Kapitel 23

Ich starrte auf meinen Teller. Mein Magen schlug einen Purzelbaum, als der Geruch des Essens mir in die Nase stieg. Ich atmete tief ein und griff nach Messer und Gabel.

»Coq au Vin mit Kartoffelgratin«, erklärte meine Mutter, während sie eine dicke Soße auf den Kartoffeln verteilte. »Weil ich keinen Wein hatte, habe ich Sherry genommen, aber das ist doch sowieso das Gleiche, oder? Und das Huhn kommt aus einem Freilaufgehege. Ich glaube, dass man den Unterschied schmecken kann.« Sie bedeckte eine zweite Platte mit Essen mit Stanniolpapier. Ich kostete das Huhn. Es mochte ja vielleicht in einem anderen Leben freien Auslauf gehabt haben, doch nun war es ein ausgetrocknetes Stück Leder in einer Übelkeit erregend süßen, widerlichen Sherrysoße. Ich spielte mit meinen Kartoffeln herum und hatte Angst, sie zu probieren.

»Wo ist Will?«, fragte ich.

»Dein Vater ist mit Will zum Kentucky Fried Chicken gefahren. Sie wollten ein wenig Zeit miteinander verbringen.« Sie wollten dem Huhn in Sherry entkommen, dachte ich.

»Weißt du, wen ich heute getroffen habe?«

»Wen?«, fragte ich, während ich das Essen auf meinem Teller herumschob. Ich beschloss, Mam zu Weihnachten einen Hundewelpen zu kaufen. Einen robusten Hund, der alles fraß.

»Diesen entzückenden Jungen, Anthony Jordan. Den Jungen, den ich im Krankenhaus kennen gelernt habe.«

Mein Herz hüpfte ein wenig bei der Nennung seines Namens. Und dann stürzte es bei dem Gedanken ab, dass er eine Zeit lang mit meiner Mutter allein gewesen war.

»Also, ich habe ihn gefragt, ob er gern zu Angelas Party kommen würde, und er hat zugesagt!«

Ich stöhnte innerlich auf bei dem Gedanken, dass Tony all meine verrückten Verwandten kennen lernen würde. Und Alison, Gott, Alison – wer sonst würde ihn in die Zange nehmen in einer tief greifenden Befragung, die auch vor seinem finanziellen Status nicht Halt machen würde.

»Er kommt in einer Weile herüber, um etwas zu essen. Er war heute sehr beschäftigt mit dem Kauf einer Couch. Er suchte nach grünem Samt, wie er mir erzählt hat. Ich bot ihm an, mit ihm zusammen ein paar Couchen anzuschauen, doch er sagte nein, er wisse ganz genau, was er wollte. Das ist ein gutes Zeichen, Ellen, wenn ein Mann sich für Möbel interessiert ...« Sie schnatterte weiter, doch ich hatte die wichtige Information schon herausgepickt und versuchte, diese zusammen mit dem Huhn in Sherry zu verdauen.

»Er kommt hierher? Jetzt? Heute Abend?«, krächzte ich, während ich wie wild versuchte, mir einen Fluchtplan auszudenken. Es klingelte an der Tür.

»Das ist er, würde ich sagen.« Sie rannte zur Tür und drückte vor dem Dielenspiegel ihr Haar zurecht. Ich saß wie zu einer Statue erstarrt da, und meine Gabel schwebte auf halber Strecke zu meinem Mund in der Luft. Tony betrat unsere kleine Küche und füllte den Raum mit seiner Anwesenheit. Er war leger gekleidet in Jeans und einem T-Shirt, doch er sah aus wie ein Mann, der versucht, einfach zu wirken. Ein schneller Blitz von Verlangen raste durch meinen Körper, doch der Anblick meiner Mutter in ihrer gestreiften Schürze, die direkt hinter Tony stand, machte es bald zunichte. Es würde ein qualvoller Abend werden.

»Ellen«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Meine Mutter kicherte wie ein Schulmädchen, als sie das Essen vor ihn hinstellte.

»Hi, Tony«, sagte ich und beobachtete sein Gesicht, als er zu essen begann. Ich hoffte, dass er ein guter Schauspieler war. Wills Freund Animal war einmal zum Abendessen geblieben und war schreiend in der Küche umhergerannt, nachdem er eine Gabel voll Lasagne probiert hatte.

»Überrascht, mich zu sehen?«, fragte er, als er sich seine Kartoffel schmecken ließ. »Die sind richtig gut, Mrs. Grace.« Meine Mutter verfiel wieder in ihr Schulmädchen-Kichern. Ich beobachtete sein Gesicht, als er sich durch das Essen pflügte. Will und Dad kamen heim. Mam machte Tony mit ihnen bekannt, und Will, Dad und ich starrten ungläubig auf Tony, der jedes einzelne Häppchen auf seinem Teller aß.

»Das war großartig. Ich habe noch trainiert, ehe ich das Fitnesscenter verließ, und war richtig hungrig«, sagte er. Wir starrten ihn mit offenen Mündern an.

»Möchten Sie noch einen Nachschlag, Anthony? Es ist noch genügend da.«

»Ich hätte gern noch etwas, Mrs. Grace, wenn Sie es entbehren können. Ich möchte Ihnen aber nicht das ganze Essen wegessen«, erwiderte er lachend und deutete mit der Gabel auf uns. Wir hatten noch immer kein Wort miteinander gewechselt. Mein Vater und Will tauschten erleichterte Blicke aus. Huhn in Sherry würde morgen nicht als etwas anderes verkleidet wieder auf den Tisch kommen. Meine Mutter sah aus wie eine Katze, die Sahne geschleckt hatte.

»Ich habe einen Rhabarberkuchen gebacken, Anthony. Ich werde Ihnen etwas davon holen«, sagte sie und machte sich auf die Suche nach dem Kuchen. Bei der Erwähnung von Rhabarberkuchen verließen Dad und Will fluchtartig die Küche. Ich sah Tony zu, wie er seinen zweiten Teller voll Essen leerte. Er lächelte mir zu und zog die Augenbrauen hoch, als er meinen schockierten Gesichtsausdruck sah. Entweder war er ein großer Lügner, oder er war anständiges Essen nicht gewöhnt. Meine Mutter allerdings war im Himmel. Wir baten niemals um einen Nachschlag, und jetzt war Tony hier und stimmte bereitwillig dem Nachtisch zu. Sie stellte den Kuchen vor Tony ab, der grinste und einen Bissen davon nahm. Dann klingelte das Telefon in der Diele, und sie rannte davon, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Tony, wie hast du das gemacht?«, fragte ich leise.

»Was?«, fragte er. Er beugte sich zu mir herüber und küsste mich auf den Mund. Ich konnte den Rhabarber schmecken und verzog das Gesicht.

»Der Kuss war doch nicht so schlecht, oder?«, fragte er lachend.

»Wie konntest du all dieses Essen essen?«, fragte ich.

Er lächelte wieder und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab.

»Sieh doch nur, wie glücklich deine Mutter ist«, sagte er.

»Aber wie konntest du so tun, als würde es dir schmecken?«

»Das war nicht die härteste Sache der Welt, Ellen. Ich habe es schon mit viel härterem Kram als diesem hier zu tun gehabt«, erwiderte er. Er lächelte, doch ich hörte an seiner Stimme, dass es ihm ernst war.

»Kann ich mir dein Schlafzimmer anschauen?«, fragte er.

»Stopp! Meine Mutter hört dich sonst noch!«

»Deine Mutter liebt mich.«

»Aber nicht so sehr.«

»Doch, so sehr. Sie liebt mich so sehr, dass sie mir den Umgang mit ihrer Tochter gestattet. Ich werde sie um Erlaubnis bitten, wenn du das möchtest ...«

Ich konnte hören, dass sich meine Mutter am Telefon verabschiedete.

»Wage es ja nicht, Tony!«

Er rieb sein Bein unter dem Tisch an meinem, als plötzlich sein Handy klingelte.

»Hi. Ja. Bist du sicher? Ich bin gleich da.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das Übliche, Ellen. Ich werde dringend gebraucht und muss gehen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt Angestellte habe.«

»Ich bringe dich zum Auto«, sagte ich, und meine Mutter nickte anerkennend, als ich ihn aus der Küche hinausbegleitete.

Draußen war die Nacht wundervoll still und sommerlich. Der Himmel war mit Sternen übersät, und einen kurzen Moment lang fühlte ich mich nach Spanien zurückversetzt. Und zu Andrew. Ich beobachtete, wie Tony die Tür seines Jeeps öffnete.

»He, warum bist du so ernst?«, fragte er und klopfte dann auf den Beifahrersitz neben sich. »Setz dich eine Minute lang in den Jeep, damit ich mich ordentlich von dir verabschieden kann

Ich lächelte und kletterte neben ihn in den Jeep, wobei ich wusste, dass Tony und ich in einem so kleinen Raum keine gute Idee war.

»Du siehst wunderschön aus, Ellen. Ich glaube, ich verliebe mich in dich«, sagte er und streichelte mein Gesicht ganz leicht mit der Hand.

»Ich wette, dass du das zu all deinen Frauen sagst.« Ich streichelte nun sein Gesicht und fuhr ihm mit den Händen durch sein Haar.

»Nein, das stimmt nicht.« Er küsste mich.

Ich glaubte ihm die Sache mit dem Verlieben. Doch warum hörte ich keine Blaskapelle spielen wie in Spanien? Sein Handy klingelte wieder, gerade, als unser Kuss außer Kontrolle zu geraten drohte.

»Tut mir Leid«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Das ist in Ordnung. Ich wollte den Nachbarn ohnehin keine kostenlose Vorstellung geben.«

Tony lachte und ließ den Motor an. Ich küsste ihn auf die Wange, kletterte aus dem Jeep und schaute ihm nach, als der davonfuhr. Ich konnte Jasmin oder nachts duftende Levkojen im kleinen Garten meines Vaters riechen. Noch einmal brachte mich das nach Spanien zurück und zurück zu der Villa. Zurück zu Andrew. Ein Schmerz zerriss mein Herz, und ich blinzelte die Tränen zurück.

Warum war ich überhaupt nach Spanien gefahren? Ich hätte Tim Gladstone sagen sollen, dass ich nicht abkömmlich wäre, dass ich keinen Pass besäße, dass ich gesperrt wäre und jede andere kleine Lüge, die mich entschuldigt hätte. Wenn ich nicht gefahren wäre, wäre jetzt mit Andrew alles in Ordnung. Oder nicht? Das war die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage, entschied ich, als ich zurück ins Haus meiner Mutter ging.

In der restlichen Nacht schrieb ich mit meiner Mutter endlose Listen. Lebensmittellisten, Gästelisten. Überarbeitete Gästelisten. Alkohollisten – die Einzige der Listen, bei der Will sich genötigt fühlte, einen Kommentar abzugeben. Ich brach spät auf, und als ich den Motor anließ, kam Will aus dem Haus gestürmt.

»Ellen, Ell, warte!«, schrie er, doch ich fuhr trotzdem vom Randstein weg, und Will jagte wie verrückt hinter mir her. »Sehr witzig«, sagte er, als ich anhielt und das Fenster herunterkurbelte.

»Was willst du, Will?«, fragte ich. Ich war müde und brauchte sofort meinen Schlaf.

»Wir werden das wichtigste Konzert unseres Lebens geben – ich meine, wirklich wichtig, Ell ...«

»Mach schon, Will, wann ist es?«

Ich hoffte, dass es nicht morgen Abend war, doch ich wusste, dass es so sein würde. Ganz nach Murphys Gesetz.

»Morgen Abend. Wir haben eine Menge Leute, die uns hinfahren, doch wir brauchen dich, um die Sachen anschließend abzuholen. Animals Vater verreist am Wochenende, und Wedgies Mutter geht zum Tai-Chi. Also könntest du es machen?« Er schenkte mir sein bestes Jüngerer-Bruder-Lächeln.

»Wo ist das Konzert?«

»Du wirst es nicht glauben, Ellen. Es ist im Depot, stell dir das bloß vor! Warum kommst du nicht hin? Da werden auch ältere Leute sein ...«

»He, pass auf, was du sagst, wenn du möchtest, dass ich deinen Kram abhole!«

»Nein, ich möchte gern, dass du dir unser Konzert anhörst, es wird eine tolle Veranstaltung werden, Ell. Dort soll ein Typ von A&R auftauchen. Das könnte unser ganz großer Durchbruch werden, verstehst du?«

»Ich werde irgendwann zwischendurch kommen. Wann ist das Konzert zu Ende?«

»Gegen elf.«

»Das ist großartig«, stimmte ich zu. »Bis morgen.« Als ich losfuhr, bemerkte ich einen schwarzen Jeep, der sich hinter mich setzte, und anfangs dachte ich, dass es Tony war. Doch es war nicht sein Jeep. Er blieb mir auf der gesamten Heimfahrt auf den Fersen, und ich begann, nervös zu werden, als ich parkte. Ich hatte beschlossen, dass ich meinen Wagen nicht verlassen würde, solange der Jeep in der Gegend war. Als ich in meinen Rückspiegel schaute, konnte ich erkennen, dass er langsam durch meine Straße weiterfuhr. Ich verschloss meinen Wagen und eilte in mein Apartment. Ich war entsetzt darüber, dass ich so paranoid war.