Da war das Leben noch schön: Djagilew, der Impresario der »Ballets Russes«, fährt mit Misia Sert nach Venedig. Dann kommt ein Telegramm.

Einer dieser 50 Leute, und vermutlich einer der normalen, der Bankdirektor Carl Steinbart aus Berlin, fährt am 2. September zu dem norwegischen Maler Edvard Munch nach Moss. Er hat Nummer 51 mit, seine Tochter Irmgard, die Munch porträtieren soll. Zunächst kauft Steingart für die ungeheure Summe von 34500 Mark spontan bei Munch diverse Gemälde ein. Doch schon auf der Rückfahrt beschleichen ihn Zweifel. Und dann lässt Steinbart, als er am Stettiner Bahnhof in sein Auto steigt, das Gemälde »Ein Morgen am Ostseestrand«, für das er drei Tage zuvor über 6000 Mark bezahlt hat, auf dem Verdeck liegen und fährt los. Als er in Lichterfelde ankommt, ist das Bild weg. Am 8. September meldet das »Berliner Tagblatt«: »Ein sehr wertvolles Ölgemälde, für dessen Wiederbeschaffung eine Belohnung von 200 Mark zugesichert wird, wurde gestern abend in der neunten

Die Konsequenz: Munch wird ab Oktober 1913 keine Porträtaufträge von deutschen Querulanten mehr annehmen.

Am 8. September erscheint in der »Irish Times« das Gedicht »September 1913« von W.B. Yeats. Es ist ein Gedicht über das Ende der Romantik und den Beginn des Materialismus. Anlass war die Ablehnung der Stadt Dublin, eine Sammlung moderner und impressionistischer Kunst als Geschenk anzunehmen.

Am 8. September sind Karl Kraus und Sidonie Nádherný im Café Imperial in Wien aufeinandergestoßen wie zwei Kometen. Sie werden sich ein Leben lang umkreisen. Aber schon am 19. September notiert Sidonie in ihr Tagebuch: »Es ist erniedrigend, durch Unerreichbarkeit die Begierde des Mannes groß zu ziehen. Er soll mich besitzen, um zu erkennen, wie unerreichbar ich ihm bin. Dann erst soll seine Sehnsucht wachsen, dann erst gilt sie mir, dann erst darf ich mich ihm entziehen.« Und weiter: »Wie niedrig ist die Frau, die mit dem Kuss was anderes meint als mit dem Körper und mit ihren Lippen Sehnsucht entfacht, die sie dann nicht stillt.« Was für eine interessante Theorie. Sidonie scheint sich wirklich langsam aus dem lebenslähmenden Bannkreis Rilkes herauszuarbeiten.

Der vierzehnjährige Ernest Hemingway schreibt Anfang September aus der Oak Park and River Forest High School einen Brief an seine Mutter. Er bittet sie um lange Hosen. Und, ganz wichtig, um neue Hemden, denn durch das ständige Boxen ist sein Brustkorb gewachsen: »Ich sprenge jedes Mal meine Hemdknöpfe, wenn ich voll ausatme.« Hemingways stolze

Am 8. September kommt es im »Bayerischen Hof« in München zum Showdown zwischen Sigmund Freud und C.G. Jung, in dem Freud einst seinen »Sohn und Erben« gesehen hatte. Offiziell ist es der »4. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«, und es stehen 87 Mitglieder und Gäste auf der Teilnehmerliste, darunter ein ergriffener Rainer Maria Rilke, der sich gerade wieder in den Bannkreis von Lou Andreas-Salomé hineinarbeitet. Aber eigentlich geht es nur um zwei der 87 Anwesenden: Es geht um den Machtkampf zwischen Freud und Jung. Und schon nach wenigen Minuten macht ein Bonmot die Runde: »Die Jungs glauben nicht länger an Freud.« Freud war, sehr kurzgefasst, nach Jungs Einschätzung bei der Neurosenbildung und bei der Traumdeutung viel zu obsessiv auf die Sexualität fixiert. Am Ende treten die Zürcher Analytiker um Jung aus der Vereinigung aus, die zunächst in einer Kampfabstimmung Jungs Wiederwahl zum Präsidenten durchgesetzt hatten. Doch das Porzellan war nicht mehr zu kitten. Freud damals über Jung: »Seine schlechten Theorien entschädigen mich eben nicht für seinen unangenehmen Charakter.« Jung über Freud: »Sosehr ich die Kühnheit seines Versuchs bewundere,

Alle Freiheitssucher und Freiluftfanatiker zieht es magisch nach Ascona, an den Monte Verità, in die erste deutsche Aussteigerkolonie. Erich Mühsam beschrieb, wie nach und nach aus dem Refugium einiger Individual-Ethiker ein ethisches Kollektiv-Etablissement hervorwuchs, »die Heil- und Erholungsanstalt ›Monte Verità‹, für die ich, da man dort mit nichts als rohem Obst und ungekochtem Gemüse gefüttert wurde, den Namen ›Salatorium‹ in Umlauf brachte. Über die Gäste habe ich mich recht missmutig geäußert; ich nannte sie die ›ethischen Wegelagerer mit ihren spiritistischen, theosophischen, okkultistischen oder potenziert vegetarischen Sparren‹.« Die Veganer, die Sex-Gurus, die Tänzer, die FKKler, die Buddhisten, die Hermann Hesses und die Dandys der Schwabinger Bohème, sie alle hatten hier auf diesem 321 Meter hohen Hügel voller Feigenbäume und verfallener Hütten, den der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ida Hofmann und einigen Gleichgesinnten gekauft hatte, gemerkt, dass der Glaube Berge versetzen kann. Denn der Berg hatte eigentlich gar keinen Namen. Sie tauften ihn einfach »Berg der Wahrheit«, keiner widersprach, und die Tessiner Behörden, überwältigt von dem

Karoline Sophie Marie Wiegmann, Nähmaschinenhändlertochter aus Hannover, machte die gleiche Erfahrung: Sie taufte sich um in »Mary Wigman«, und von dem Moment an war sie ein neuer Mensch. In Dresden-Hellerau bei Émile Jaques-Dalcroze hatte sie »Rhythmische Gymnastik« studiert, im Sommer 1913 reist sie nach Ascona, um bei dem großen Tanztheoretiker Rudolf von Laban, der erstmals seine Tanzschule von München hierher verlegt hatte, den Ausdruckstanz ohne Musik zu erlernen. Emil Nolde, der es liebte, Tänzerinnen zu malen, hatte Mary Wigman von Laban erzählt. Und auch wenn der Monte Verità zuvor so vieles andere war: also Außenstelle der Schwabinger Bohème, Experimentierstätte von Drogen und Psychoanalyse, Ort der freien Liebe und Ziel alleinerziehender junger Frauen wie Fanny zu Reventlow, Modell einer besseren Welt mit Menschen, die nur von Luft und Liebe und Gemüse leben – wirklich berühmt wird der Berg erst, als die Menschen dort anfangen, nackt zu tanzen. Und durch all die Fotos, die die nackten Frauen zeigen, hinter denen man die Berge und den Lago Maggiore schimmern sieht. Es war, als sei der Körper befreit – und zwar wieder zu jener Körperlichkeit, die er hatte vor dem Sündenfall. Denn, so Mary Wigman, der Körper sei das Instrument, das die Menschen wieder lernen müssten, neu zu stimmen. Sie reist an, mit dem Zug aus München, landet in Locarno. Geht erst zu Fuß nach Ascona und von dort den Berg hinauf. Hinter dem kleinen Waldstück, beim Damenluftbad, trifft sie die Tänzer. Labans klare Ansage:

Wie entsteht Avantgarde? Durch Abschottung. František Kupka jedenfalls, neben Malewitsch, Kandinsky und Mondrian die Hauptfigur der Abstraktion um 1913, lebte zwar in Paris, direkt neben Matisse und Picasso, aber er erklärte seinem Freund Arthur Roessler in einem Brief: »Natürlich kenne ich alle Künstler hier in Paris, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich mit ihnen verbinden müsste, ich habe nicht das Gefühl, ihre Ateliers besuchen zu müssen, und sie wollen nicht zu mir. In Wahrheit also führe ich das Leben eines Eremiten.« Oder, um es mit den Worten von Gottfried Benn aus seinem Gedicht »D-Zug« zu sagen: »O! Und dann wieder dieses Bei-Sich-Selbst-Sein«. Beziehungsweise, noch poetischer und mit noch ein paar Jahren Lebenserfahrung mehr: »Nur wer allein ist, ist auch im Geheimnis.«

Am 9. September versucht sich Virginia Woolf in Sussex mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen.

Am 9. September gehen in Buenos Aires Romola de Pulszky und Nijinsky zur Beichte, denn am nächsten Tag wollen die beiden Tänzer der »Ballets Russes« heiraten. Nijinsky redete lange auf einen argentinischen Priester ein, der zwar kein Wort Polnisch oder Russisch versteht, aber ihm trotzdem die Absolution erteilt. Romola jedoch muss dem Priester versprechen, dass sie alles dafür tun wird, ihren künftigen Mann davon abzuhalten, diese unmoralischen Tänze in der »Scheherazade« aufzuführen, von denen der Priester gehört hat. Versprochen! Zur Trauung um ein Uhr Ortszeit im Standesamt von Buenos Aires trägt Romola ein dunkelblaues plissiertes Taftkleid mit einem Strauß rosa Moosrosen an der Taille und einen schwarzen Hut mit geschwungener Krempe und blauem Band. Sie sieht hinreißend aus. Abends die kirchliche Hochzeit, dann die Generalprobe für die »Scheherazade«, natürlich tanzt Nijinsky wieder die

Es ist die Entfernung, die manchmal Raum gibt für neue Gedanken und neue Wege, die einen frei fühlen lässt, frei von den Zwängen und den Ritualen des Bekannten. Vier Wochen zuvor war Nijinsky noch mit Djagilew, seinem Entdecker, Förderer und wohl doch auch Lebenspartner, in Würzburg gewesen, um Tiepolos Hochzeitsmalereien anzuschauen. Und nun, nur eine Schiffreise später, war Nijinsky, der zuvor noch nie eine Frau geküsst hatte, plötzlich verheiratet mit einer jungen ungarischen Tänzerin? Nijinsky war vielleicht der größte Tänzer der Geschichte. Der größte Psychologe war er nicht. Er sandte Djagilew ein Telegramm nach Venedig, wo dieser Urlaub machte. An genau diesem 11. September hatte Djagilew gerade Misia Sert, die Pariser Mäzenatin und Salondame, in sein Zimmer bestellt, um ihr eine Partitur vorzuspielen. Es war sehr heiß in Venedig, drückend schwül, und sie kam mit einem Sonnenschirm ins Zimmer. Djagilew vollführte ausgelassen ein paar Tanzschritte im Zimmer und öffnete dazu rhythmisch den Sonnenschirm. Misia Sert, panisch abergläubisch, bat ihn, den Schirm zu schließen, ein geöffneter Schirm in einem Zimmer bringe großes Unglück. Doch es war schon zu spät. Ein Page klopfte an die Tür und brachte Djagilew ein Telegramm, Nijinskys Telegramm. Und Djagilew brach zusammen. Kurz wollte er telegraphisch die Hochzeit in Buenos Aires verbieten, wollte ein letztes Mal seinen

Am 15. September 1913 schreibt Walter Benjamin, gerade so der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« entwachsen, an seine Freundin Carla Seligson aus der Delbrückstraße 23 in Berlin: »Dies ständige vibrierende Gefühl für die Abstraktheit des reinen Geistes möchte ich Jugend nennen. Dann nämlich (wenn wir uns nicht zum bloßen Arbeiter einer Bewegung machen), wenn wir uns den Blick frei halten, den Geist wo immer zu schauen, werden wir die sein, die ihn verwirklichen. Fast alle vergessen, dass sie selbst der Ort sind, wo Geist sich verwirklicht.« Das ist also die »Berliner Jugend um 1913«.

Doch die Vorsitzende des Deutschen Bundes abstinenter Frauen ließ einfach nicht locker. Ihre Logik ging so: Wenn das Denkmal an die Befreiung der Deutschen von dem äußeren Tyrannen, also Napoleon, erinnern sollte, dann brauche es auch dringend ein Symbol für die Befreiung vom inneren Tyrannen, dem Alkohol. Am 11. März war Baubeginn für das »Königin Luise Haus«, das »Haus abstinenter Frauen« – und schon am 18. September stand das schmucke Gebäude im Leipziger Stadtteil Stötteritz. Es war direkt gegenüber dem Haupteingang zum Südfriedhof gebaut worden, offenbar um den alkoholkranken Damen auch damit noch einmal zu sagen, dass es höchste Eisenbahn sei. Drinnen gab es Wasser und Tee. Draußen nur Kännchen.

Als die Berliner von ihrer Sommerfrische an der See in die Reichshauptstadt zurückkehren, erwartet sie eine Sensation: Am 19. September eröffnet der »1. Deutsche Herbstsalon« auf 1200 Quadratmetern im dritten Stock des neuen Gebäudes Potsdamer Straße 75, Ecke Pallasstraße, in dem das

Unsere schöne geheimnisvolle russische Fürstin Eugénie Schakowskoy, die Cousine von Zar Nikolaus II., die am 24. April in Berlin-Johannisthal so spektakulär mit ihrem Geliebten abgestürzt war, scheint sich relativ schnell wieder erholt zu haben von diesem Schock

Am 23. September, einem Dienstag, überfliegt Roland Garros als erster Mensch das Mittelmeer. Von Fréjus in Südfrankreich nach Bizerte in Tunesien braucht seine Morane-Saulnier G knapp acht Stunden.

Kafka ist sich bewusst, in welch besonderem Jahr er lebt. Er schickt am 24. September aus Riva am Gardasee, wo er eine Art Urlaub zu machen versucht, eine Postkarte an seine Schwester Ottla und

Das Buch »Das Jahr 1913« von Daniel Sarason erscheint. Es beginnt mit der lapidaren Feststellung: »Die Zeit, in der wir leben, ist wohl die anregendste und erregendste, die je dagewesen ist.« Dann schreibt Ernst Troeltsch: »Die Intensität des modernen Lebenskampfes lässt es zu der Ruhe und Stille nicht kommen, die die Voraussetzung für religiöses Leben ist und die erschöpften Sinne suchen andere Erholungsmittel. Es ist die alte Geschichte, die wir alle kennen, die man eine Zeitlang den Fortschritt genannt hat und dann die Dekadenz, und in der man heute gern die Vorbereitung eines neuen Idealismus sieht.« Ganz meine Rede, wird sich Kafka gedacht haben.

Am 26. September kann Rosa Luxemburg keine Pflanzen sammeln. Sie hält eine Rede in der »Liederhalle« in Frankfurt-Bockenheim. Der Saal ist gefüllt. Es ist heiß. Sie appelliert an die Arbeiter, nicht zu den Waffen zu greifen, wenn es zum Krieg kommt. »Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.« Es wird eine Rede mit Folgen. Schon am 30. September leitet der Frankfurter Oberstaatsanwalt gegen Rosa Luxemburg ein Verfahren

Ende September schreibt Auguste Rodin aus Paris an Vita Sackville nach London. Sie hatte den sonderbaren Wunsch, ihn gegen Honorar um eine Porträtbüste des deutschen Kaisers Wilhelm II. zu bitten. Rodin antwortete empört, er würde es natürlich auf alle Zeiten ablehnen, eine Skulptur jenes Mannes zu machen, der der »natürliche Feind Frankreichs« ist.

Sein erstes Patent bekam er für das Abfüllen von Klareis in Flaschen, aber das führte noch zu nichts. Rudolf Diesel wollte etwas Richtiges erfinden, etwas, das die Menschheit weiterbringt. So erfand der den Dieselmotor oder auf Amtsdeutsch das »Patent Nr. 67207 Arbeitsverfahren und Ausführung für Verbrennungskraftmaschinen«. Dieser Motor hieß dann zwar schnell nach ihm, also Diesel, aber weil er als Finanzmann und als Verhandler nicht ganz so genial war wie als Erfinder, luchsten ihm immer wieder große Firmen seine Patente ab, und sein Reichtum zerrann ihm zwischen den Fingern. So auch im Herbst 1913. Am 1. Oktober mussten zahlreiche Kredite bedient werden, doch Diesel wusste nicht wie. Er hatte über 300000 Reichsmark Schulden. Er war weltberühmt, aber pleite. Im Sommer musste er das Familienauto verkaufen. In dieser

Die »Münchner Neuesten Nachrichten« melden am 30. September in ihrem »Witterungsbericht« Kopfschmerzwetter: »Föhneinfluss unter einem sich verstärkenden südeuropäischen Hochdruckgebiet«. Das stört unsere feinnervigen wetterfühligen Geister natürlich. Und so schreibt Hugo von Hofmannsthal aus dem Münchner Hotel Marienbad erst an Ottonie von Degenfeld, dass sich »heute morgen der Wind gewendet habe«, und an die große Salondame Elsa Bruckmann nach Starnberg: »Ich war schon gestern im Begriffe, an Ihrem Starnberger Häuschen anzuklopfen, hatte schon den Fahrplan in der Tasche, da zog das abscheuliche Scirocco Wetter wieder herauf und ich ließ es sein.« Da bekommt man schon beim Lesen Kopfschmerzen. Und so zieht Hugo von Hofmannsthal sich lieber wieder zurück in sein Schattenreich und schreibt im Hotel, passend, weiter an seinem sehnsüchtigen Libretto für die »Frau ohne Schatten«. Im gleichen Hotel Marienbad wie Hugo von Hofmannsthal wohnt übrigens Rainer Maria Rilke – er wiederum ließ sich am 18. September nicht vom Föhn abschrecken und reiste mit Frau und Tochter zur Fürstin Bruckmann an den Starnberger See.