»Frauenhellbraun taumelt an Männerdunkelbraun« – so dichtet Gottfried Benn. Ernst Ludwig Kirchners Foto zeigt, wie er das meint.

Die Sonne steht hoch und golden, es geht immer ein leichter Wind, Ernst Ludwig Kirchners sehniger Oberkörper ist tiefgebräunt. Manchmal trägt er eine leichte Sommerhose und ein aufgeknöpftes Leinenhemd, wenn er am Strand von Fehmarn sitzt und malt, manchmal nicht. Erna Schilling, seine Geliebte, sein Modell, ist meist ganz nackt, sie spielt mit den Füßen im warmen Sand, selbstvergessen, merkt gar nicht mehr, wenn Kirchner sie malt, weil er das ohnehin die ganze Zeit tut. Kirchner ist in diesem Sommer wieder ganz bei sich. Er hat Berlin hinter sich gelassen. Dieses große, irre, laute, vorwärtsstürmende Berlin. Hier am Strand gibt es nirgendwo das Quietschen der Trambahn, wenn sich in einer Kurve ihre Reifen an den Eisenschienen reiben. Hier gibt es keine Menschen, die über die Bürgersteige eilen, als ginge es um ihr Leben, hier gibt es keine Zeitungen, die dreimal am Tag erscheinen, hier gibt es abends weder Varieté noch eine Uraufführung von Gerhart Hauptmann oder Frank Wedekind oder ein Varieté mit Mata Hari, hier gibt es abends nur ein Glas Wein, liegend, im Sand, hinten in der Ferne geht die Sonne langsam unter. Erna liegt schnurrend in seinem Arm. Und er hat eigentlich schon wieder Lust auf sie,

Denn am nächsten Morgen wird Besuch aus Berlin kommen, sein Freund, der Maler Otto Mueller, und dessen Maschka. Im Mai war ja die Künstlergruppe »Brücke« zerbrochen, aber jetzt, in diesem Sommer, weint ihr Kirchner keine Träne nach, er spürt, dass die Fliehkräfte Berlins, wohin die Brücke-Maler aus dem sinnlich-zeitentrückten Dresden gezogen waren, zu viel waren für sie, weil diese verdammte Stadt einfach alles auseinanderbringt, was nicht im Innersten miteinander verschweißt ist. Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff leiden unter der Trennung, sie halten Kirchners Egotrips für den Grund des Scheiterns. Otto Mueller interessiert das nicht. Er freut sich, mit Kirchner am Meer zu sein, mit ihm zu baden, mit ihm zu malen. Maschka und Erna verstehen sich gut, nackt laufen sie, kaum sind die Muellers angekommen, fast einen Kilometer am endlosen Strand entlang, spritzen mit den Füßen durch das flache Wasser. Dann holt Kirchner seine Kamera und er fotografiert Mueller zwischen Erna und Maschka, wie sie in die Fluten steigen, wie sie hochhüpfen, wenn die Wellen kommen, wie sie eintauchen, Sommerkörper, auf denen das trocknende Salz schöne weiße Flecken hinterlässt und die Haare so steif macht. »Fleisch, das nackt ging/bis in den Mund gebräunt

Am 2. August ist die Menschheit endlich am Olymp angelangt. Der Schweizer Fotograf Fred Boissonnas, sein Freund Daniel Baud-Boy und der griechische Hirte Christos Kakalos besteigen erstmals den mythenumwitterten Berg des antiken Griechenlands. Noch am Vorabend hatte Kakalos, der Hirte, die beiden Schweizer angefleht, nicht auf den 2917 Meter hohen Gipfel zu steigen, dort dürften nur Adler hinauf, nicht Menschen. Aber es war dann halb so schlimm.

Im August fährt Josef Kohler, Deutschlands bekanntester und produktivster Jurist, aus Berlin zur Sommerfrische an die Ostsee. Aber natürlich kann er auch dort nicht nur einfach so aufs Wasser schauen. Gerade war sein Buch »Moderne Rechtsprobleme« erschienen – und darin ging Kohler der Frage nach, ob der Mensch nun einen freien Willen habe oder nicht. Wie auch

Wenn Gerhart Hauptmann in seinem Haus in Agnetendorf ist, dann reitet er jeden Morgen aus. Er

Der »Blaue Reiter« Franz Marc vollendet in Sindelsdorf bei München in diesen Tagen sein Bild »Der Turm der Blauen Pferde«. August Macke schreibt ihm: »Gib Deiner Zeit Tiere, vor denen man noch lange steht. Die Hufschläge Deiner Pferde mögen hallen bis in die fernsten Jahrhunderte.« Doch in diesem Sommer zeichnet auch Macke plötzlich Pferde – und zwar solche, auf denen Soldaten sitzen. Ein Manöver, Pferde als Mittel zum Zweck, in ihren Sätteln Männer in deutscher Uniform. Bei Marc hingegen: das Pferd als das Beste und Reinste, was ein Mensch sich denken kann. Es ist eine absurde Ironie des Schicksals, dass genau dieser Franz Marc, dieser

August Bebel, beruflich zunächst Hersteller von Türklinken, also dem Kommen und Gehen durchaus zugeneigt und demzufolge ein erstklassiger Kandidat für jedes hohes Amt in der deutschen Sozialdemokratie zu allen Zeiten, saß im Jahre 1913 als SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Hamburg I im deutschen Reichstag. Vor allem aber war er die Stimme der Sozialdemokratie, geachtet und verehrt. Aber am 13. August 1913 musste er endgültig gehen: Er stirbt in Passugg in der Schweiz während eines Sanatoriumsaufenthaltes an Herzversagen. Sein Tod sorgt europaweit für Erschütterung. Rosa Luxemburg, Sommergast bei Clara Zetkin in Sillenbuch in der Nähe von Stuttgart, findet an seinem Todesmorgen im Nieselregen ein Schleierkraut in den Wiesen hinterm Haus und trocknet es in ihrem Herbarium, sie beginnt damit ihr zehntes Heft und schreibt den lateinischen Namen dazu: Gypsophila paniculata. Am Tag nach seinem Tod findet sie in Sillenbuch das, was sie am dringendsten braucht: Baldrian. Sofort nimmt sie die Pflanze mit, macht sich einen Tee daraus, klebt einen

Im Hafen von Southampton legt am 15. August die »Avon« ab: ein riesiges Schiff von 11073 Bruttoregistertonnen mit einer kostbaren Fracht: den gesamten »Ballets Russes«. Die russischen Tänzer wollten nach Europa nun auch Südamerika erobern. Aber die junge ungarische Tänzerin Romola de Pulszky stellt besorgt fest, dass sowohl Djagilew als auch Nijinsky fehlen. Doch Nijinsky steigt mit sechs Koffern und seinem Diener Wassili am 16. August im französischen Cherbourg zu, Djagilew aber fehlt. Er hat in Baden-Baden entschieden, sich zu schonen, er hat panische Angst vor Schiffreisen, seit ihm eine Wahrsagerin prophezeit hatte, er werde dort ein großes Unglück erleben, er hat außerdem kein Interesse an Südamerika, er will sich lieber in Venedig ausruhen und er schickt seine Truppe zum Geldverdienen los, ohne den Cheftrainer.

Für die Tänzerinnen und Tänzer waren die 20 Tage auf See ein langer Urlaub, die Sonne schien, sie waren umsorgt und versorgt, sie konnten sich erholen von ihrer exzessiven Tournee durch Europa, nur morgens und abends trafen sich die Tänzer, für Gymnastik, leichte Lockerungsübungen, Gewichtstraining. Die Stammbesetzung von »Le sacre du printemps« war an Bord, nur drei der jungen Tänzerinnen fehlten,

Die drei gingen weiter übers Deck, das Meer leuchtete in dunklem Licht, eine unendliche Friedlichkeit lag über allem, gerade hatte das Schiff den Äquator überquert, Romola und Nijinsky schauten hoch in die Sterne, auf die neuen Sterne, die man in der nördlichen Hemisphäre nicht sehen kann. Er konnte eigentlich kein Französisch, sie kein Polnisch und kein Russisch. Aber irgendwie verständigten sie sich. Und nachdem sie lange schweigend das Kreuz des Südens über sich angeblickt hatten, verabschiedeten sie sich vorsichtig und gingen zu Bett.

Am 18. August geschieht im berühmten Spielcasino von Monte Carlo etwas Ungeheuerliches: Es fällt die Kugel am Roulettetisch 26 Mal hintereinander auf die Farbe Schwarz. Sehr viele Menschen im Frack verloren an diesem Abend sehr viel Geld, weil sie ab dem 16., 17., 18. Mal immer mehr Geld auf Rot

Jack London, der Autor des »Seewolfs«, war im Jahr zuvor erstmals seit Urzeiten wieder nüchtern gewesen, ein paar Monate sogar, weil auf der langen Schiffsreise entlang der ganzen amerikanischen Westküste der Alkohol ausgegangen war, und auch Drogen waren nicht zu bekommen. Er reiste mit seiner zweiten Ehefrau Charmian, sie waren auf der Rückreise zu ihrer geliebten Farm, ihrer »Beauty Ranch« und seinem »Wolfshaus«, das er dort am Bauen war. Zu seiner unbändigen Freude hatte er auf der Überfahrt ein Kind gezeugt, sein Traum von einem Stammhalter, der seine Ranch übernehmen würde, schien zum Greifen nah. Doch als sie wieder in Kalifornien waren, verlor Charmian das Kind und Jack London seinen Halt. Er begann wieder zu trinken und Drogen, Opium, Heroin, zu nehmen und sich vollkommen gehenzulassen. Auch Charmian verzweifelte darüber, dass sie wohl nie wieder ein Kind bekommen könne.

In den Nächten der Drogenräusche begann sich Jack London immer mehr in andere Sphären fortzudenken, weit weg von seinem zerrütteten Körper, seiner traurigen Ehe, seinem niedergebrannten Haus, seinen horrenden Schulden. Der »Seewolf« wollte zum Adler werden. Er wollte endlich die Vogelperspektive einnehmen auf sein Leben und die ganze Welt. Zumindest dabei half ihm das Morphium. Er

An jenem 22. August, als Jack Londons »Wolfshaus« zerstört wird, zerstört Franz Kafka mit ein paar Worten den Lebenstraum seiner Verlobten Felice Bauer. Die hatte ihm gerade aus Sylt geschrieben, wo sie die Paare am Strand beobachtet und davon träumt, bald die Ehefrau Kafkas zu werden. Kafka, in Panik, stellt klar: Wer ihn heiraten wolle, der müsse sich einstellen auf »ein klösterliches Leben an der Seite eines verdrossenen, traurigen, schweigsamen, unzufriedenen, kränklichen Menschen«. Sehr vernünftig eigentlich von Felices Vater Carl, dass er schon einen Tag später an Kafka schreibt, er behalte sich eine Entscheidung über dessen Eheantrag vor, bis er mit seiner Tochter gesprochen habe. Doch die Tochter will sich tatsächlich auf diesen verdrossenen, traurigen, schweigsamen, unzufriedenen, kränklichen Menschen einlassen, und so bleibt dem Vater nichts anderes übrig, als am 27. August Kafkas Heiratsantrag zuzustimmen. Doch der antwortet Felice drei Tage später voller Flehen: »Stoße mich fort, alles andere ist unser beider Untergang.« Was soll man da noch sagen?

In Helsinki auf der Strandpromenade macht er, die Sonne will natürlich gar nicht untergehen, die Bekanntschaft mit einer schönen Estin, Olga Tilga, mit der er bis fünf Uhr in der Frühe spazieren geht, damit sie ja nicht den Eindruck gewinnt, er wolle sie ins Bett kriegen. »Rührend ihr Kampf zwischen Hingabe & Mißtrauen«, so notiert Schmitz und reportiert an seinen Therapeuten in Berlin: in der »Morgenmüdigkeit glaubte ich dann, alles sei verfahren, verschwatzt«. Doch Olga will plötzlich noch den nächsten Tag mit ihm verbringen, doch da sagt Oscar kühl: »Nein danke.« Als ordentlicher Freudianer träumt er sodann, dass er ihr einen Brief schreiben wird, und das tut er dann auch brav, kaum erwacht. Die Antwort fällt positiv aus. Zwei Stunden später nehmen

Und dann erklärt der Erotomane Oscar A.H. Schmitz der Welt in seinem Tagebuch, wie es läuft: »1.) eine Frau durch plötzliches Abwenden zum ›ja‹ zu entscheiden. 2.) NICHT aus Mitleid ihrem Flehen nachgeben. 3.) als durch mein ›Nein‹ wieder alles ungewiß geworden war, nach 2 Stunden ihr ›ja‹ zu erbitten, so daß sie sich nicht erniedrigt, sondern wieder als Schenkerin fühlte, in mir aber wieder das Verlangen erwacht war.« Das sind die Minima amoralia von Oscar A.H. Schmitz. Dr. Freud, bitte übernehmen Sie!

Doch Dr. Sigmund Freud, Berggasse 19, Wien, hat gerade andere Sorgen. Er bereitet sich auf den Psychoanalytischen Kongress in München vor, wo er auf seinen Widersacher C.G. Jung treffen wird. Freud hat Angst. Und er weiß nicht, wie er sie verdrängen soll, was für eine verdammte Déformation professionelle.

Und wie ist, ganz grob gefragt, der Beziehungsstatus zwischen den Männern und den Frauen 1913? Grob

Als seine Frau noch lebte, so klagt Kühn gegenüber seinem Vertrauten Stieglitz, habe er immer nur seine Kinder fotografieren dürfen, weil ihm seine Frau keine anderen Modelle erlaubt hatte. Selber schuld. So wurde dann das Kindermädchen Mary, das die Kinder immer auf den Fotoausflügen begleitete, Kühns Geliebte. Und später, nach dem Tod seiner Frau, seine zweite Ehefrau. Aber auch sie wollte offenbar unbedingt verhindern, dass ihr Mann andere Frauen nackt fotografierte, und wurde so zu seinem einzigen Aktmodell. Und sie interpretierte die Rolle der Landpomeranze auf sehr vielfältige Weise: Sie ist auf Kühns Fotografien das verführerische Aktmodell und die fesche Wanderin im Dirndl, die liebevolle Mutter, die sich zu ihren Kindern beugt, und die selbstbewusste Frau im Ausgehkostüm. Sie ist einfach alles selbst. So musste sich der Mann nicht mehr nach etwas anderem sehnen. Auch ein Rezept für eine glückliche Beziehung.

Am 23. August wird die von Edvard Eriksen ausgeführte »Kleine Meerjungfrau« im Hafen von Kopenhagen enthüllt. Originellerweise hatte Eriksen den Kopf seiner Geliebten Ellen Price, der Primaballerina am dänischen Staatsballett, nachgebildet, den Körper aber seiner Ehefrau Eline. Auch eine Lösung.