Wie groß ist die Kulturszene des Jahres 1913? Gottfried Benn hat es genau ausgerechnet. Am Dienstag, dem 2. September schreibt er an seinen Freund und Verleger Paul Zech: »Kunst ist eine Sache von 50 Leuten, davon noch 30 nicht normal sind.«
Da war das Leben noch schön: Djagilew, der Impresario der »Ballets Russes«, fährt mit Misia Sert nach Venedig. Dann kommt ein Telegramm.
Einer dieser 50 Leute, und vermutlich einer der normalen, der Bankdirektor Carl Steinbart aus Berlin, fährt am 2. September zu dem norwegischen Maler Edvard Munch nach Moss. Er hat Nummer 51 mit, seine Tochter Irmgard, die Munch porträtieren soll. Zunächst kauft Steingart für die ungeheure Summe von 34500 Mark spontan bei Munch diverse Gemälde ein. Doch schon auf der Rückfahrt beschleichen ihn Zweifel. Und dann lässt Steinbart, als er am Stettiner Bahnhof in sein Auto steigt, das Gemälde »Ein Morgen am Ostseestrand«, für das er drei Tage zuvor über 6000 Mark bezahlt hat, auf dem Verdeck liegen und fährt los. Als er in Lichterfelde ankommt, ist das Bild weg. Am 8. September meldet das »Berliner Tagblatt«: »Ein sehr wertvolles Ölgemälde, für dessen Wiederbeschaffung eine Belohnung von 200 Mark zugesichert wird, wurde gestern abend in der neunten Stunde von einem Herrn auf einer Automobilfahrt vom Stettiner Bahnhof über Steglitz nach Lichterfelde verloren. Das Bild stellt eine Wasserlandschaft dar. Unterzeichnet ist es mit ›Munch 1902‹.« Doch das half alles nichts, das Bild ist weg, und es ist es bis zum heutigen Tag, statt 6000 Mark würde es wohl inzwischen sechs Millionen Euro kosten. Aber damit endet die unglückliche Beziehung zwischen Munch und seinem deutschen Sammler noch lange nicht. Als wenige Wochen später Munchs Porträt von Irmgard in Berlin eintrifft, herrscht im Hause Steinbart großes Entsetzen. Sofort schreibt der Sammler an den Maler, er wolle das Bild zurückgeben, es gefalle weder ihm noch seiner Frau noch seiner Tochter. Und bringt es flugs wieder zur Post. Und dann berechnet Steinbart dem armen Munch sogar noch 15 Mark für Fracht und Versicherung. Munch, ein höflicher, erschöpfter Mann, der sich selbst in diesem Sommer nur noch als »verblichenen Klassiker« erlebt, wird es nur so kommentieren. »Steinbart macht sehr viele Umstände.«
Die Konsequenz: Munch wird ab Oktober 1913 keine Porträtaufträge von deutschen Querulanten mehr annehmen.
Am 8. September erscheint in der »Irish Times« das Gedicht »September 1913« von W.B. Yeats. Es ist ein Gedicht über das Ende der Romantik und den Beginn des Materialismus. Anlass war die Ablehnung der Stadt Dublin, eine Sammlung moderner und impressionistischer Kunst als Geschenk anzunehmen. Aber er nahm das zum Anlass für einen grundsätzlichen Abschied: »Romantic Ireland’s dead and gone«. So läutet er in seinem Refrain der Vergangenheit die Totenglocke.
Am 8. September sind Karl Kraus und Sidonie Nádherný im Café Imperial in Wien aufeinandergestoßen wie zwei Kometen. Sie werden sich ein Leben lang umkreisen. Aber schon am 19. September notiert Sidonie in ihr Tagebuch: »Es ist erniedrigend, durch Unerreichbarkeit die Begierde des Mannes groß zu ziehen. Er soll mich besitzen, um zu erkennen, wie unerreichbar ich ihm bin. Dann erst soll seine Sehnsucht wachsen, dann erst gilt sie mir, dann erst darf ich mich ihm entziehen.« Und weiter: »Wie niedrig ist die Frau, die mit dem Kuss was anderes meint als mit dem Körper und mit ihren Lippen Sehnsucht entfacht, die sie dann nicht stillt.« Was für eine interessante Theorie. Sidonie scheint sich wirklich langsam aus dem lebenslähmenden Bannkreis Rilkes herauszuarbeiten.
Der vierzehnjährige Ernest Hemingway schreibt Anfang September aus der Oak Park and River Forest High School einen Brief an seine Mutter. Er bittet sie um lange Hosen. Und, ganz wichtig, um neue Hemden, denn durch das ständige Boxen ist sein Brustkorb gewachsen: »Ich sprenge jedes Mal meine Hemdknöpfe, wenn ich voll ausatme.« Hemingways stolze Mutter Grace Hall schickt ihm ein Paket mit neuen Sachen. Sie hat schon immer gewusst, dass ihr Sohn alle Normen sprengen würde, und klebt jeden seiner Briefe und Zettel in ein großes ledergebundenes Buch. Vielen Dank.
Am 8. September kommt es im »Bayerischen Hof« in München zum Showdown zwischen Sigmund Freud und C.G. Jung, in dem Freud einst seinen »Sohn und Erben« gesehen hatte. Offiziell ist es der »4. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«, und es stehen 87 Mitglieder und Gäste auf der Teilnehmerliste, darunter ein ergriffener Rainer Maria Rilke, der sich gerade wieder in den Bannkreis von Lou Andreas-Salomé hineinarbeitet. Aber eigentlich geht es nur um zwei der 87 Anwesenden: Es geht um den Machtkampf zwischen Freud und Jung. Und schon nach wenigen Minuten macht ein Bonmot die Runde: »Die Jungs glauben nicht länger an Freud.« Freud war, sehr kurzgefasst, nach Jungs Einschätzung bei der Neurosenbildung und bei der Traumdeutung viel zu obsessiv auf die Sexualität fixiert. Am Ende treten die Zürcher Analytiker um Jung aus der Vereinigung aus, die zunächst in einer Kampfabstimmung Jungs Wiederwahl zum Präsidenten durchgesetzt hatten. Doch das Porzellan war nicht mehr zu kitten. Freud damals über Jung: »Seine schlechten Theorien entschädigen mich eben nicht für seinen unangenehmen Charakter.« Jung über Freud: »Sosehr ich die Kühnheit seines Versuchs bewundere, sowenig stimme ich mit seiner Methode und ihren Resultaten überein.« Der Meister und sein ungelehriger Schüler werden sich nach dem 8. September 1913 nie mehr wiedersehen.
Alle Freiheitssucher und Freiluftfanatiker zieht es magisch nach Ascona, an den Monte Verità, in die erste deutsche Aussteigerkolonie. Erich Mühsam beschrieb, wie nach und nach aus dem Refugium einiger Individual-Ethiker ein ethisches Kollektiv-Etablissement hervorwuchs, »die Heil- und Erholungsanstalt ›Monte Verità‹, für die ich, da man dort mit nichts als rohem Obst und ungekochtem Gemüse gefüttert wurde, den Namen ›Salatorium‹ in Umlauf brachte. Über die Gäste habe ich mich recht missmutig geäußert; ich nannte sie die ›ethischen Wegelagerer mit ihren spiritistischen, theosophischen, okkultistischen oder potenziert vegetarischen Sparren‹.« Die Veganer, die Sex-Gurus, die Tänzer, die FKKler, die Buddhisten, die Hermann Hesses und die Dandys der Schwabinger Bohème, sie alle hatten hier auf diesem 321 Meter hohen Hügel voller Feigenbäume und verfallener Hütten, den der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ida Hofmann und einigen Gleichgesinnten gekauft hatte, gemerkt, dass der Glaube Berge versetzen kann. Denn der Berg hatte eigentlich gar keinen Namen. Sie tauften ihn einfach »Berg der Wahrheit«, keiner widersprach, und die Tessiner Behörden, überwältigt von dem teutonischen Gestaltungswillen, trugen brav »Monte Verità« ins Grundbuch ein.
Karoline Sophie Marie Wiegmann, Nähmaschinenhändlertochter aus Hannover, machte die gleiche Erfahrung: Sie taufte sich um in »Mary Wigman«, und von dem Moment an war sie ein neuer Mensch. In Dresden-Hellerau bei Émile Jaques-Dalcroze hatte sie »Rhythmische Gymnastik« studiert, im Sommer 1913 reist sie nach Ascona, um bei dem großen Tanztheoretiker Rudolf von Laban, der erstmals seine Tanzschule von München hierher verlegt hatte, den Ausdruckstanz ohne Musik zu erlernen. Emil Nolde, der es liebte, Tänzerinnen zu malen, hatte Mary Wigman von Laban erzählt. Und auch wenn der Monte Verità zuvor so vieles andere war: also Außenstelle der Schwabinger Bohème, Experimentierstätte von Drogen und Psychoanalyse, Ort der freien Liebe und Ziel alleinerziehender junger Frauen wie Fanny zu Reventlow, Modell einer besseren Welt mit Menschen, die nur von Luft und Liebe und Gemüse leben – wirklich berühmt wird der Berg erst, als die Menschen dort anfangen, nackt zu tanzen. Und durch all die Fotos, die die nackten Frauen zeigen, hinter denen man die Berge und den Lago Maggiore schimmern sieht. Es war, als sei der Körper befreit – und zwar wieder zu jener Körperlichkeit, die er hatte vor dem Sündenfall. Denn, so Mary Wigman, der Körper sei das Instrument, das die Menschen wieder lernen müssten, neu zu stimmen. Sie reist an, mit dem Zug aus München, landet in Locarno. Geht erst zu Fuß nach Ascona und von dort den Berg hinauf. Hinter dem kleinen Waldstück, beim Damenluftbad, trifft sie die Tänzer. Labans klare Ansage: »Da zieh’n Sie sich da hinterm Busch aus und kommen Sie her.« Und schon ging es los. Sie schrieb in Ascona in ihr Tagebuch: »Frei werden von der Musik! Das müssen sie alle! Erst dann kann sich die Bewegung zu dem entwickeln, was alle von ihr erhoffen: zum freien Tanz, zur reinen Kunst.« Und es gelang ihr. Was Kandinsky auf dem Gebiet der Abstraktion in die Malerei einbringt, was Schönberg in der Musik erreicht, das gelingt Mary Wigman im Reich des Tanzes. Als Oskar Kokoschka sie das erste Mal tanzen sieht, sagt er ergriffen: »Sie setzt Expressionismus in Bewegung um.« Wie also entsteht Avantgarde? Durch Bewegung.
Wie entsteht Avantgarde? Durch Abschottung. František Kupka jedenfalls, neben Malewitsch, Kandinsky und Mondrian die Hauptfigur der Abstraktion um 1913, lebte zwar in Paris, direkt neben Matisse und Picasso, aber er erklärte seinem Freund Arthur Roessler in einem Brief: »Natürlich kenne ich alle Künstler hier in Paris, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich mit ihnen verbinden müsste, ich habe nicht das Gefühl, ihre Ateliers besuchen zu müssen, und sie wollen nicht zu mir. In Wahrheit also führe ich das Leben eines Eremiten.« Oder, um es mit den Worten von Gottfried Benn aus seinem Gedicht »D-Zug« zu sagen: »O! Und dann wieder dieses Bei-Sich-Selbst-Sein«. Beziehungsweise, noch poetischer und mit noch ein paar Jahren Lebenserfahrung mehr: »Nur wer allein ist, ist auch im Geheimnis.«
Man kann das natürlich auch anders sehen. Ein Berliner Vermieter hatte gegen eine junge Schauspielerin geklagt, die ungern allein war und in ihrer Wohnung deshalb häufiger Herrenbesuch empfing. Das fand er nicht sehr geheimnisvoll, sondern unzulässig. Das Berliner Reichsgericht allerdings sieht das anders und fällt am 9. September 1913 ein revolutionäres Urteil: »Das strikte Verbot von Herrenbesuchen ist eine Beschränkung der Persönlichkeit, zu der ein bloßes Mietsverhältnis keinen Anlass bietet. Es muss der einzelnen Person überlassen bleiben, inwiefern sie sich den Gesetzen der Sitte unterwerfen will. Will eine junge Dame Herrenbesuch empfangen und bringt sie nicht gerade durch die Art der Besuche den Charakter des Hauses in Verruf, so kann ihr das Recht darauf in der Wohnung nicht abgesprochen werden.« Und die Begründung des Reichsgerichts wird noch eindeutiger: »Selbst wenn der Herrenbesuch zu unsittlichen Zwecken stattfand, ändert das nichts an der Auffassung des Gerichts. Es geht niemanden etwas an, was hinter verschlossenen Türen vorgeht.« Will sagen: Das Gesetz gilt für alle, die Moral aber für jeden allein. So weit ist die Gesellschaft also schon anno 1913.
Am 9. September versucht sich Virginia Woolf in Sussex mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen.
In diesen Tagen unternimmt der junge Max Ernst, eigentlich schon Maler, aber uneigentlich Student der Kunstgeschichte an der Universität Bonn, mit seinem Professor Paul Clemen eine Exkursion nach Paris. Die jungen Studenten besuchen den großen Rodin in seinem Atelier. Der arbeitet zur Freude von Alma Mahler (nicht mehr Kokoschka noch nicht Gropius und noch nicht Werfel) gerade an einer Büste von Gustav Mahler und erzählt ausführlich von den Unterschieden von Gips, Bronze und Marmor. Max Ernst wird das nie vergessen.
Am 9. September gehen in Buenos Aires Romola de Pulszky und Nijinsky zur Beichte, denn am nächsten Tag wollen die beiden Tänzer der »Ballets Russes« heiraten. Nijinsky redete lange auf einen argentinischen Priester ein, der zwar kein Wort Polnisch oder Russisch versteht, aber ihm trotzdem die Absolution erteilt. Romola jedoch muss dem Priester versprechen, dass sie alles dafür tun wird, ihren künftigen Mann davon abzuhalten, diese unmoralischen Tänze in der »Scheherazade« aufzuführen, von denen der Priester gehört hat. Versprochen! Zur Trauung um ein Uhr Ortszeit im Standesamt von Buenos Aires trägt Romola ein dunkelblaues plissiertes Taftkleid mit einem Strauß rosa Moosrosen an der Taille und einen schwarzen Hut mit geschwungener Krempe und blauem Band. Sie sieht hinreißend aus. Abends die kirchliche Hochzeit, dann die Generalprobe für die »Scheherazade«, natürlich tanzt Nijinsky wieder die unmoralischen Tänze. Danach essen sie vollkommen erschöpft in ihrer Suite im Hotel Majestic zu Abend. Beide sind sehr verlegen und aufgeregt. Bislang haben sie sich nur geküsst. Aber bereits in der Hochzeitsnacht wird Romola schwanger.
Es ist die Entfernung, die manchmal Raum gibt für neue Gedanken und neue Wege, die einen frei fühlen lässt, frei von den Zwängen und den Ritualen des Bekannten. Vier Wochen zuvor war Nijinsky noch mit Djagilew, seinem Entdecker, Förderer und wohl doch auch Lebenspartner, in Würzburg gewesen, um Tiepolos Hochzeitsmalereien anzuschauen. Und nun, nur eine Schiffreise später, war Nijinsky, der zuvor noch nie eine Frau geküsst hatte, plötzlich verheiratet mit einer jungen ungarischen Tänzerin? Nijinsky war vielleicht der größte Tänzer der Geschichte. Der größte Psychologe war er nicht. Er sandte Djagilew ein Telegramm nach Venedig, wo dieser Urlaub machte. An genau diesem 11. September hatte Djagilew gerade Misia Sert, die Pariser Mäzenatin und Salondame, in sein Zimmer bestellt, um ihr eine Partitur vorzuspielen. Es war sehr heiß in Venedig, drückend schwül, und sie kam mit einem Sonnenschirm ins Zimmer. Djagilew vollführte ausgelassen ein paar Tanzschritte im Zimmer und öffnete dazu rhythmisch den Sonnenschirm. Misia Sert, panisch abergläubisch, bat ihn, den Schirm zu schließen, ein geöffneter Schirm in einem Zimmer bringe großes Unglück. Doch es war schon zu spät. Ein Page klopfte an die Tür und brachte Djagilew ein Telegramm, Nijinskys Telegramm. Und Djagilew brach zusammen. Kurz wollte er telegraphisch die Hochzeit in Buenos Aires verbieten, wollte ein letztes Mal seinen Besitzanspruch an diesem russischen Wunderknaben anmelden, der ihm so jäh aus den Armen gerissen wurde, ohne dass es irgendwelche Vorzeichen dafür gab. Doch dann fehlte ihm selbst dazu die Kraft. Djagilew tobte und wütete und weinte und schrie. Alles brach in diesen Minuten in Venedig für ihn zusammen: Nicht nur sein Ego als Liebhaber und Mann, sondern eben auch seine Vision der »Ballets Russes«, alles vorbei, weil ihn eine 23-jährige Tänzerin ausgetrickst und er verfluchterweise diese Schiffreise ausgelassen hatte. Djagilew steht vor den Trümmern seines Lebens: Er, der Pygmalion, der Nijinsky mit seinen dicken Fingern zu der von Rodin gepriesenen Vollkommenheit geformt hatte, fühlte, wie ihm sein Geschöpf entglitt. Misia Sert versuchte ihren untröstlichen Freund zu trösten, Léon Bakst wurde gerufen, Hugo von Hofmannsthal, eigentlich wollten sie die Inszenierung der »Josephslegende« besprechen, doch nun gab es Wichtigeres zu tun. Bakst, der Nijinsky für alle Zeiten zu einer Ikone gemacht hat in seinem Plakat für »Nachmittag eines Fauns«, dieser Bakst wollte von dem verzweifelten Djagilew vor allem eine Frage beantwortet wissen: Ob Nijinsky in Baden-Baden, vor der Abreise zur Südamerikatour, sich neue Unterhosen gekauft habe? Denn dann habe er von Anfang an vorgehabt durchzubrennen, so Baksts Argumentation. Irgendwann platzte Djagilew der Kragen: Man solle ihn bitteschön mit dieser Unterhosengeschichte in Ruhe lassen, er sei in großer Verzweiflung und könne sich nicht mit solchem Unsinn beschäftigen. Auch habe ja ganz offensichtlich die Wahrsagerin recht behalten, die ihm einst prophezeite, eine Schiffreise werde ihn ins Unglück stürzen.
Misia Sert, diese fürsorgliche Dame mit Sinn für Aberglauben und menschliche Untiefen, nahm den Verlassenen, schleppte ihn in den nächsten Zug und fuhr mit ihm nach Neapel. Wer so traurig ist, so realisierte sie rasch, darf nicht in Venedig, der Hauptstadt der Melancholie, seine schwülen Spätsommertage verbringen, der muss ins Leben, ins Chaos, der muss nach Neapel. Und dort sorgte sie dafür, dass Djagilew Tag und Nacht von sehr vielen jungen glutäugigen Burschen abgelenkt wurde, sie hoffte ihn so ein wenig zu kurieren von seiner Demütigung. Es half natürlich nichts, denn die Kränkung ist eine der größten Mächte auf Erden. Sie ist verantwortlich für die größten Schweinereien, die größten Intrigen, die größten Heldentaten, aber auch für die größten Zerwürfnisse.
Am 15. September 1913 schreibt Walter Benjamin, gerade so der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« entwachsen, an seine Freundin Carla Seligson aus der Delbrückstraße 23 in Berlin: »Dies ständige vibrierende Gefühl für die Abstraktheit des reinen Geistes möchte ich Jugend nennen. Dann nämlich (wenn wir uns nicht zum bloßen Arbeiter einer Bewegung machen), wenn wir uns den Blick frei halten, den Geist wo immer zu schauen, werden wir die sein, die ihn verwirklichen. Fast alle vergessen, dass sie selbst der Ort sind, wo Geist sich verwirklicht.« Das ist also die »Berliner Jugend um 1913«.
Am 18. September wird Jack Londons größter Wunsch erhört: Die Frauen beginnen den Kampf gegen den Alkoholismus. Aber bevor sie sich den Männern zuwenden, fangen sie erst einmal bei sich selber an. Noch im Winter war der Versuch der Freifrau Gustl von Blücher auf Spott gestoßen, direkt neben das neue Völkerschlachtdenkmal in Leipzig ein Haus für nüchterne Damen zu stellen.
Doch die Vorsitzende des Deutschen Bundes abstinenter Frauen ließ einfach nicht locker. Ihre Logik ging so: Wenn das Denkmal an die Befreiung der Deutschen von dem äußeren Tyrannen, also Napoleon, erinnern sollte, dann brauche es auch dringend ein Symbol für die Befreiung vom inneren Tyrannen, dem Alkohol. Am 11. März war Baubeginn für das »Königin Luise Haus«, das »Haus abstinenter Frauen« – und schon am 18. September stand das schmucke Gebäude im Leipziger Stadtteil Stötteritz. Es war direkt gegenüber dem Haupteingang zum Südfriedhof gebaut worden, offenbar um den alkoholkranken Damen auch damit noch einmal zu sagen, dass es höchste Eisenbahn sei. Drinnen gab es Wasser und Tee. Draußen nur Kännchen.
Als die Berliner von ihrer Sommerfrische an der See in die Reichshauptstadt zurückkehren, erwartet sie eine Sensation: Am 19. September eröffnet der »1. Deutsche Herbstsalon« auf 1200 Quadratmetern im dritten Stock des neuen Gebäudes Potsdamer Straße 75, Ecke Pallasstraße, in dem das Auktionshaus Rudolf Lepke residiert. Initiiert von Franz Marc und August Macke und organisiert vom »Sturm«-Erzeuger Herwarth Walden als Impresario werden 366 Bilder in 19 Abteilungen gezeigt, Werke russischer, französischer, italienischer, belgischer und deutscher Künstler. Natürlich Macke und Marc und Paul Klee und Kandinsky, aber eben auch die beiden Delaunays aus Paris, Chagall, Piet Mondrian und Max Ernst. Begeistert schreibt Franz Marc an Kandinsky, beim Gehen durch die Ausstellung spüre man, dass die abstrakte Kunst nun wirklich die Vorherrschaft übernommen habe. Es ist eigentlich der Urknall der modernen Malerei in Deutschland. Jedoch kaum einer merkt es. Aber Willi Baumeister spürt es. Der junge Künstler, der selbst stolz war, mit zwei Bildern im Herbstsalon vertreten zu sein, entdeckte am 25. September bei seinem Rundgang durch die Ausstellung plötzlich Franz Marc, der ergriffen vor einem riesigen Bild von Léger stand. »Ein großer, schwarzhaariger, eleganter Mensch«, so erinnert sich Baumeister, »er war vor Erregung geladen.« Es brauchte noch eine Weile, aber dann erfasste diese Welle der Erregung auch den Rest der Welt.
Unsere schöne geheimnisvolle russische Fürstin Eugénie Schakowskoy, die Cousine von Zar Nikolaus II., die am 24. April in Berlin-Johannisthal so spektakulär mit ihrem Geliebten abgestürzt war, scheint sich relativ schnell wieder erholt zu haben von diesem Schock und ist in ihr gewohntes Schema zurückgekehrt: Sie macht die Männer verrückt. Am 21. September jedenfalls, spätabends in Berlin, gibt es ein Diner bei der Familie Stern, da trifft sie auf Gerhart Hauptmann, der das Jahr 1913 der Fürstin Schakowskoy so bilanziert: »Die romantische junge Fürstin Schakowskoy. Fliegerin. Sie steuerte ihren Geliebten Abramowitsch in den Tod. Selber vom schweren Fall schwer erholt hat sie den jungen deutschen Marineoffizier um sich und Eros liegt in der Luft. Hans Schiller heißt der Seemann. Vom Fliegen sagt die Fürstin, es sei ganz unromantisch für den, der fliege.« Gut, dass es dann also wenigstens auf der Erde noch ein bisschen Raum für Romantik gibt. Ihr Neuer, Hans Schiller, hatte allerdings auch schon angefangen, die See gegen die Luft zu tauschen und seine eigene Flugprüfung am 5. Mai bestanden, kaum zehn Tage nach Abramowitschs Tod.
Am 23. September, einem Dienstag, überfliegt Roland Garros als erster Mensch das Mittelmeer. Von Fréjus in Südfrankreich nach Bizerte in Tunesien braucht seine Morane-Saulnier G knapp acht Stunden.
Kafka ist sich bewusst, in welch besonderem Jahr er lebt. Er schickt am 24. September aus Riva am Gardasee, wo er eine Art Urlaub zu machen versucht, eine Postkarte an seine Schwester Ottla und bittet sie, ihm den Prospekt für das Buch »Das Jahr 1913« zu besorgen.
Das Buch »Das Jahr 1913« von Daniel Sarason erscheint. Es beginnt mit der lapidaren Feststellung: »Die Zeit, in der wir leben, ist wohl die anregendste und erregendste, die je dagewesen ist.« Dann schreibt Ernst Troeltsch: »Die Intensität des modernen Lebenskampfes lässt es zu der Ruhe und Stille nicht kommen, die die Voraussetzung für religiöses Leben ist und die erschöpften Sinne suchen andere Erholungsmittel. Es ist die alte Geschichte, die wir alle kennen, die man eine Zeitlang den Fortschritt genannt hat und dann die Dekadenz, und in der man heute gern die Vorbereitung eines neuen Idealismus sieht.« Ganz meine Rede, wird sich Kafka gedacht haben.
Am 26. September kann Rosa Luxemburg keine Pflanzen sammeln. Sie hält eine Rede in der »Liederhalle« in Frankfurt-Bockenheim. Der Saal ist gefüllt. Es ist heiß. Sie appelliert an die Arbeiter, nicht zu den Waffen zu greifen, wenn es zum Krieg kommt. »Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.« Es wird eine Rede mit Folgen. Schon am 30. September leitet der Frankfurter Oberstaatsanwalt gegen Rosa Luxemburg ein Verfahren wegen »Aufwiegelung zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit« ein, weshalb sie wenig später zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird.
Ende September schreibt Auguste Rodin aus Paris an Vita Sackville nach London. Sie hatte den sonderbaren Wunsch, ihn gegen Honorar um eine Porträtbüste des deutschen Kaisers Wilhelm II. zu bitten. Rodin antwortete empört, er würde es natürlich auf alle Zeiten ablehnen, eine Skulptur jenes Mannes zu machen, der der »natürliche Feind Frankreichs« ist.
Sein erstes Patent bekam er für das Abfüllen von Klareis in Flaschen, aber das führte noch zu nichts. Rudolf Diesel wollte etwas Richtiges erfinden, etwas, das die Menschheit weiterbringt. So erfand der den Dieselmotor oder auf Amtsdeutsch das »Patent Nr. 67207 Arbeitsverfahren und Ausführung für Verbrennungskraftmaschinen«. Dieser Motor hieß dann zwar schnell nach ihm, also Diesel, aber weil er als Finanzmann und als Verhandler nicht ganz so genial war wie als Erfinder, luchsten ihm immer wieder große Firmen seine Patente ab, und sein Reichtum zerrann ihm zwischen den Fingern. So auch im Herbst 1913. Am 1. Oktober mussten zahlreiche Kredite bedient werden, doch Diesel wusste nicht wie. Er hatte über 300000 Reichsmark Schulden. Er war weltberühmt, aber pleite. Im Sommer musste er das Familienauto verkaufen. In dieser angespannten Stimmung bestieg er am 29. September in Antwerpen den Postdampfer »Dresden«, um über den Ärmelkanal zu fahren und am nächsten Tag in Harwich mit den Vorständen der »Consolidated Diesel Manufacturing Ltd« zusammenzutreffen und über finanzielle Entlastung zu beraten. Diesel isst im Bordrestaurant und scheint guter Dinge zu sein. Er bittet den Steward, ihn am nächsten Morgen rechtzeitig zu wecken. Und ab diesem Moment verliert sich seine Spur. Als das Dampfschiff am nächsten Morgen in England anlegt, war der berühmte Erfinder nicht mehr an Bord. Nahe der Reling findet man seinen Hut und seinen Überzieher, und in seinem Zimmer fotografieren die Zeitungen die zurückgeschlagene Bettdecke und den noch zusammengefalteten Schlafanzug. Der Koffer steht unausgepackt daneben. Am nächsten Tag war über sein Verschwinden auf der Titelseite der »New York Times« und der Londoner »Times« zu lesen und in allen deutschen Zeitungen natürlich genauso. Rudolf Diesel war einfach weg. Schnell wurde spekuliert, er sei wegen des Kampfes um seine Patente ermordet worden. Auch von Selbstmord war die Rede. Oder war es vielleicht nur ein Unglück? Am 10. Oktober jedenfalls zog die Besatzung des Lotsenbootes »Coertsen« die Pillendose und das Brillenetui von Rudolf Diesel aus dem Wasser des Ärmelkanals. That’s it. Bis heute ist dieser erste Diesel-Skandal der Geschichte ungelöst.
In der Nacht, als Rudolf Diesel starb, feierte in Berlin Walter Rathenau mit einem rauschenden Fest seinen 46. Geburtstag. Alle Anwesenden haben also ein perfektes Alibi.
Die »Münchner Neuesten Nachrichten« melden am 30. September in ihrem »Witterungsbericht« Kopfschmerzwetter: »Föhneinfluss unter einem sich verstärkenden südeuropäischen Hochdruckgebiet«. Das stört unsere feinnervigen wetterfühligen Geister natürlich. Und so schreibt Hugo von Hofmannsthal aus dem Münchner Hotel Marienbad erst an Ottonie von Degenfeld, dass sich »heute morgen der Wind gewendet habe«, und an die große Salondame Elsa Bruckmann nach Starnberg: »Ich war schon gestern im Begriffe, an Ihrem Starnberger Häuschen anzuklopfen, hatte schon den Fahrplan in der Tasche, da zog das abscheuliche Scirocco Wetter wieder herauf und ich ließ es sein.« Da bekommt man schon beim Lesen Kopfschmerzen. Und so zieht Hugo von Hofmannsthal sich lieber wieder zurück in sein Schattenreich und schreibt im Hotel, passend, weiter an seinem sehnsüchtigen Libretto für die »Frau ohne Schatten«. Im gleichen Hotel Marienbad wie Hugo von Hofmannsthal wohnt übrigens Rainer Maria Rilke – er wiederum ließ sich am 18. September nicht vom Föhn abschrecken und reiste mit Frau und Tochter zur Fürstin Bruckmann an den Starnberger See.
Klabund aber singt genau diesem Föhn ein Lied. Im Frühjahr hatte der sonderbare junge Dichter in Alfred Kerrs »Pan« seine ersten Gedichte veröffentlichen können, ein hochsensibler junger Mann, der in Frankfurt/Oder mit Gottfried Benn ins Gymnasium gegangen war, wo sie sich gegenseitig ihre ersten lyrischen Versuche vorlasen. Doch wo sich Benn züchtigt in seinen Versen, da lässt sich Klabund gehen. Nun, im September 1913, also erscheint sein »Föhnlied«: »Der Sturm schweißt uns zu einem Sein / Und mischt uns mit den Wettern. / Im Nächtegraus, im Morgenschein / Wird zwei zu eins und eins zu zwein.« Die Natur, so lehren die Dichter den Menschen anno 1913, ist es, die uns zusammenführt oder zu trennen vermag. Es ist alles eine Frage der Windrichtung.