat mein Apartment und war froh über die Ruhe und den Raum, der mich begrüßte. Ich fütterte einen ausgehungerten Joey und ließ ihn auf den Balkon zu einem kurzen Spaziergang hinaus (einen sehr kurzen Spaziergang – der Balkon ist nur ein Meter achtzig lang). Ich überprüfte meinen Anrufbeantworter auf Nachrichten, aber es war nur eine darauf, von India, und ich hörte sie mir an, während ich mir in meiner Kombüse von Küche Kakao kochte.

Jeder Auktionator wusste, dass das Wort Kombüse winzig, sehr klein, eng bedeutete und nicht einmal groß genug für eine Frau und eine Katze. Ich konnte in meiner Küche Kakao kochen, ohne einen einzigen Schritt machen zu müssen.

Ich hatte das einmal Ruth und India vorgemacht, als wir uns zu einer Ladies-Night bei mir getroffen hatten. Sie waren überrascht gewesen, doch wir waren bereits bei unserer vierten Flasche Wein angelangt und leicht zu unterhalten gewesen.

India hatte nichts Wichtiges zu sagen, einfach nur, wie geht's dir und all den üblichen Kram. Und sie hatte unser Gesellschaftsleben bis in den nächsten Monat hinein verplant. Ich kenne India schon seit unserer Kinderzeit, und sie war immer eines dieser Mädchen, die gut organisiert waren – und das Gegenteil von spontan. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die selbst bis zum heutigen Tag verrückte Hippies geblieben sind. Sie müssen ganz einfach verrückt gewesen sein, da sie ihre neugeborene Tochter India Madeline Burke genannt hatten. Ich speicherte ihre Nachricht, weil ich dann unser Gesellschaftsleben in mein Notizbuch übertragen konnte, und danach rief ich Onkel Gerry an, während ich meinen heißen Kakao schlürfte.

»Hi, Onkel Gerry, ich bin's, Ellen.«

»Hi, Liebes, was kann ich für dich tun?«

Onkel Gerry war ein genialer Gebrauchtwagenhändler. Er hatte alles – die Sprache, die Elvis-Frisur, die schlechten Autos.

»Ich brauche einen Wagen. Der Fiesta, den du mir verkauft hast, ist abgefackelt.«

»Ach, dieser alte Haufen. Niemand fährt in diesem Land mehr alte Autos. Also, lass mich mal überlegen ...«

Ich schleuderte meine Schuhe von mir und streckte mich auf dem Sofa aus, während Gerry nachdachte. Das konnte eine Weile dauern.

»Ich habe es, ich habe es. Genau der richtige Wagen für dich, Ellen. Wie für dich gemacht. Ich werde ihn dir morgen früh vorbeibringen, und fast neu ist er auch.«

Die Sache mit dem »fast neu« hatte nicht viel zu bedeuten, das behauptete er von all seinen Wagen.

»Bring ihn mir zum Büro, sagen wir gegen halb zehn. Das ist großartig. Bis dann«, sagte ich und hängte auf. Ich wollte gar nicht wissen, welche Lüge mir diesmal Ärger machen würde. Doch es war schlimmer, als ich befürchtet hatte.

Ich ging frühzeitig ins Büro, weil ich meine Schreibarbeiten und Telefongespräche erledigen wollte. Molly thronte schon am Empfang, als ich durch die Tür kam, atemlos nach meinem Gewaltmarsch zur Arbeit. Mein Körper war dieses unnötige Training nicht gewöhnt.

»Er war in den Nachrichten«, sagte sie, während sie ihre Talons abheftete. Heute waren sie türkisfarben.

»Ihnen auch einen guten Morgen, Molly«, sagte ich bissig und ging in Richtung Küche.

Ich brauchte schnell eine Dosis Koffein, oder ich würde Molly ein paar Takte erzählen, und wenn ich das tat, würde ich nur all die minderwertigen Objekte auf meiner Liste vorfinden. Was nicht weit entfernt war von dem, was normalerweise geschah. Molly schien zu glauben, dass man als Mann viel besser Immobilien verkaufen konnte. Jeder Typus Mann wäre ausreichend, von dem pickelgesichtigen Ryan, dem neuen Junior, der aussah, als hätte er gerade erst seine Konfirmation hinter sich, bis zu Roger, dem Hinterngrabscher, der für die Hypotheken zuständig war. Ich trug meinen Kaffee zu meinem Schreibtisch und nahm den Berg von Papierkram vor mir in Angriff.

»Morgen, Ellen.« Andrew stand an der Tür des Großraumbüros, kam herein und zog sich einen Stuhl heran. Andrew hatte sein eigenes Büro, während ich mir meines mit drei weiteren Auktionatoren teilte.

»Na, wie geht die neue Karriere voran?«, fragte ich ihn, während ich eine Akte vor mich auf den Schreibtisch knallte. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, der die gleiche Farbe hatte wie seine Augen. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. Ich starrte ihn an und entdeckte, dass die Lippen, die ich immer für sexy gehalten hatte, in Wahrheit grinsten. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und wartete auf seine Antwort.

»Ich habe heute Morgen noch vor dem Frühstück mit der Polizei gesprochen. Das Haus in Honan Terrace wird bis Donnerstagabend abgesperrt sein.«

»Ich habe gehört, dass du einen Teil schon angeboten hast, ein großes neues Kriminaldrama auf RTE. Stimmt das?«

Er lächelte, doch ich wollte nicht, dass er sich amüsierte, ich wollte, dass er sich ärgerte. Er schluckte den Köder nicht.

»Also ... Ellen, dieses Haus ist dir zugeteilt, und Daniel Harris hat mir gestern Nacht per E-Mail mitgeteilt, dass er nach Hause kommt, um das Haus in Ordnung zu bringen. Die Umzugsfirma ist für Freitagmorgen bestellt worden, und Daniel sagte, dass er dich dort um zehn Uhr herum treffen wird. Geht das in Ordnung?«

Ich starrte ihn an, statt ihm zu antworten.

»Bist du sicher, dass du das Haus in Honan Terrace behalten willst? Es wäre verständlich, wenn du es nicht behalten möchtest, nach allem, was dort geschehen ist. Wenn du es nicht mehr haben willst, werde ich es Ryan geben. Er würde dafür sterben, wenn du das Wortspiel verzeihst.«

Er stand auf, wischte sich nicht vorhandene Flusen von den Hosen und vermied jeden Augenkontakt mit mir. Ich dachte, dass er lachte, weil seine Schultern leicht bebten, doch ich hatte keine Möglichkeit, das zu beweisen.

»Ich kann mich um Honan Terrace kümmern, das ist kein Problem für mich«, sagte ich mit meiner eisigsten Stimme und schlug den Ordner auf, der vor mir auf dem Schreibtisch lag. Er ging zur Tür und blieb dort einen Augenblick lang stehen. Ich konnte seine Anwesenheit spüren, doch ich dachte nicht daran, hochzuschauen.

»Der Tote hieß übrigens Jérôme Daly. Offenbar ein Kleinkrimineller. Alte Schule, Einbruch und Diebstahl, etwas in der Art. Ein ziemlich unbedeutender Typ. Tatsache ist jedoch, dass er sich einen Schuss in den Kopf eingehandelt hat wie eine Hinrichtung, verstehst du. Die Polizei glaubt, dass mehr dahinter steckt. Oh, und er hat gleich nebenan gewohnt«, sagte Andrew von der Tür aus.

Woher hatte er bloß diesen Polizeijargon?

»Oh, ich weiß, welchen Teil du haben möchtest, Die Sopranos, nicht wahr! Übe schön weiter«, sagte ich, ohne hochzusehen.

»Bis später, Ellen«, erwiderte er nur und war dann fort. Typisch Andrew, immer cool, immer beherrscht. Um mich abzulenken, schaute ich in meinen Kalender nach den Terminen, die ich an diesem Tag hatte – drei Besichtigungen und alle am Nachmittag. Normalerweise hielt ich mir mittwochs die Vormittage für die schriftlichen Arbeiten und die damit zusammenhängenden Telefonate frei. Und ich musste ohnehin warten, bis Onkel Gerry mir den Wagen brachte. Also nahm ich den Arbeitsstapel vor mir wieder in Angriff. Ich war in der Arbeit vertieft und fuhr fast aus der Haut, als mein Telefon klingelte.

Da ich dachte, dass das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte, sprach ich einem Moment lang in den stummen Hörer, ehe mir klar wurde, dass es mein Handy war. Ich begann mit einer hektischen Suche in meiner Handtasche und meinem Schreibtisch und versuchte dabei, die beiden Junior-Versteigerer Ryan und Andrea nicht sehen zu lassen, was bei mir nicht stimmte. Ich lächelte zu ihnen hinüber, während ich in den Schreibtischschubladen nach dem Handy tastete. Ryan kam zu mir herüber und beugte sich vor meinem Schreibtisch herab.

»Hier, Ellen, das musst du fallen lassen haben«, sagte er und reichte mir mein plärrendes Handy. Ich lächelte ihn dankbar an und nahm den Anruf entgegen. Ich hörte der Stimme an meinem Ohr zu und versuchte, mich nicht aufzuregen, als mir klar wurde, was der Anrufer mir mitteilte. Unter Aufwendung aller mir zur Verfügung stehenden Zurückhaltung schaffte ich es, ruhig zu bleiben und all die richtigen Geräusche von mir zu geben, während ich in Wirklichkeit vor Freude laut hätte schreien mögen. Ich beendete das Telefonat, steckte das Handy in die Tasche und ging ruhig zu der kleinen Toilette, die sich im rückwärtigen Teil unseres Büros befand. Sobald ich die Kabine hinter mir verschlossen hatte, schrie und kreischte ich lautlos, immer wieder Ja! Ja! Ja!.

Als ich fertig war, ging ich ruhig hinaus, setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm die Akte »Hazeldene« heraus. Dieses Objekt war seit einem ganzen Jahr in den Büchern, und selbst Tim Gladstone persönlich hatte es für eine Weile übernommen, doch niemand hatte auch nur einen Hauch von Angebot bekommen. Ich meine, wenn man für »Hazeldene« einen zweiten Besichtigungstermin abspricht, dann ist man schon erfolgreich, und ein Angebot war ein Wunder. Und ich hatte ein wunderbares und annehmbares Angebot erhalten, nur drei Riesen weniger als der geforderte Preis, und ein weiteres Paar wollte es sich am Nachmittag anschauen. Das Leben war gut. Nein, das Leben war großartig. Und dann kam Onkel Gerry.

Er kam nicht in die Rezeption und fragte leise nach mir oder so ähnlich, er drückte auf unserem kleinen Büroparkplatz einfach auf eine Hupe. Als ich hinauslief, hatte sich schon eine beträchtliche Menschenmenge auf den Stufen von Gladstone und Richards eingefunden, um zu sehen, was los war. Ich wusste bereits nach dem ersten Hupen, dass es Onkel Gerry war. Die Saltos, die mein Magen machte, sagten es mir.

Ich drängte mich durch die kichernde Menge auf den Stufen und sah meinen Onkel in einem strahlend rosafarbenen Hyundai sitzen. Ich spürte das Bedürfnis, davonzulaufen, doch Onkel Gerry sah mich und winkte mir majestätisch aus dem Wagen zu. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, was verständlich war, weil man dunkle Gläser brauchte, wenn man den Wagen auch nur eine kurze Zeit anschauen wollte. Ich hörte Andrews Stimme in der Menge.

»Ich würde sagen, dass hier gerade Ellens neuer Wagen angeliefert wird«, sagte er zu einem lachenden Tim Gladstone. »Das ist ihr Onkel Gerry.«

Ich wollte den sarkastischen Mistkerl die Treppe runterschubsen, doch stattdessen rannte ich an ihm vorbei und war froh, dass ich die Zuschauer hinter mir gelassen hatte. Onkel Gerry stieg aus, und wir beide umrundeten den rosafarbenen Wagen.

»Was meinst du?«, fragte er mit breitem Grinsen.

»Wow ... ah«, sagte ich. Ich war zu überwältigt, um etwas anderes zu sagen.

Aber ich wusste, was ich zu tun hatte. Sobald ich wieder sprechen konnte, spielte ich die Entzückte, und ich dankte ihm laut und überschwänglich und sagte ihm, dass dieses Auto genau das war, was ich mir gewünscht hatte. Einen hellrosafarbenen Hyundai. Die Art von Rosa, die man nur bekommt, wenn man Lebensmittelfarben und E-Nummern verwendet. Was sonst konnte sich eine Frau wünschen?