Kapitel 4

Mir war unheimlich zumute, als ich am Freitagmorgen vor dem Haus in Honan Terrace stand. Ich hatte einen Schlüssel zu dem Anwesen, doch ich zögerte, allein hineinzugehen, und setzte mich stattdessen in meinen Wagen, um darauf zu warten, dass Daniel Harris oder die Räumungsleute auftauchten. Das Erste, was passiert, wenn man einen Toten findet, ist, dass man erwartet, dass wieder einer auftaucht. Daniel Harris traf als Erster ein.

»Hi, ich bin Ellen Grace von Gladstone und Richards. Nett, Sie kennen zu lernen!«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte mir meine Hand und starrte dabei meinen rosafarbenen Wagen an. Er war in den Vierzigern, hatte zurückweichendes Haar und war das reinste Nervenbündel.

»Ein Toter in meinem Haus, um Himmels willen! Irgendein alter Mann ist in meinem Haus erschossen worden. Ich habe kein Auge mehr zugetan, seit ich das erfahren habe. Ich musste nach Hause zurückkommen, um das alles hier zu erledigen, und ich war in Torremolinos sehr beschäftigt, denn dort ist Hochsaison. Du lieber Gott!«, fuhr er fort, als er die Haustür öffnete.

Ich versteckte mich hinter ihm, als wir hineingingen, was nicht sehr half, weil ich circa fünfundvierzig Zentimeter größer war als er, doch ich fühlte mich besser. Mir fiel auf, dass der Geruch verschwunden war. Das war wenigstens etwas. Der Wagen mit den Räumungsleuten traf ein, und Daniel Harris nahm mich in den nächsten anderthalb Stunden in Beschlag, während er Dinge in die Hand nahm und wieder ablegte, als ob er helfen würde, während die Räumungsleute und ich die gesamte Arbeit machten. Er jammerte unausgesetzt, und als er zu dem »unerträglichen« Wetter in Spanien kam, sagte es in meinem Kopf: ja klar, ja klar, ja klar, und mein Mund fror zu etwas ein, das einem Lächeln nahe kam. Was auch immer er sagte, ich lächelte – über Tote, schlechten Ehen oder verspätete Flüge.

Er schüttelte mir die Hand, als er ging. Ich dachte, ich hätte bei ihm einen hervorragenden Eindruck hinterlassen. Die Räumungsmänner hatten das gesamte Haus leer geräumt, und ich war gerade dabei, einen letzten Rundgang zu machen, als mein Handy klingelte. Es war Andrew. Vor ein paar Jahren noch hätte ich beim Anblick seines Namens auf dem Display eine Gänsehaut bekommen, und meinen Magen hätte Purzelbäume geschlagen, und das alles, noch ehe ich überhaupt seine Stimme gehört hatte. Jetzt hatte ich den überwältigenden Drang, das Handy an die Wand zu schmeißen, was ich natürlich nicht tat, sondern ich verhielt mich wie jede andere Karrierefrau.

»Sprich.«

»Hi, Ellen. Ich halte mich den restlichen Tag im Kreisamt auf und wollte nur hören, wie es bei dir geht. Hast du dort alles unter Kontrolle?«

»Nun, es sind keine weiteren Leichen aufgetaucht, falls du das meinen solltest«, sagte ich, während ich im Flur an einem Stück feuchter Tapete herumzupfte. Ich konnte hören, dass die Räumungsmänner draußen die Kisten auf den Lastwagen hievten.

»Du wirst am Montag dein Arbeitspensum neu festlegen müssen. Irgendjemand – Molly, denke ich, aber sie bestreitet es – hat das Haus in unsere Werbebeilage aufgenommen. Zehn Termine gibt es schon, und die betreffen nur Montag. Von den Interessenten können natürlich die Hälfte Spinner sein, die nur einen Hauch von Mord oder sonst was mitbekommen wollen – du wirst schon die wirklich interessierten Leute herausfiltern. Oh, und Ryan hat für morgen die Reinigungsfirma bestellt. Damit wird für Montag alles vorbereitet sein.«

Ich sagte nichts und überprüfte einfach weiter die Räume, um sicherzustellen, dass das Haus wirklich leer war. Es gab eine kleine Tür unter der Treppe, die mir zuvor noch nicht aufgefallen war. Ich öffnete den Riegel und drückte mit dem Knie gegen die Tür, und als sie plötzlich nachgab, stolperte ich in die dunkle Öffnung.

»Huch ... Mann«, sagte ich und lehnte mich an die Wand. »Was war das?«

»Nichts. Einer der Räumungsmänner hat sich nur den Zeh angestoßen«, log ich.

Ich linste in die Dunkelheit und sah ein Paar leuchtend grüne Augen, die mich anstarrten.

»Huch!«

»Ellen, was ist bei dir los? Soll ich kommen? Ich bin im Nu da ...«

»Es geht mir gut, wie oft soll ich das noch sagen? Gut, g-u-t, verstanden?«

Ich ging zur Tür, um die Räumungsmänner zu bitten, das Ding mit den leuchtenden Augen zu entfernen, das, wie mir klar war, eine riesige Porzellankatze war.

»Ich habe mit Ryan gesprochen, und er ist nur allzu bereit, Honan Terrace zu übernehmen, bevor bei dir die Sicherung durchbrennt. Ich weiß, dass du gesagt hast, dass alles in Ordnung ist, trotzdem könnte es schwierig werden ... ich meine, wenn du in diesem Haus allein bleiben musst.«

Nun verlor ich die Geduld und schrie ins Handy: »Wenn du Ryan mein Haus gibst, Andrew, ja, mein Haus – erinnerst du dich an das Foto, das ich von dir habe und auf dem du meine Peitsche trägst? Ich schwöre vor Gott, dass ich es vergrößern lassen und es am Montag um neun Uhr morgens überall im Büro deutlich sichtbar verteilen werde.«

Doch ich sprach mit mir selbst. Andrew, dieser große Mistkerl, hatte mich abgehängt. Ich fluchte laut, und dann erinnerte ich mich wieder an die Räumungsmänner und die Porzellankatze. Ich öffnete die Haustür und rannte den mit Kopfsteinpflaster belegten Weg hinunter, um gerade noch zu sehen, wie der Laster um die Ecke verschwand. Ich war ihm so nahe gewesen, dass ich die Schrift auf der Rückseite lesen konnte – Shamrock-Räumungen und Einlagerungen. Ich rannte hinter ihm her und winkte, die Räumungsmänner winkten zurück und hupten fröhlich, und fuhren weiter.

Ich tanzte vor Wut auf der Straße. Das war alles nur der verdammte Fehler des verdammten Andrew. Und jetzt musste ich zurück ins Haus gehen. Allein. Es war unheimlich still, und ich ließ die Haustür weit offen und sang laut vor mich hin, als ich die dumme Porzellankatze unter der Treppe hervorzerrte. Doch durch den Klang meiner Stimme erschien mir das Haus nur noch unheimlicher.

Ich legte die Katze in den Kofferraum des Wagens und konnte es kaum glauben, dass ich jetzt auch noch zu Shamrock-Räumungen und Einlagerungen fahren musste. Das war alles Andrews Fehler, weil er mich aufgehalten hatte – als hätte ich nicht schon sowieso eine Million Dinge zu erledigen. Ich bemühte mich, mein rosa Auto nicht anzusehen, während ich auf den Fahrersitz glitt. Als ich den Motor anließ, klingelte mein Handy. Indias Name erschien auf dem Display.

»Hi, India.«

Ich schaute zu Honan Terrace hinüber, während ich den Anruf entgegennahm. Ich hatte kein Problem, das Haus zu verkaufen – solange ich es nicht allein betreten musste. Himmel, vielleicht hatte Andrew ja tatsächlich Recht.

»Hi, Ellen. Ich versuche schon seit Jahren dich zu erreichen. Wie geht es dir nach all den Leichen?«

»Mir geht es wirklich klasse, India, richtig gut. Gibt es sonst noch was? Irgendwas Neues?«

»Nein, ich wollte dich nur an Sonntagabend erinnern, das hast du doch nicht vergessen, oder? Hole du doch Ruth ab, weil sie sich immer verspätet. In der Zwischenzeit werde ich an meinem Laptop arbeiten, während ich auf euch warte. Ich habe für das Wochenende Arbeitszeit eingeplant. Hast du schon ein Geschenk für sie gekauft?«

Ich hatte alles vergessen, was zählte. Doch diese Sache war völlig verwirrend. Welches Geschenk? Ich beschloss, zu schweigen und sie ein wenig länger reden zu lassen. Weise Entscheidung.

»Ich habe Ruth schon vor einem halben Jahr diesen Hermés-Schal gekauft. Ich wusste einfach, dass er das Richtige war, als ich ihn sah, und man kann nie das Richtige kaufen, wenn man in Eile ist. Ich habe Karten für Tosca am Sonntagabend bestellt und hatte meine liebe Mühe, sie noch zu bekommen. Und das war bereits vor einem Vierteljahr gewesen. Ruth wird es lieben. Aber ich habe euch das neulich alles erzählt und hatte eine ausführliche Nachricht auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen.«

O mein Gott, Ruths Geburtstag. Den hatte ich völlig vergessen. Aber es war in Ordnung. Ich hatte das gesamte Wochenende zu Verfügung, um für Ruth das perfekte Geschenk zu finden. In der Zwischenzeit musste ich India in dem Glauben lassen, dass ich mich an alles erinnerte.

»Das ist großartig, Ind. Ich werde dich abholen, ich bin mit dem Fahren dran. Bis dann und tschüss.« Ich fuhr mit meinem rosa Auto zurück zum Büro. In jedem Stau konnte ich die Augen der Menschen auf mir spüren. Wenn man gern bemerkt werden möchte, kann man Kabrioletts oder Ferraris oder Silikonimplantate vergessen. Man braucht sich einfach nur einen glänzenden rosafarbenen Hyundai zu kaufen.

Ich arbeitete bis um sechs Uhr und schaffte es, ein weiteres Angebot für »Hazeldene« zu bekommen. Ich war müde und hungrig, doch meine Lebensgeister erwachten bei dem Gedanken an einen Krieg der Bieter. Meinen eigenen, persönlichen Krieg der Gebote, den mir niemand klauen würde. Um zehn nach sechs steckte ich im dichten Innenstadtverkehr, als mein Handy wieder klingelte. Irgendein Typ in der nächsten Kolonne machte mir rüde sexuelle Zeichen, also zeigte ich ihm meinen Mittelfinger, während ich mich am Handy meldete.

»Hi, Will. Okay, was brauchst du?«

»Ich kann nicht einmal meine Lieblingsschwester anrufen, ohne dass sie glaubt, dass ich etwas von ihr haben will.«

»In der vergangenen Woche war Alison deine Lieblingsschwester, als du eine Unterkunft haben wolltest, um in Dublin zu bleiben. Hör auf mit dem Scheiß und sag mir, was du willst, solange die Ampel noch auf Rot steht.«

»Ell, kannst du mich mit dem Auto mitnehmen? Animals Vater kann uns nicht zu unserem Auftritt fahren, und Dad arbeitet wieder – also, ich denke, dass er in Wirklichkeit zur Hunderennbahn geht, aber er sagt, dass er arbeitet –, egal, wir haben sogar Popeyes Mutter gefragt, doch die hatte eine Verabredung ...«

»Will, komm zur Sache.«

»Okay, okay. Kannst du mich vor dem Temple absetzen?«

»Wann?«

»Jetzt sofort.«

»Scheiße. Na gut, dieses eine Mal, nur du, nicht wahr?«

»Ja, nur ich und Animal und Popeye und drei Gitarren und drei Verstärker. Wir sitzen auf den Verstärkern, verstehst du?«

Er war weg, ehe ich noch antworten konnte. Ich war wirklich müde und hatte meinen Abend bereits verplant. Ein luxuriöses Bad mit irgendwelchen Badeölen, die ich zu Weihnachten bekommen hatte – vorausgesetzt, ich fand sie –, und dann Chinafutter vor dem Fernseher. Himmlisch, aber nun ein verschobener Himmel, als ich versuchte, dem Verkehr mit einer illegalen Kehrtwende mitten auf der Hauptstraße zur Hauptverkehrszeit zu entgehen. Es ist erstaunlich, was man sich alles leisten kann, wenn man einen rosafarbenen Wagen hat.

Ich überlegte, wie ich es verhindern konnte, bei meiner Mutter essen zu müssen, als ich in unsere Einfahrt einbog. Sie wartete an der Haustür.

»Ellen, woher hat du dieses rosafarbene Auto? Was sollen denn die Nachbarn denken?«, fragte meine Mutter und beugte sich vor, um zu sehen, ob irgendeiner dieser berühmten Nachbarn etwas zu meinem Auto zu sagen hatte. Oder zu Wills gepierctem Körper. Oder zu Dads Rauchen. Oder zu dem Minikleid, das ich mit sechzehn getragen hatte.

»Dein Bruder Gerry hat mir den Wagen gegeben, und die Nachbarn werden denken, dass ich einen rosafarbenen Hyundai fahre«, sagte ich, doch es kam ein wenig schärfer heraus, als ich vorgehabt hatte. Ein verletzter Ausdruck huschte über das Gesicht meiner Mutter, und ich fühlte mich schuldig. Sie marschierte in die Küche, und ich trödelte hinter ihr her.

»Wo ist Will, ist er fertig?«, fragte ich, als sie mit Töpfen und Pfannen auf dem Herd herumhantierte. Sie gab mir keine Antwort.

»Was kochst du denn? Es riecht wunderbar. Hast du genug davon, dass ich mir etwas mitnehmen kann, Mam? Ich kann wegen Wills Auftritt nicht bleiben, aber ich habe einen Bärenhunger«, log ich. Ich wusste, dass sie das glücklich machen würde.

»Es ist Hühnchen mit pikantem Thai-Reis. Ich habe das Rezept von diesem jungen Mann, dem Chefkoch im Fernsehen. Ich werde dir etwas davon in eine Blechdose geben, Ellen. Es ist wunderbar geworden, schau mal.«

Ich sah in die dampfenden Töpfe, und mein Magen drehte sich um, doch ich lächelte meine Mutter an und dankte ihr für die Wegzehrung. Dann machte ich mich auf die Suche nach Will. Ich fand ihn, seine Freunde und ein wildes Durcheinander an Band-Gerätschaften um mein Auto herumstehen. Alle trugen Jeans von der Weite eines Football-Spielfelds, und sie hatten den gleichen Haarschnitt – rasierte Köpfe.

»Jesus, Ellen«, sagte Will.

»Er ist rosa, was soll's?«, sagte ich, die Hand auf meiner Hüfte. Ich regte mich langsam über die unfaire Behandlung auf, die rosafarbenen Autos in diesem Land zuteil wurde.

»Nein, das ist es nicht. Es ist ein Hyundai, Ellen, was viel schlimmer ist«, sagte er zu dem Gelächter seiner Freunde.

»Dann habt ihr ja wohl beschlossen, zum Veranstaltungsort zu laufen. Das ist prima«, erwiderte ich und öffnete die Wagentür. Will lachte und öffnete den Kofferraum.

»Was soll mit der Katze geschehen, Ellen?«

Ach, verdammt, ich hatte die Porzellankatze aus dem Haus in Honan Terrace völlig vergessen. Mist, Mist, Mist. Die Shamrock-Lagerfirma hatte übers Wochenende geschlossen. Dort konnte sie nicht hin, also musste ich sie im Schuppen meiner Mutter zurücklassen. Das würde sie nicht stören, weil es im Schuppen mehr als genug Platz gab. Ganz zu schweigen davon, dass es dort ordentlicher als in meinem Apartment war, und wahrscheinlich auch geräumiger.

Ich ließ die Jungs am Tempel raus und ließ die Blechdose meiner Mutter in den Abfalleimer vor dem Chinesen in der Nähe meines Hauses fallen.

Freitagnacht verlief nicht so wie geplant und auch nicht das gesamte Wochenende. Das luxuriöse Schwelgen in der Badewanne wurde zugunsten des Einschlafens vor dem Fernseher und zu den Klängen von Jerry Springers Stimme verschoben. Der Samstag sollte zum Einkaufen und Putzen genutzt werden, doch als ich auf der Couch aufwachte, gab es einen großartigen Elvis-Film im Fernsehen, tja, und so rann mir der Tag einfach durch die Finger.

Sie wissen, wie so was geht. Man schaut sich einen Film an, macht sich eine Fertigmahlzeit warm, füttert die Katze und bringt den Müll raus, und plötzlich ist es Mitternacht. Den Sonntag verbrachte ich mit der Entscheidung, was ich an diesem Abend anziehen sollte, und um sechs Uhr herum war auf meinem Bett ein Durcheinander aus Kleidern, und ich saß mitten in der Unordnung im schwarzen Büstenhalter und Schlüpfer und verziert mit einem großen Pickel über meiner rechten Augenbraue.

Mir war nach einem bisschen Heulen zumute und danach, mit Joey zusammen fernzusehen. Aber ich machte noch einen letzten Versuch, um etwas Passendes zum Anziehen zu finden. Etwas, das zugleich sexy, herausfordernd und klasse war – eben das schwer zu definierende, perfekte Outfit.

Es endete schließlich bei dem alten zuverlässigen kleinen Schwarzen, das jede Frau besitzt, wobei klein das Wort ist, auf das es ankommt, wenn man ohne Schuhe einen Meter achtundsiebzig groß ist. Ich musterte mich im Spiegel des Kleiderschranks. Sexy sah ich nicht aus. Schlaksig – ja, aufgedonnert – vielleicht, aber ganz eindeutig nicht sexy. Ich war mit dem Make-up und meinen Haare fertig, als mir klar wurde, dass ich vergessen hatte, für Ruth ein Geburtstagsgeschenk zu besorgen.

Ich hatte ein ganzes Wochenende Gelegenheit gehabt, eine einzige Sache zu erledigen, und hatte sie komplett vergessen. Ich wedelte mit den Händen in der Luft herum, um den Nagellack schneller zu trocknen, und versuchte, Läden zu finden, die um fünf Uhr am Sonntagnachmittag noch geöffnet waren. Es gab einen Sparladen um die Ecke, doch ich glaubte nicht, dass sie Designer-Parfüm oder sexy Unterwäsche verkauften, zwei von Ruths kleinen Schwächen.

Dann hatte ich einen Geistesblitz, und auf dem Weg zu Ruth und India hielt ich bei einem Laden an und kaufte Ruth einen ganzen Karton chilenischen Sauvignon-Blanc-Wein, die Nummer drei auf Ruths Liste ihrer Schwächen. In Wirklichkeit wohl die Nummer vier, weil Sex sich eindeutig unter den obersten Plätzen befand. Doch so sehr ich Ruth auch mochte, würde ich davor zurückschrecken, ihr für die Nacht einen Kerl zu mieten.

Ich holte Ruth als Erste ab und würgte fast bei ihrem Anblick. Ruth war klein, aber sehr gut in der Busenabteilung ausgestattet, und sie strahlte den Sexappeal und den Charme aus, die normalerweise mit einer Figur wie ihrer einhergingen. Sie hatte sich heute Abend selbst übertroffen, obwohl sie eine hautenge schwarze Hose und ein bauchfreies Top mit Leopardendruck trug. Ihre gebräunte Körpermitte war nackt und zeigte ihren gepiercten Bauchnabel. Insgesamt sah Ruth aus wie die irische Ausgabe von Kylie Minogue, doch ihre Oberweite entsprach eher der Proportion von Dolly Parton.

Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte, und fuhr sich lässig mit einer Hand durch ihre zerzausten blonden Locken. »Nun, schließlich habe ich heute Geburtstag«, sagte sie und lächelte ihr Vampirlächeln.

Wir lachten beide. Sie stieg mit passenden hochhackigen Pumps im Leopardenlook in den Wagen, und ich deutete ungezwungen auf ihr Geschenk, das auf dem Rücksitz stand. »Du hast mir einen Wagen gekauft, einen rosafarbenen Wagen, das hättest du wirklich nicht tun sollen«, sagte sie, während sie den Sicherheitsgut anlegte. Ich warf ihr einen Blick zu, als ich den Motor anließ.

»Der Weinkarton, Dummchen, der Weinkarton ist dein Geschenk. He, wir sind spät dran. India wird Anfälle bekommen«, sagte ich, und wir brachen gemeinsam in unkontrolliertes Kichern aus. Die Partystimmung hatte uns erwischt.

Wir kamen zehn Minuten zu spät zu Tosca. India sprach kaum mit uns, schaute dauernd auf die Uhr und warf uns verachtende und mitleidige Blicke zu. Ruth und ich konnten einander nicht ansehen, denn wenn wir das gemacht hätten, hätten wir wieder zu kichern begonnen.

Der Ober, der extrem hochnäsig war, aber einen knackigen Hintern hatte, wie Ruth betonte, setzte uns schließlich an einen wunderbaren Tisch genau in der Mitte des Raums. Ich begann, den Abend zu genießen. Das Restaurant war sagenhaft. Ein umfriedeter Hof mit Säulen, Balkonen, Efeu, Lorbeerbäumen und einer Decke, die wie der Himmel gemalt war.

»Ich kann gar nicht glauben, dass es mir gelungen ist, hier eine Reservierung zu bekommen. Ist das nicht fantastisch?«, fragte India.

»Ja«, sagte ich, »es ist wunderbar.«

»Wunderbar«, sagte Ruth und drehte den Kopf zur Seite, um eine bessere Sicht auf den Hintern des Obers zu bekommen. Ruth pfiff leise.

»Lass das, Ruth«, sagte India.

Ich kicherte hinter meiner Speisekarte.

»Das hier ist meine Party – ich drücke meine Lust aus, wann ich das will«, sang Ruth und setzte sich auf ihrem Stuhl gerade hin. »Gib mir die Speisekarte.«

India verdrehte die Augen, und wir konzentrierten uns darauf, unsere großen und eleganten Speisekarten zu studieren.

»Ich habe den Verdacht, dass ich nicht mal die Hälfte von all dem hier erkennen kann«, sagte ich.

»Ich auch nicht«, sagte Ruth. »Ich frage mich, ob sie hier auch quadratischen Kabeljau mit Chips haben.«

India lachte und sagte: »Pfui, euch beide kann ich nirgendwohin mitnehmen. Ihr blamiert mich immer.«

Der Ober kam bald darauf, nahm unsere Bestellung entgegen und bedachte India mit einem abschätzenden Blick, ehe er ging. India trug ein einfaches grünes Seidenkleid, das die gleiche Farbe wie ihre Augen hatte, wie ich feststellte. Ihr schwarzes Haar war ein perfekter glatter Bob, der offenbar niemals auseinander fiel oder gar wuchs. Ich dachte lange Zeit, dass India ernst und kalt sei, bis ich sie lächeln sah. Wenn sie lächelte, begann ihr ganzes Gesicht zu strahlen. Das Lächeln veränderte Indias Gesicht von hübsch zu bildschön.

»Dein Kleid passt ja fantastisch zu deinen Augen«, sagte ich zu ihr.

Sie belohnte mich mit einem strahlenden Lächeln. »Ach danke, Ellen. Du siehst auch toll aus. Mir gefällt dein Haar so, wie du es trägst. Ist das nicht ein fransiger Bob?«

»Zottel. Es wird Zottel genannt. Wirklich India, du könntest auch selber einen Zottel haben«, sagte Ruth unschuldig. Wir lachten.

Der Ober kam mit der Weinkarte an den Tisch. Da ich fuhr, bestellte ich mir Sprudelwasser. Dann wurden unsere Vorspeisen serviert – sie waren köstlich –, und wir hatten viel Spaß, bis India Andrew erwähnte. An diesem Punkt ging es mit dieser Nacht bergab. Weit, weit bergab, buchstäblich bis zum Boden. Wenn ich gewusst hätte, wie weit hinunter es in der restlichen Nacht gehen würde, während wir glücklich unsere frittierten Vorspeisen aßen, wäre ich in dieser Minute nach Hause gegangen. Doch das tat ich nicht.

»Also, Ellen, was ist denn nun mit Andrew Kenny? Ich habe gehört, dass er bei dir war, als du den armen toten Mann gefunden hast«, sagte India, als wir unseren ersten Gang beendet hatten. Ich erstickte fast an einem Stück frittiertem Käse. »Er ist der neue Gebietsmanager in meinem Büro und hat im vergangenen Monat angefangen. Er hat mich zu diesem Haus gefahren, weil mein Wagen den Geist aufgegeben hatte«, sagte ich und versuchte, mein Gesicht zu wahren. India konnte einen dazu bringen, alles zu gestehen.

»Warum ist er überhaupt aus London zurückgekehrt? Ich dachte, er hätte dort einen tollen Job«, sagte India, während sie sich Wein nachschenkte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Es muss doch einen Grund geben.« Sie sah mich mit ihrem Kreuzverhör-Blick an. »Zurückzukommen und bei Gladstone und Richards zu arbeiten?«

»Was Andrew Kenny tut, hat nichts mit mir zu tun. Das ist Jahre her und aus und vorbei. Himmel, du würdest schwören, dass ich dahingeschmolzen bin, nur weil der große Andrew Kenny hierher zurückgekehrt ist. Unsinn!«, sagte ich und hielt Indias Blick mit meinem fest. Der Pickel über meiner Augenbraue hatte angefangen zu schmerzen.

»Er hat ein wunderschönes Haus in der Ennis Road gekauft, eines dieser dreistöckigen, rot geklinkerten Häuser. Wir beraten ihn in seinen Rechtsgeschäften«, sagte India und durchforschte mein Gesicht auf eine Reaktion.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist seine Angelegenheit, nicht meine.«

»Er scheint bleiben und ... sich richtig häuslich niederlassen zu wollen ...«

»Was immer er auch vorhat, Geld scheint er wie Heu zu haben«, unterbrach Ruth.

Ich verdrehte die Augen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was dieser Mann vorhat oder wie seine Vermögenslage aussieht. Wir haben kaum miteinander gesprochen, seit er zurückgekommen ist, und außerdem bin ich wahrscheinlich der letzte Mensch in diesem Universum, der wüsste, was er macht oder plant.«

Ich wich Indias kühlem Blick aus und schob das Essen auf meinem Teller herum.

»Ich weiß das, Ellen, aber ist es nur ein Zufall, dass er schließlich den Job des Gebietsmanagers in deiner Firma ergattert hat, und außerdem ... das ist ja wohl das Allerletzte, dass ihr beide zufälligerweise zusammen einen Toten findet!«, sagte India, verschränkte die Finger ineinander und stützte ihr Kinn darauf. Ich begann, verlegen zu werden, obwohl es keinen Grund gab, verlegen zu sein.

»He, es ist nicht Ellens Fehler, dass ihr Exfreund in die Stadt zurückgekehrt ist, India«, sagte Ruth. »Also, ich weiß nichts über euch beide, doch ich würde ihn sofort vögeln, weil er einfach toll ist. Er hat die schärfsten Lippen der Welt. Ellen, du hättest ihn schon wegen dieser Lippen heiraten sollen. Himmel, ich würde völlig glücklich sein, wenn ich mit diesen Lippen leben könnte, und er müsste nicht einmal sprechen.« Ruths Augen tanzten vor Vergnügen, und India und ich lachten, weil wir froh waren, dass sie die Spannung gelockert hatte.

India ließ das Thema Andrew fallen, allerdings nur, bis unsere Hauptgänge serviert wurden.

»Ach, wenn man vom Teufel spricht«, sagte sie, als der Ober einen Teller mit dampfenden Nudeln vor sie hinstellte. »Was? Wo? Hoffentlich jemand Berühmtes«, sagte Ruth, das Weinglas in der Hand.

Ich sah mich um, und zum zweiten Mal an diesem Abend blieb mir die Luft weg, als ich Andrew nur zwei Tische weiter mit einer Frau zusammensitzen sah.

»Siehst du, India, ich habe es dir doch gesagt, von mir ist nichts zu befürchten«, sagte ich und stach in mein Pfeffersteak. Es blieb mir fast im Hals stecken.

»Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Andrew Kenny! Diese verdammt tollen Lippen! Ich dachte, dass es Monate dauert, um im Tosca einen Tisch reservieren zu können«, sagte Ruth. »Hast du nicht gesagt, dass er erst vor ein paar Wochen in die Stadt zurückgekommen ist?«

Ich nahm die Weinflasche aus dem Kühler und füllte mein Wasserglas bis obenhin. Dann trank ich es in einem Zug aus, in dem Versuch, den Fleischklumpen hinunterzuspülen, der mich zu ersticken drohte.

»Wie heißt sie noch gleich«, sagte India, »es fällt mir sofort wieder ein. Sie passt zu Andrew bis hin zu seinen perfekt manikürten Fingernägeln. Ich wette, dass sie für die Reservierung gesorgt hat. Davina, ja, so heißt sie, Davina Blake.«

Ich ließ den Namen durch meinen Kopf rollen, um zu sehen, ob er sich irgendwo festsetzen würde. Doch das tat er nicht. Ich wollte India eigentlich nicht fragen, wer sie war, doch ich konnte mich nicht zurückhalten.

»Wer ist sie, irgendein Supermodel?« Ich spielte mit meinem Essen herum und starrte ununterbrochen auf meinen Teller. »Du solltest sie kennen, Ellen. Sie ist gerade bei Lee Properties zur Gebietsleiterin ernannt worden. Sie sind Klienten unserer Anwaltskanzlei«, sagte India.

Ich schluckte den Rest meines Weines hinunter und füllte mein Glas noch mal nach.

»Dieses Steak ist köstlich«, sagte ich, auch wenn ich überhaupt nichts schmeckte. Ich konnte es nicht glauben, dass der Anblick von Andrew mit einer anderen Frau meinen Appetit so in Mitleidenschaft zog. Bisher hatten sich nur die Kochkünste meiner Mutter derart auf meinen Appetit ausgewirkt.

»Sie ist wirklich ein nettes Mädchen und ganz toll in ihrem Job. Was, in Gottes Namen, macht sie mit diesem arroganten und egozentrischen Mann? Moment mal, er hat uns gerade entdeckt – er winkt«, sagte India und winkte zurück, doch sie sah dabei aus, als hätte sie gern den Teller durch den Raum geschleudert. Ich schaute nicht hoch, sondern leerte mein Glas und wollte es noch einmal füllen.

»Ich dachte, du trinkst Mineralwasser«, sagte Ruth.

Ich lächelte. »Ich kann doch nicht deinen Geburtstag mit einem Glas Blubberwasser feiern, oder, Ruth?«

»Das ist mein Partytier«, sagte Ruth.

»Und was ist mit dem Wagen?« Indias Augenbrauen gingen in die Höhe.

»Wir können ein Taxi nehmen. Sei nicht so eine Trockenpflaume, India Madeline Burk!«, schimpfte Ruth und machte dem Ober ein Zeichen, uns noch mehr Wein zu bringen. »Okay, okay, ich gebe mich geschlagen. Gib mir die Weinflasche rüber«, sagte India lachend.

Wir haben mindestens vier Flaschen Wein getrunken, und es ging uns wirklich gut, bis Andrew und seine Goldmarie am Ende unseres Tisches auftauchten.

Ich warf ihm ein »Was-für-eine-tolle-Zeit-ich-doch-habe«-Lächeln zu.

»Hallo, meine Damen«, sagte er und lächelte uns alle drei an.

»Andrew«, sagte India in ihrer besten Anwaltsstimme.

»Wie geht's, Andy?«, fragte Ruth und blinzelte ihm zu.

»Ruth, India, Ellen ... Davina Blake«, verkündete er und deutete nacheinander auf jede von uns.

»Hallo«, sagte die Goldmarie. Ich konnte ihr wirklich teures Parfüm riechen, und als ich zu ihr aufschaute, sah ich einen großen, eleganten Engel, der unwirklich aussah mit den perfekten zarten Gesichtszügen und einem langen statuenhaften Körper.

Wir alle nickten grüßend, und ich leerte noch ein volles Glas Wein. Ruth sah mich überrascht an, doch das merkte niemand, weil Andrew und India sich auf die Art anstarrten, wie man es aus Cowboy-Filmen vor dem Schusswechsel kennt. Ich beschloss, die Situation zu retten.

»Andrew«, sagte ich undeutlich und sprühte Speichel. Himmel, der Wein war stärker, als ich gedacht hatte. Er grinste.

»Na, dir geht es ja richtig gut, Ellen«, sagte er, noch immer anzüglich grinsend.

Ich hatte einen Schluckauf.

Ruth lachte.

»Wir gehen jetzt«, erklärte er und nahm seine Goldmarie am Arm. »Genießt den restlichen Abend.«

»Nett, euch kennen gelernt zu haben«, sagte Davina Blake und lächelte uns mit ihrem brillanten Colgate-Lächeln an, ehe sie sich zum Gehen wandten.

»Arroganter Mistkerl«, sagte India.

»Tollen Körper hat der Mann«, meinte Ruth.

Ich sagte gar nichts, aber ich hatte einen Schluckauf und leerte noch ein weiteres Glas Wein, um den Schluckauf loszuwerden. Zumindest war das meine Entschuldigung.

»Jede Menge Schokolade. Schokoladenkuchen«, murmelte ich. »He, Ober, Ober, hierher.«

Er kam herüber und nahm unsere Nachtisch-Bestellung auf, und ich zwickte ihn in den Hintern. Ich wusste gar nicht, was über mich kam, aber sein Hintern war mir zugedreht, nett und fest und ich streckte einfach die Hand aus und zwickte ihn. Ruth und ich bekamen einen heftigen Kicheranfall.

»Schscht, alle schauen schon zu uns herüber. Um Gottes willen, benehmt euch«, sagte India durch zusammengepresste Zähne.

»Ist großartig, kalt geworden, es ist schön«, sagte ich, doch meine Stimme war undeutlich geworden.

In meinem Kopf drehte sich alles, als wir aufstanden, um unsere Mäntel zu holen und die Rechnung zu bezahlen. Mein Körper befand sich überall im Restaurant, doch mein Geist schien kristallklar zu sein. India hielt meinen Arm fest, als wir das Restaurant verließen. Ich steuerte auf meinen Wagen zu, doch Ruth und India packten meine Arme, und irgendwie landete ich schließlich in einem Taxi. Und dann war ich irgendwie allein in meinem Apartment und hatte einen schreienden Joey vor mir. Und dann kniete ich auf dem Badezimmerboden und übergab mich in die Toilette und heulte völlig grundlos. Und dann kam eine süße Ohnmacht.