In Bayern gehen die Uhren natürlich anders. Deshalb stört sich auch keiner daran, dass es mit der Thronbesteigung von Ludwig von Wittelsbach am 5. November 1913 plötzlich für drei Jahre zwei regierende Könige in Bayern gibt. Numero 1, König Otto, war im Grunde bereits geisteskrank auf den Thron gestiegen, im deutsch-französischen Krieg hatte er 1871 noch vernünftig mitgekämpft, aber wenig später wurde er zunächst im südlichen Pavillon von Schloss Nymphenburg unter Kuratel gestellt, dann im Schloss von Fürstenried, nachdem er einen Gottesdienst mit einem offenherzigen Sündenbekenntnis gestört hatte. Er litt unter religiösen Wahnvorstellungen, und seine dunklen Tage verliefen zwischen apathischer Bewegungslosigkeit und stundenlangem Schlagen seines Kopfes gegen die vorsorglich gut gepolsterten Wände, ohne dass ihm die besten Ärzte des Landes anders als mit Eisbädern und Morphiumspritzen helfen konnten. So regierte dann also nach einer unendlichen Prinzregentenzeit ab dem 5. November offiziell Ludwig III. operativ das schöne Bayern, und der Bayerische Landtag beschloss, dass Otto I. als erster regierender König alle königlichen Rechte verlor. Aus Anstand ließ man dem offiziell als »schwermütig« geltenden armen Mann aber seinen Titel und seine Würden. Dieses monarchische Kuddelmuddel gilt als Hauptgrund, warum dann ein paar Jahre später das Königreich Bayern so überraschend schnell in eine Räterepublik verwandelt werden konnte.
Der Beginn der Abstraktion im Zeitraffer: Kandinskys »Komposition VII« am 27. und 28. November 1913, fotografiert von Gabriele Münter.
Am Samstag, dem 8. November gehen Franz Kafka und seine Angebetete Felice Bauer im Tiergarten in Berlin von 10.15 Uhr bis 11.45 Uhr spazieren, es ist neblig und unangenehm, dann muss Felice weiterfahren zu einer Beerdigung. Ihre Beziehung zu Kafka ist da ebenfalls fast klinisch tot.
Wer frei denken will in diesem Jahr, der denkt dabei an Henri Bergson. Der Professor für Philosopie am Collège de France in Paris war sicherlich der einflussreichste Theoretiker der Zeit um 1913. Max Scheler schreibt in der Novemberausgabe der »Weißen Blätter«: »Der Name Bergson durchtönt gegenwärtig in so aufdringlich lauter Weise die Kulturwelt, daß die Eigentümer feinerer Ohren zweifelnd fragen mögen, ob man wohl solchen Philosophen lesen soll. Denn mehr wie je muß heute der Beifall der Bildungs- und Literatenmasse den Weisen erröten machen. Dann mögen sich jene Feinohrigen sagen lassen, daß man Bergson trotzdem lesen soll. Er hat etwas zu sagen.« Bei Misia Sert, der großen Pariser Salondame, bei Marcel Proust, bei Gertrude Stein, da lagen die Einladungen zu seinen Vorträgen am Collège du France neben denen zu den Ausstellungseröffnungen von Picasso, von den Futuristen, von Matisse.
Laut der preußischen »Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen« dürfen Automobile innerhalb geschlossener Ortschaften eine Fahrgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern nicht überschreiten. Das Zeitalter der Beschleunigung begann also 1913 im ersten Gang.
Rainer Maria Rilke, zurück in Paris, geht es nicht so gut. Ach, es geht ihm überhaupt nicht gut. Er dichtet: »Tränen, Tränen, die aus mir brechen. Mein Tod, Mohr, Träger meines Herzens, halte mich schräger, daß sie abfließen.«
Der Agentenfilm »S1« kommt ins Kino. Gertrud, gespielt von Asta Nielsen, wird von ihrem heimlichen Verlobten ausspioniert, er will von ihr die Pläne für ein »neuartiges Aeroplan« für ausländische Agenten bekommen. Gertrud gesteht das ihrem Vater, dem General, der das Luftschiff fliegt. Darauf er: »Niemals werde ich die Hand meiner Tochter einem geheimen Feinde meines Vaterlandes geben.« Nun muss sich die arme Gertrud entscheiden – zwischen der Liebe und dem Vater, der, die Klischees sind gnädig, eben auch für das Vaterland steht. Und natürlich ist sie eine anständige Deutsche – sie entreißt dem Geliebten die entwendeten Luftschiffpläne, laute Geigenmusik, dann das feierliche Schlusswort: »Das Glück des Vaterlandes ist das Glück aller.« Warum auch immer wurde der Film in Berlin für Jugendliche nicht zugelassen, und die Polizei in München verhängte unter den Prüfnummern 11377, 11378 und 11379 gleich dreimal ein Jugendverbot. So wurde der Film am 15. November im unempfindlichen Essen uraufgeführt, in dem Riesenkino »Schauburg«.
Wenn die Gegenwart zu viel verwirrende Gleichzeitigkeit erzeugt, dann muss doch wenigstens die Kunst eine Antwort darauf finden. Kaum jemand kam dabei 1913 so weit wie Sonia Delaunay. Die Pariser Künstlerin hatte im Jahr zuvor mit ihrem Mann Robert den Orphismus begründet, eine Farbtheorie, die die Wirklichkeit in Prismen aufspaltete und neu zusammensetzte, gefeiert von Guillaume Apollinaire und tief verehrt von August Macke und Franz Marc – und von beiden aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Nun wollte sie die prismatisch gesprungene Wirklichkeit auf noch mehr Ebenen erfassen, und so arbeitet sie mit dem Dichter Blaise Cendrars an der verwegenen Idee des »Simultaneismus«. Sprache und Bild sollten sich unauflöslich vermischen und das Ganze nicht nur für einen Augenblick, sondern am besten bis in die Unendlichkeit: Ihr erstes Simultanbuch wurde »La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France«, das in diesem Herbst die Öffentlichkeit erreicht, es war zwei Meter lang und in Form eines Leporellos gestaltet. Rhythmisch wie das Rattern der transsibirischen Eisenbahn gleitet hier das Auge über Text und Bild hinweg, ein wunderbares Gewoge der Farben und Formen, wie eine Fahrt durchs ganze lange wilde 1913. Und Blaise Cendrars dichtet dazu: »Die Fenster meiner Poesie sind weit geöffnet zur Straße und in ihren Scheiben / leuchten die Juwelen des Lichts / Hörst Du das Geigenkonzert der Limousinen und die Hylophone der Druckmaschinen? / Der Maler macht sich sauber im Handtuch des Himmels, Farbflecken überall / Und die Hüte der Frauen, die vorbeigehen, sind Kometen im Feuerschein dieses Abends.«
Umberto Boccioni, Verfasser des Futuristischen Manifestes, schreibt am 25. November erbost, dass nicht Sonia und Robert Delaunay, sondern natürlich die italienischen Futuristen die wahren Erfinder der Simultaneität seien. Und: »Wir sind es gewesen, die als erste erklärt haben, dass das moderne Leben fragmentarisch und schnell ist.« Aber das interessierte da schon kaum einen mehr, das moderne Leben rast einfach zu schnell voran. Der Futurismus, obwohl kaum anderthalb Jahre alt, war bereits Ende 1913 wieder Vergangenheit.
Am 18. November 1913 feiert der neben Thomas Mann und Gerhart Hauptmann berühmteste Schriftsteller Deutschlands seinen 50. Geburtstag: Richard Dehmel. Kaum jemand kennt ihn heute mehr. Und doch kannte ihn 1913 jeder.
Seine Lyrik hält Europa in Atem, sein lebensgieriges, mondänes Bohème-Leben mit seiner schönheitstrunkenen Frau Ida im Jugendstilhaus in Hamburg-Blankenese, Westerstraße 5, ist eine der vielbeschworenen Projektionsflächen der bürgerlichen Sehnsüchte um 1913. Alles ist miteinander verschlungen in diesem Haus, nicht nur die Körper von Ida und Richard Dehmel sind es, sondern eben auch die Tapeten mit den Bilderrahmen und den Tischdecken und den Teppichen und den Bildern von Ludwig von Hofmann. Ein einziges Lianengeflecht des Jugendstils, das hier noch immer neue Äste trieb, ein Gesamtkunstwerk aus Kunsthandwerk, Gedanken und Gedichten. Und alles mit Besteck von Henry van de Velde. Am Abendbrottisch der Dehmels und in ihrem Briefkasten versammelten sich 1913 alle gleichzeitigen Ungleichzeitigkeiten des Jahres: Stefan George kam und ebenso Max Brod aus Prag, Else Lasker-Schüler und Arnold Schönberg, Ernst Ludwig Kirchner und Max Liebermann. Und nach dem Essen wurde immer gefeiert und getrunken und getanzt, als gäbe es kein Morgen. Gustav Schiefler etwa, der Hamburger Kunsthistoriker, schreibt nach einer solchen Nacht in sein Tagebuch: »Dehmel tanzte, daß es an die Brunst eines Tieres gemahnte.« Aber trotz einer wilden Affäre, die die wilde Ehe zwischen Ida und Richard Dehmel ausgerechnet in diesem Jahre 1913 erschütterte, blieben die beiden lebenslang vereint (und noch heute liegt ihrer beider Asche in einer Urne in der Westerstraße 5, von wegen »bis dass der Tod euch scheidet«).
Eine ganz besondere Feier fand also zum runden Geburtstag des Hausherrn am 18. November statt. Und die zentrale Rolle, die Dehmel in der geistigen und gesellschaftlichen Welt dieses Jahres spielte, wird deutlich an dem Kreis derer, die ihm an diesem Tag das Haus schenken, in dem er bislang zur Miete wohnte. Stefan Zweig und Thomas Mann gaben Geld, Arthur Schnitzler, Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal, dann die Berliner Verleger Bruno Cassirer und Samuel Fischer, die Industriellen Eduard Arnhold, Walther Rathenau und Eberhard von Bodenhausen. Albert Ballin und Otto Blohm, die Hamburger Reeder, stehen ebenso auf der Liste der Schenker wie der Bankier Max Warburg und der berühmte Kunsthistoriker Aby Warburg. Und so geht es immer weiter: Henry van de Velde, Peter Behrens, Elisabeth Förster-Nietzsche sind unter den Donatoren, Julius Meier-Graefe und Max Liebermann. Das ganze Who-is-who des Jahres 1913 trug den erforderlichen Kaufpreis von 47194,92 Reichsmark zusammen. Unglaublich. Und hätte er Geld gehabt, wäre sicher auch Arnold Schönberg dabei gewesen. Der nämlich gratulierte Dehmel schriftlich mit den Worten: jede seiner neuen Werkphasen sei durch ein Gedicht Dehmels eingeleitet worden und erst durch ihn habe er den Ton gefunden, »der mein eigner sein sollte«.
Der 18. November wurde, wie es Ida Dehmel beschrieb, »zum erhabensten Feiertag in unserem Leben«. Es kamen viele hundert Glückwunschtelegramme, viele tausend Briefe, um Dehmel zum 50. Geburtstag zu gratulieren, und vor der Tür bildete sich eine lange Schlange von Gratulanten, die aus ganz Deutschland angereist waren. Es erscheint eine Sondernummer der Zeitschrift »Quadriga« – darin die Glückwünsche von Kandinsky, Franz von Stuck, Ferdinand Hodler, Lovis Corinth und Adolf Loos. Es scheint, als habe Dehmels schwärmerische, erdnahe Lyrik um 1913 eine ganz besondere Saite bei den unterschiedlichsten Gemütern zum Klingen gebracht, selbst Benn musste gestehen, dass Dehmel den »frühen Benn« sehr geprägt habe. Am Tisch bei Dehmels saßen Walther Rathenau aus Berlin und Julius Meier-Graefe, man trank Champagner und stieß an auf den Jubilar, immer wieder, bis es abends zu einem feierlichen Festmahl kam, irgendwie fanden sich 50 Stühle in dem eigentlich viel zu kleinen Wohnzimmer. Anschließend wurde auf den Fluren eine Gavotte getanzt, es wurde gesungen und heiß debattiert, ob nun der Jugendstil wirklich zu Ende sei oder eben doch noch lange nicht. Ein Symposium von Schönheit und Geist und gutem Wein. Richard Dehmel brauchte ein wenig, um sich von dem freudigen Schock zu erholen, nicht nur 50 Jahre alt zu sein, sondern vor allem Hauseigentümer: »Ich sitze noch immer recht erschüttert und schmauche zu meiner Beruhigung aus einem geschenkten Meerschaumkopf – dann wieder erhebe ich mich und gehe fast wie auf Zehenspitzen vorsichtig durchs Haus, keine bösen Kobolde zu wecken, denn dies Haus ist ja jetzt mein Eigentum und daran gewöhnt sich ein Wolkenwanderer wie ich es bin nicht von einem Tag auf den anderen!« Im August hatte Dehmel zwar den Montblanc bestiegen und kurz zuvor an seine Frau Ida geschrieben: »Grade in diesem Jahr würde es mir das schönste Geburtstagsgeschenk sein, wenn ich endlich hinaufkäme.« Aber der wahre Gipfel des Jahres kam für den Wolkenwanderer dann eben doch auf Erden, und zwar am 18. November.
Niels Bohr, der bedeutendste Physiker seiner Zeit, geht in Kopenhagen nach der Arbeit im Labor gerne ins Kino. Am 20. November schaut er sich einen Western an. Auch dort versucht er, die Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden: »Ich glaube ja gerne, dass sich ein Mädchen allein auf eine schwierige Wanderung durch die Rocky Mountains begibt. Ich verstehe auch, dass sie ins Stolpern gerät, fast in eine Schlucht stürzt und dass in genau dem Moment ein hübscher Cowboy des Weges kommt und sein Lasso wirft. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass ihre Kraft ausreicht, um sich daran festzuhalten und in die rettende Höhe ziehen zu lassen. Was mir nur extrem unwahrscheinlich erscheint, ist die Tatsache, dass zur selben Zeit, in der dies alles passiert, sich zusätzlich ein Kamerateam am Ort des Geschehens eingefunden hat, das die ganze Aufregung auch noch auf Film festhält.«
Am demselben 20. November geht Franz Kafka in Prag ins Kino. Er notiert nachher im Tagebuch die legendären Worte: »Im Kino gewesen. Geweint.«
Dank des Himmelsforschers Carl Dorno wissen wir, dass »mit dem 21. November eine Periode schöner Morgendämmerungen ohne Purpurlichter beginnt«. Das wird er später in einem Buch mit dem nicht weniger schönen Titel »Beiträge zur Kenntnis der Dämmerungs-Erscheinung und des Alpenglühens. Historisch-chronologische Übersicht der schweizerischen Beobachtungen und Veröffentlichungen über Dämmerungsfärbungen und Alpenglühen« für die Nachwelt bewahren.
Am 25. November beginnt Kandinsky in der schönsten Morgendämmerung in der Ainmillerstraße 36 in München die Arbeit an seinem Hauptwerk »Komposition VII«. Nach dem Abendessen spannt er die riesige, 2 x 3 Meter große Leinwand auf den Keilrahmen auf. Am nächsten Morgen um 11 Uhr macht Gabriele Münter ein erstes Foto: Die gesamte Bildanlage hat Kandinsky mit schnellem Pinsel skizziert, das Boot mit den Rudern unten links und die explodierende Kanone als Abstraktionsknäuel in der Mitte und rechts eine Art Reiter, eher apokalyptisch als blau. Am 27. November morgens um 11 Uhr fotografiert Gabriele Münter den grellen Strahl, den Kandinsky über Nacht als Bildöffner von oben rechts eingebaut hat. Und als sie am nächsten Morgen, dem 28. November, ins Atelier kommt und auf die 2 x 3 Meter große Leinwand blickt, da kann sie in ihrem Tagebuch nur notieren: »Bild fertig«. Drei Tage – und ein Quantensprung für die moderne Kunst. Es ist Kandinskys bedeutendstes Werk seiner Münchner Jahre, die Summe seiner Abstraktion, ein Feuerwerk an Farben und Formen, eine gesprengte Welt voll Dynamik und kühnen Verzahnungen. Man braucht aber eben nur drei Tage für so etwas, wenn man zuvor 30 Jahre auf diese Komposition hingedacht und hingemalt hat.