Das Bild des Jahre 1913: Diese Lokomotive hängt am 25. Juli über der Ems und über dem Abgrund.

Helena Rubinstein, größte Kosmetik-Unternehmerin des Jahres 1913, geboren 1870 im polnischen Krakau (und nicht mit Artur Rubinstein verwandt oder verschwägert), hatte mit ihren aus Polen importierten Cremes aus Kräutern, Mandelöl und Rinderfett erst die Frauen in Australien, dann in Amerika und nun, also 1913, sogar in Paris und London davon überzeugt, dass man wirklich feine Gesichtshaut nur in ihren Schönheitssalons erlangen könne – und nur mit Tinkturen by Helena Rubinstein.

Gemeinsam mit seiner Frau Mama ist der fünfzehnjährige Bertolt Brecht Anfang Juli nach Bad Steben in Oberfranken zur Kur gereist, der junge Mann leidet unter Herzschmerzen. Erst später merkt er, dass das bei einem Lyriker dazugehört. In Bad Steben notiert er noch wie ein junger Rilke minutiös alle Veränderungen des Blutdrucks und der Nervosität beflissen und ängstlich in sein Tagebuch. Noch kann ihn

Genau wie bei Rilke. Der berichtet stolz aus Bad Rippoldsau, dass er »Tag und Nacht den Bart wachsen lassen kann«. Das ist aber nicht seine Hauptbeschäftigung. Die bleibt das Singen von Klageliedern. In den ersten Julitagen beschenkt er seine gesamte weibliche Jüngerschar mit Schilderungen seiner schwierigen Lage, seiner Müdigkeit, seiner Erschöpfung: Jeden Nachmittag, um 17 Uhr, wenn die Kurkapelle von Kapellmeister Lotz endlich verstummt ist und er sich wieder aus dem Haus traut, trägt er von der schmucken Villa Sommerberg einen kleinen Stapel Briefe zur Post – an die Baronin Sidonie Nádherný, an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis im Schloss Duino, an Katharina Kippenberg in Leipzig, an Eva Cassirer, an die Contessa Agapia Valmarana in Venedig, an Lou Andreas-Salomé, an Helene von Nostitz, an alle seine Mäzenatinnen, Seelenfreundinnen, Musen. Wenn er sich der täglichen Berichtspflicht an die fernen Damen entledigt und seine trübsinnigen Gesundheitsbulletins versandt hatte, dann widmet sich Rilke aber, plötzlich genesen und quicklebendig,

Es erscheint Max Schelers Buch mit dem hübschen Titel »Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass«. Darin schreibt er: »Die Liebe lässt den Wert des geliebten Menschen, seinen Personenkern, aufblitzen. Die Liebe ist der sehend machende Akt. Je mehr man liebt, umso wertvoller wird die Welt.« Ist das nicht schön?

Am 8. Juli schreibt Max Reger aus Meiningen, bevor er zu einer Konzertreise aufbricht: »Ferner bitte ich Sie betreffend meiner Person so drucken zu lassen: Unter Leitung von Generalmusikdirektor Dr.Max Reger (Ich muß den Generalmusikdirektor führen).« Vor allem aber musste jedes Konzerthaus ihm einen Flügel von Ibach auf die Bühne stellen. Nur darauf

Madame Matisse muss weinen. Sie kommt in das Atelier ihres Mannes und sieht, wie er das hübsche Porträt von ihr vollkommen übermalt hat, statt ihrer feinen Züge trägt sie nur noch eine graue Maske, ihre Augen, ihr Mund sind nur noch schwarze Linien. Abstraktion ist hart, vor allem für die, die abstrahiert werden. Madame Matisse weint bitterlich, als sie das fertige Bild sieht. Picasso staunt hingegen ritterlich, als er das Bild sieht, und ist ganz hingerissen von dem »Bildnis Madame Matisse«. Darauf startet er sein eigenes Frauenbildnis. »Sitzende Frau im Hemd in einem Sessel« nennt er es. Doch man sieht nichts von Eva. Man sieht nur ihre Geschlechtsteile. Evas spitz zulaufende Brüste, die an Stammesplastiken erinnern, verdoppelt er. Und so weinte dann auch Eva. Auch sie war auf den Studien anfangs noch zu sehen gewesen, doch nun quasi verschwunden. Es ist keine Freude, Frau eines kubistischen Malers zu sein.

1913 ist eben doch der Sommer des Jahrhunderts. Am 10. Juli wird im Death Valley in Kalifornien der höchste

Am frühen Samstagabend des 12. Juli, die Kühe sind gerade gemolken, doch die Sonne versteckt sich weiter hinter einer weißen milchigen Wolkenwand, fällt auf dem Hof Wellie in Mawicke bei Soest in Westfalen ein dumpfer Schuss. Als die Sanitäter kommen und die Polizei, liegt im ersten Stock des Bauernhofes Landwirt Theo Wellie inmitten einer Blutlache. Unten in der Stube die verstörte Frau. Theo Wellie stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Der »Soester Anzeiger« berichtet am 16. Juli: »Wie W. die Schußverletzung erhalten hat, darüber schweben noch die Ermittlungen. Ärztlicherseits soll festgestellt sein, dass ein Selbstmord ausgeschlossen ist.« Und das konnte offenbar schnell ausgeschlossen werden, denn am 18. Juli vermeldet die Zeitung: »Die Ehefrau des am vorigen Sonnabend auf seinen Hofe angeschossenen und der Verletzung erlegenen Landwirts Wellie in Mawicke ist gestern auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft verhaftet worden.« Die neunundzwanzigjährige Therese Wellie kam in Untersuchungshaft. Ihr Anwalt stellte Antrag auf Haftentlassung, doch leider war inzwischen bekannt geworden, dass gegen sie bereits mehrere Verfahren wegen gezielter Schüsse auf vorbeifahrende Motorradfahrer eingeleitet worden waren. So musste sie ein halbes Jahr im Gefängnis bleiben. Aber sie war dort nicht ganz allein. Am 28. Dezember kann

Es geht eigentlich immer nur ums Atmen. Das sagt nicht der Erfinder der Achtsamkeit, sondern der Erfinder des Lügendetektors, Vittorio Benussi. Benussi war ein zerrissenes Genie, Wissenschaftler und Künstler, hochsensibel und ein Tüftler zugleich, der mit immer neuen Maschinen der Seele auf den Grund

Fast hätten sich in diesen ersten Julitagen zwei der bedeutendsten Schriftsteller englischer Sprache, Joseph Conrad und der Amerikaner Henry James, in der Nähe von London getroffen. Conrad, der die Traumata seiner Jahre im Dschungel mit schönen Autos zu kompensieren versuchte, hatte sich gerade einen neuen Cadillac gekauft. Ende Juni schreibt Henry James an Conrad, der nur wenige Meilen entfernt in seinem Landhaus lebte, er habe von dem neuen Auto gehört, dem »not life-saving but literally life-making miraculous car«. Ob er wohl an einem schönen

Am 13. Juli muss Albert Einstein sich entscheiden. Am Bahnhof in Zürich empfängt er in Sonntagskleidung Max Planck und Walther Nernst, die aus Berlin mit dem Zug gekommen sind, um ihn nach Deutschland zu locken. Sie bieten ihm einen Professorentitel ohne Lehrverpflichtung an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Und Einstein atmet tief ein und sagt ja – in einem Nachhall der Wahrheit und der Lüge. Denn er sagte nicht nur ja, weil er dort frei von allen Pflichten an der Relativitätstheorie feilen und die Quantenphysik vorantreiben kann. Sondern weil in Berlin auch seine Cousine und Geliebte Elsa Löwenthal lebt.

Am 13. Juli beginnt in der Schweiz ein zweiter Höhenflug. Um 4 Uhr und 7 Minuten am frühen Morgen, die Sonne geht gerade auf, steigt Oskar Bider in Bern in

Am 13. Juli will Arthur Schnitzler in der Mittagspause eine junge Dame besuchen, die er ein paar Tage zuvor in einem Kaffeehaus kennengelernt hat. Sie hatte so ein schelmisches Lächeln. Er klingelt. Niemand macht auf. Er nimmt seine Visitenkarte und zückt einen Stift, um einen kurzen Gruß zu verfassen. »Dr. Arthur Schnitzler«, so darf die Dame dann abends lesen, als sie nach Hause kommt, »hat einige Male vergeblich geklingelt und wird sich erlauben den heutigen Besuch bei nächster Gelegenheit zu wiederholen.«

Alfred Wegeners Grönlanddurchquerung entwickelt sich zu einer unendlichen Geschichte, noch weiß niemand, ob sie bedeutend wird oder katastrophal. Der Expedition bläst der Eiswind ins Gesicht, alle sind vollkommen erschöpft, sie schaffen nur noch wenige

Als Truffaut später den Roman, den Roché über Franz und Helen und sich selbst geschrieben hat, verfilmen wird und ihn »Jules et Jim« nennt, da lässt er das mit der Schwiegermutter lieber weg und konzentriert sich auf den Sprung in die Seine. Und natürlich darauf, dass Roché, der, alleingelassen in Paris, in diesen Sommertagen seine Autobiographie unter dem schönen Titel »Don Juan« beginnt, sich natürlich nicht ewig an sein Gelübde halten wird, die wilde Helen unberührt zu lassen. Aber Franz wird ihm das dann auch nicht wirklich übelnehmen. Sie hatten zu oft ihre Lieben geteilt. Zuerst war Franziska von Reventlow, die schöne Gräfin inmitten der Münchner Bohème, von Franz auf Roché übergegangen, dann in Paris die Malerin Marie Laurencin von Roché auf Franz, ehe sie zum Dichter Apollinaire weiterzog. Später, in New York, wird Roché dieses Prinzip der Menage à trois mit einem anderen Freund weiterspinnen, mit Marcel Duchamp. Wie passend also, dass Helen Hessel dann Duchamps Schachbuch ins

Piet Mondrian malt in Paris in diesem Juli seine beiden bedeutenden »Gemälde 1« und »Gemälde 2«. Eine neue Zeitrechnung beginnt für ihn: Die Abstraktion. Die Bäume, die er noch im Winter gemalt hatte, lösten sich in kubistisch verschachtelte Formationen auf. Mondrian war ganz bei sich angekommen.

Für die Zeitschrift »Teosofia« schreibt er einen Artikel über »Art and Theosophy«, in dem er klar darlegte, dass die Evolution in der Kunst genauso vor sich gehe wie in der Theosophie. Leider hat die Redaktion den Text als »zu revolutionär« abgelehnt, und er ist verschollen.

In Berlin gibt es im Sommer 1913 zwei Millionen Einwohner, 7900 Personenkraftwagen, 3300 Pferdedroschken und 1200 Kraftdroschken. Aber nur einen Kaiser.

Robert Frost denkt am 17. Juli in Beaconsfield bei London darüber nach, welchen Weg er einschlagen soll und welchen nicht. Er ist jetzt 39 Jahre alt. Er ist aus Amerika übergesiedelt, mit Frau und vier kleinen Kindern, er lernt Ezra Pound kennen, doch der macht ihm

Ultima hieß die Frau des schwedischen Arztes Axel Munthe, die Letzte, auch wenn sie eigentlich die erste Frau dieses Mannes war. Und Ultima liebte den Regen. Denn wenn es regnete und das Wasser in Strömen sich durch die Straßen ergoss, dann war es auch den edlen Damen auf den Pariser Boulevards erlaubt, ihren Rock zu lüpfen. Ultima liebte es, ihre Fesseln zu zeigen, auch wenn durch das Gehen im Wasser immer wieder ihre schönsten Schuhe ruiniert wurden. Doch Ultima hieß auch irgendwie zu Recht die Letzte, denn es war Axel Munthes letzter Versuch, sich der bürgerlichen Konvention zu ergeben. In Wahrheit wurde diese Ehe nie vollzogen – es war, wie er schrieb, »nur der Schein einer ehelichen Gemeinschaft, der sich meine ganze Natur unwiderruflich widersetzt, was nebenbei bemerkt, bedeutet, dass die Natur keuscher ist als das Gesetz«. Munthe zog von Paris weiter nach Capri, das er nie wieder verließ. Immer blies hier ein leichter Wind, selbst im Juli, der ihm die strohblonden Haare ins Gesicht fallen ließ, die er, mit einer hunderttausendfach wiederholten Geste, hinter seine Ohren

Nie waren Oskar Kokoschka und Alma Mahler so glücklich wie im April in Capri. Sie hatten keine Konsultation bei Dr. Axel Munthe nötig. Und jetzt, am 19. Juli, wollen sie eigentlich heiraten, im Rathaus von Döbling, das Aufgebot ist bestellt. Aber Alma mag nicht mehr. Sie nennt Kokoschka in ihren Briefen plötzlich immer öfter »Schlappschwanz«. Der

Sie war als Tochter einer samoaischen Prinzessin und eines amerikanischen Walfängers in der Südsee geboren worden. Seit sie zwölf Jahre alt war, galt sie als sagenhafte Schönheit – und nachdem sie in San Francisco zur Schule gegangen war, galt sie als intelligente, international versierte sagenhafte Schönheit. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie im Handelsunternehmen ihres Vaters und reiste dann mit ihrem ersten Mann auf die kleine Insel Myoko, Teil der Duke-of-York-Inselgruppe bei Papua-Neuguinea. Es gab dort nur noch elf Siedler, nachdem gerade die beiden anderen von einem Kannibalenstamm verspeist worden waren. Auch Emma wurde einmal von den Kannibalen gefesselt und zum Abtransport vorbereitet, doch da kam ihr Ehemann mit seinen Leibwachen dazwischen. Fortan zogen sich die Eingeborenen in die unzugänglichen Bergregionen zurück, und Emma und ihr Mann kultivierten das Land. Gekocht wurde nur fleischlos. Als das Inselchen fünf Jahre später plötzlich Teil des deutschen Kolonialreiches wurde und »Neulauenburg« hieß, stellte der deutsche Bevollmächtigte Gustav von Oertzen erstaunt fest, dass der größte Teil des fruchtbaren Landes im Besitz einer gewissen Emma Forsayth-Coe war, also unserer »Queen Emma«, wie sie wegen ihres präsidialen Auftretens von den Insulanern auf Neuguinea genannt wurde. Sie kaufte immer weiter Land, betrieb Kokosnussplantagen, verkaufte diese wieder gewinnbringend und wurde immer schöner und reicher und

Am 26. Juli meldet das »Volksblatt« aus Meßkirch im Schwarzwald das Folgende: »Von Freiburg ist am Samstag eine hocherfreuliche Nachricht eingetroffen. Martin Heidegger, der Sohn des Mesners Heidegger hier, hat in Philosophie und Mathematik den Doktor gemacht und zwar mit Auszeichnung. Wie wir hören, beabsichtigt, Herr Heidegger in nächster Zeit sich mit der Herausgabe eines größeren wissenschaftlichen Werkes zu befassen, Glück auf.«