Oskar Barnack erfindet die erste Kleinbildkamera, die es Privatpersonen ermöglicht, spontan Fotos zu machen. Er arbeitet bei der kleinen Firma Leitz in Wetzlar als Konstruktionsleiter für Mikroskope, doch in seiner Freizeit fotografiert er mit großer Leidenschaft. Abends bastelt er so lange herum, bis er eine leicht tragbare Kamera entwickelt hat, die mit auf kleine Rollen gezogenem Filmmaterial arbeiten kann. Am Schluss baute er noch schnell die Namen »Leitz« und »Camera« zusammen – und fertig war die erste »Leica«.
Der »Monte Verita«, der Berg der Wahrheit, lädt ganzjährig zum Tanz auf dem Vulkan.
Rasputin, der Wanderprediger und Heiler mit dem irren Blick, wurde an den Zarenhof gerufen, als alle Hofärzte mit ihrem Latein am Ende waren. Der Zarewitsch Alexis litt an einer seltenen Blutkrankheit, nach einem Sturz gelang es niemandem, die innere Blutung zu stoppen, bis die Zarin Alexandra in ihrer Verzweiflung nach Rasputin rief. Er kam, betete, hypnotisierte Alexis, und das Blut gefror in dessen Adern. Seit diesem Moment war ihm auch die Zarin verfallen. Sie hielt ihn für Gottes Antwort auf ihre Stoßgebete. Und doch durfte niemand außerhalb der dicken Mauern des Palastes in St. Petersburg überhaupt wissen, dass der Thronfolger, der einzige Sohn, an der Bluterkrankheit litt. Darum waren die ständigen Besuche Rasputins bei der Zarin geheimnisumwittert, zumal ihm bereits seit seinen Wanderungen durch das weite, wüste Land, vor allem aber seit seinen Wanderungen durch die Schlafzimmer der St.Petersburger Paläste, der Ruf eines Sexgurus vorauseilte. Gekleidet in einen schwarzen Kaftan, groß, muskulös und mit stechendem, animalischem Blick, soll er die Damen der Gesellschaft bevorzugt nach dem Gebet oder einer schönen Séance verführt haben. Rasputin versuchte bei seinen Anhängerinnen Gehör für seine These zu finden, dass man zunächst einmal Sünden begehen müsse, bevor sie einem von Gott vergeben werden könnten.
Wie eng sein Verhältnis zur Zarengattin ist, weiß niemand; am Hofe hieß es, sie sei ihm sexuell hörig. Der Präsident der Duma kam zum Zaren, der verbannte Rasputin von seinem Hof. Doch dann stolperte der junge Alexis im Frühjahr 1913 auf einer Reise nach Jalta erneut, und wieder gelang es niemandem, seine Blutungen zu stoppen. Er lag schon fast im Sterben, als die Zarin erneut verzweifelt nach Rasputin rief – er eilte herbei. Und abermals rettete er Alexis durch sein Gebet das Leben.
Dem Zaren, der Duma, dem Geheimdienst, allen ist Rasputin ein Dorn im Auge, es gibt zahllose Mordversuche, die immer wieder scheitern. Im Frühjahr 1913 muss der Innenminister Chwotow seinen Posten daraufhin wegen Unfähigkeit räumen, kurz darauf wird in der russischen »Börsenzeitung« von einem ehemaligen Agenten die Liste aller gescheiterten Attentate minutiös veröffentlicht. Im Grunde war es natürlich dumm, dass die Monarchie Rasputin töten wollte, denn erstens hielt er den Thronfolger am Leben und zweitens hatte er immer geweissagt, dass, wenn er stürbe, auch die dreihundertjährige Dynastie der Romanows an ihr Ende kommen werde (natürlich kam es dann auch so).
Hermann Hesse hält es nach dem verunglückten Silvesterurlaub kaum noch zu Hause aus, er zweifelt immer mehr daran, dass sich bürgerliche Bindungen und Künstlertum verbinden lassen. So wie Gottfried Benn später in Gedichtform fragen wird: »Überhaupt nachdenkenswert: Ehe und Mannesschaffen/Lähmung oder Hochtrieb?« Bei Hesse fühlt es sich nach Lähmung an. Er beschreibt in seinem Roman »Roßhalde« kaum verschleiert seinen eigenen Versuch, in der »Schloßhalde« bei Bern mit seiner Frau Mia doch noch einen Weg des Zusammenlebens zu finden. Aber das Haus, das sie mieten mit seinem herrlich verwilderten Garten, wird nur zum Schauplatz des Scheiterns einer Ehe. Sie bekommen Besuch von Romain Rolland, der berichtet von der angespannten Stimmung, von Hesses sonderbarem Aussehen, dem spärlichen Bartwuchs, den kalten Augen, daneben Mia, seine Frau, die »weder sehr schön noch sehr jung ist«. Beide sind erleichtert, wenn der Tag endlich dämmert. Dann sucht er mit den Kindern draußen im Garten Holz und macht den Kamin an. Und wenn die Söhne schlafen, dann liest ihm Mia Goethe vor. Er schließt die Augen, die ihn immer schmerzen, und er träumt sich fort und muss nicht reden. Er schreibt seinem Vater einen langen Brief: »Die unglückliche Ehe, von der mein Buch ›Roßhalde‹ handelt, beruht gar nicht auf einer falschen Wahl, sondern tiefer auf dem Problem der ›Künstlerehe‹ überhaupt.« Der kluge Kurt Tucholsky spürt beim Lesen des Buches, dass sich etwas Zentrales beim Autor verändert hat: »Das ist nicht unser lieber, guter alter Hesse, das ist jemand anders, er hat die heimatlichen Zelte abgebrochen und geht – wohin?« Am 1. Februar bekommt Hermann Hesse Post aus Czernowitz von Ninon Ausländer, einer jungen Bewunderin, die kurz vor dem Abitur steht und mit der er seit einiger Zeit korrespondiert. Doch das reichte noch nicht als Reifeprüfung. Erst 14 Jahre später werden sie zusammenziehen und heiraten, aber wir wollen nicht vorgreifen. Jetzt muss Hesse erst einmal zum Zahnarzt. Er fährt zu Dr. Schlenker nach Konstanz, um sich neue Plomben machen zu lassen. Wie schlecht es Hesse in diesen Tagen geht, wie er leidet unter der Lautstärke seiner Kinder, unter Nervosität, Schlaf- und Ausweglosigkeit, sieht man allein daran, dass er sogar den mehrtägigen Zahnarztbesuch herbeisehnt: »Ich verspreche mir zwei, drei Tage Ablenkung und Erholung und hoffe, es sei recht viel an meinen Zähnen zu machen.« Dem Manne kann geholfen werden.
Was ist 1913 geblieben von Marcel Duchamps drei Monaten in München im letzten Jahr? Immerhin zwei bedeutende Hinterlassenschaften. Ein schnittiges Porträtfoto, das Heinrich Hoffmann aufgenommen hat und das im Februar dieses Jahres in Apollinaires bedeutendem Buch »Les Peintres cubistes« abgedruckt wird und die erste und endgültige Aufnahme Duchamps in den Olymp der Kunst darstellt (Heinrich Hoffmann wird später auch noch berühmt werden, als Hitlers Hoffotograf, aber das gehört nicht hierher). Die zweite Frucht von Duchamps Münchner Aufenthalt wächst in diesen Tagen offenbar im Bauch von Therese Greß, der Frau seines Vermieters in der Barer Straße 65, zweiter Stock links. Es wird im Sommer 1913, genau neun Monate nach Duchamps Zeit in München, geboren. Ihr Mann, August Greß, war tagsüber außer Haus, als Maschinenkonstrukteur bei der Lokomotivenfabrik Maffei. Duchamp verbrachte also viele Tage in der Wohnung allein neben dem Nähatelier der blendend schönen Therese Greß, das im Wohnzimmer eingerichtet war, wo die Nähmaschine unaufhörlich ratterte. Die Zeichnungen von Duchamp aus seinen Münchner Monaten zeigen auffallend viele Nähmaschinen und Fäden. Und einen Faden also scheint er persönlich aufgenommen zu haben. München, so wird Duchamp später einmal sagen, war für ihn der Ort der totalen Freiheit.
Im S. Fischer Verlag erscheint in den ersten Tagen des Februars Thomas Manns Novelle »Tod in Venedig«, die der Autor eine »Geschichte von der Wollust des Untergangs« nennt. Zwei Straßen neben Thomas Manns Wohnung sitzt in diesen Tagen Oswald Spengler und schreibt jeden Morgen an seinem »Untergang des Abendlandes«. Von Wollust ist da schon keine Rede mehr.
Ernst Ludwig Kirchner findet sie am Potsdamer Platz. Tag für Tag streift er durch die Straßen hier, besonders wenn es zu dämmern beginnt, und er sucht die Blicke der Frauen. Man kann in diesen Tagen kaum mehr unterscheiden zwischen den aufgedonnerten russischen Ladys aus Grunewald, die hier ihre Töchter und ihren Reichtum spazieren führen, und den Schauspielerinnen von den Theatern und Varietés, den jungen adligen Damen in ihrer Garderobe aus Neapel oder Paris und jenen Kokotten, die ihren Körper gegen Geld anbieten. Es braucht den Kennerblick. Ernst Ludwig Kirchner hat ihn. Er wittert Sexualität wie andere ein Parfum. Er hat sie in Dresden gewittert bei den jungen Artistinnen im Zirkus, die selbst noch nichts davon wussten, er hat sie gewittert bei seinen Modellen, wenn er sie einlud in sein Atelier. Und er spürt sie jetzt, unter der dicken Schminke, unter den mondänen Jäckchen, unter den Schirmen. Und er zeichnet sie und malt sie und erkennt im Potsdamer Platz den vibrierenden Umschlagplatz des Geschlechtlichen. Und er zeigt in seinen Bildern, dass eben nicht nur er (und die Männer), sondern auch die anderen, ehrbaren Damen sich angezogen fühlen von diesem Fluidum der getarnten Lust. Das zu zeigen ist vielleicht der wahre Skandal seiner Kunst.
Am 19. Februar morgens um 6 Uhr, es ist noch dunkel, wird die Stille im beschaulichen Walton Hill südlich von London von einer gewaltigen Detonation erschüttert. Im neugebauten Landhaus des englischen Schatzkanzlers David Lloyd George explodiert eine Bombe. Verletzt wurde niemand, aber eine Bewegung hatte sich Gehör verschafft. Denn gelegt wurde die Bombe von Emmeline Pankhurst, einer unerschrockenen englischen Suffragette, wie die Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht genannt werden. Die Justiz hat keine Wahl und steckt sie für drei Jahre ins Gefängnis.
Henri Matisse ist dem Pariser Winter entflohen. So viel Grau kann man einfach nicht aushalten, vor allem wenn man die Farben so abgöttisch liebt wie er. So sitzt Matisse jetzt also in Tanger im Hotel »Villa de France« (so viel Heimatverbundenheit muss sein) und genießt das ungeheure Licht Marokkos, verzückt, berauscht und hingerissen. Das Zimmer 35, das er gebucht hat, hat drei Fenster, eines direkt neben dem Bett. Er stellt seine Staffelei auf und malt, links den Turm der Andreaskirche, das Minarett der Moschee Sidi Bou Abid, das Häusermeer – und hinten das blaue, blaue Meer. »Fenster in Tanger« wird er das Bild nennen. Vom Hafen weht der Geruch von Algen hinauf, von Fisch und von Öl. Er malt die Palmen in den Straßen, die Blätter, die Luft. Die Luft? Ja, natürlich malt Matisse die Luft. Vielleicht kann sogar niemand so gut warme Luft malen wie Matisse, selbst Picasso nicht. Er malt die Zwischenräume und er malt die Luft über den Dächern und über dem Meer. Um ihn herum im fernen Europa, da tobte die Moderne, überall robbten sich die Maler immer weiter an die Abstraktion heran, Kupka, Mondrian, Malewitsch, Hilma af Klint, Kandinsky, sie alle standen kurz vor dem letzten Schritt. Doch Matisse, dieser weise Mann von 45 Jahren, wusste, dass die Abstraktion eben nicht der einzige Weg in diese Moderne ist. Sondern dass es daneben immer auch sonnenbeschienene Pfade aus der Vergangenheit gibt, die genauso in die Zukunft führen. Und genau daran arbeitet Matisse in diesen Tagen in Tanger. Er baut aus großen reinen Farbflächen, aus Blau und Grün vor allem, seine Welt auf der Leinwand zusammen. Menschen im Caféhaus, Palmen, Straßen, die sich in Formen auflösen. Auf seinen Zeichnungen haben die Menschen noch Pfeifen im Mund oder besondere Schuhe an. Auf seinen Bildern wird alles reduzierter und einfacher und klarer. Die wuchernden Blumen, die Akanthusblätter, die reinen Farben, die lernt er hier kennen, an der Spitze Afrikas, und jahrelang wird er sie malen, an den Rändern seiner Briefe und auf die Tapeten seiner Bilder. Und viel später dann, als er nicht mehr laufen kann und nur noch mit dem Stock zeichnet und Scherenschnitte macht, da sind es dann noch einmal diese runden Formen der Blätter, dieses Wachsen und Werden aus jenen Monaten in Marokko, die ihm alte Lebensenergie zurückgeben, die Erinnerung wird dann zu seiner einzigen Lust geworden sein.
Im Februar 1913 prallen der Nordpol und Südpol der Literatur zusammen, Franz Kafka und Else Lasker-Schüler. Eigentlich hat Kafka nie über irgendjemanden ein böses Wort verloren, wenn er es einmal versuchte, wie gegenüber seinem Vater, dann wird daraus ein sehr langer verschlungener Brief, und die ganze Kraft des Widerwillens wird zusammengehalten von den Sicherheitsgurten der Form und der Sprache. Doch als Kafka Else Lasker-Schüler trifft, da gehen mit ihm die Sicherungen durch, zu stark scheint deren rohe sexuelle Energie ihn seine eigenen Verklemmungen spüren zu lassen. Kafka schreibt also am 12. Februar an Felice Bauer, seine Geliebte, die zum Glück so fern ist, dass er sie sich als bloße Briefempfängerin vorstellen kann, ohne gleichzeitig an sie als Lustempfängerin denken zu müssen, an diese Felice Bauer also schreibt er: »Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, nur Leere und Widerwillen angesichts des künstlichen Aufwandes.« Und weiter: »Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer überspannten Großstädterin.« Auf Deutsch also: Ich habe Angst vor ihr. Es ist, als habe Kafka, dieses so notdürftig von einem barmherzigen Gott aus Abertausenden Nervenenden zusammengebastelte Wesen, hier mit großer Panik die Flucht ergriffen, weil er Angst hatte, verschlungen zu werden von deren uferloser Phantasie, deren Ungezügeltheit, deren Weiblichkeit. Einmal, am 24. März, treffen sie in Berlin aufeinander, gemeinsam mit anderen Schriftstellern im Café Josty. Gemeinsam schreiben sie eine Postkarte: nach Leipzig, an Kurt Wolff, ihren gemeinsamen Verleger. »Sehr geehrter Herr Wolff«, schreibt da »Ihr ergebener F. Kafka«. Und direkt daneben auf der Karte: eine Zeichnung von Else Lasker-Schüler und ihre Unterschrift als »Abigail Basileus III«. Schon diese ganzen erfundenen Titel und Namen waren Kafka nicht geheuer. Gehörte das nicht in das Reich der Literatur? Für Else Lasker-Schüler ist dieses Reich der Phantasie aber nicht zu trennen vom Deutschen Reich. Oder dem Himmelreich. Es ist für sie alles dasselbe. Das hilft beim Dichten, stört aber beim Leben. Ihr zweiter Mann, Herwarth Walden, der Galerist und Verleger des »Sturm«, war der Stürme seines Lebens überdrüssig und verließ sie. Sie begann zu trinken, lebte aus Koffern, schreibt, um ihrem kleinen Sohn das Schulgeld für die Odenwaldschule zusammenzuklauben, überall sammeln die Künstlerkollegen Geld für sie, selbst der harte Karl Kraus entdeckt bei ihr seine weichen Seiten (und sein Portemonnaie). Und so fährt also Else Lasker-Schüler zwei Wochen nach dem Treffen mit Kafka in Berlin ausgerechnet nach Prag, um dort vor dem »Klub deutscher Künstlerinnen« zu lesen. Sie hat sich feingemacht: silberne Stiefel und ein seidenes Hemd aus »Caprigrottenseide«. Als der Applaus der Gäste beginnt, weiß sie noch nicht, was sie lesen soll. Sie blättert hinter der Bühne in ihren Gedichtbänden umher, unschlüssig. Dann erhebt sie sich und tritt vor den Vorhang. »Wie ein trotziger Knabe steht sie da, mit dem merkwürdig interessanten Gesicht, das einer russischen Nihilistin gehören kann«, schreibt Maria Holzer darüber in Pfemferts Berliner Zeitschrift »Die Aktion«. Dann beginnt sie ihre Gedichte zu lesen, wie Zaubergebete eines orientalischen Propheten. Die Menschen starren sie an, in einer Mischung aus Demut und Bewunderung, alle lauschen atemlos, Studenten, Literaten, Künstler, Egon Erwin Kisch etwa und Max Brod, Kafkas engster Vertrauter. Nur Kafka fehlt. Seine Angst war zu groß. Else Lasker-Schüler reist zurück nach Berlin, rastlos, irrend, von fernen Reichen träumend, wie sie nach der Lesung in Prag an Franz Marc schreibt und an Karl Kraus. Sie sucht einen Mann, der ihr gewachsen ist. Dem wahllos zuckenden Hirn einer überspannten Großstädterin. Und ihren riesigen Bergen aus Sehnsucht und Verzweiflung und Verlangen. Sie wird Gottfried Benn finden. Sein Hunger war groß genug.
Wie nur soll man auf der schnöden Erde weiterleben, wenn man gerade in den Olymp aufgenommen wurde? Am besten man zieht vorübergehend an einen der wenigen Orte hienieden, um den einen sogar die Götter beneiden würden. Und so begibt sich Gerhart Hauptmann mit frischer Nobelpreismedaille, mittelalter Ehefrau und 16 gefüllten Koffern für den Winter in die Villa Carnarvon in Portofino. Unten schlagen die Wellen gegen die Felsen, aus dem Arbeitszimmer, wenn er morgens die grünen Fensterläden aufgestoßen hat, blickt er hinauf aufs unendliche Meer. Über ihm die Kronen der alten Pinien, unter ihm im riesigen Park die Agaven und Palmen, auf den Kieswegen hört man nur das meditative Rechen der Gärtner, sonst nichts. Er zieht seine Franziskanerkutte an, die er letztes Jahr gekauft hat, lockert den Gürtel etwas über dem immer fülliger werdenden Bauch und beginnt zu meditieren. Ommmmmmmh. Der Wind wirbelt ihm durch die grauen Haare, er genießt es, wie im Meeresrauschen die Pausen zwischen den einzelnen Gedanken immer länger werden. Später, nach einem Bad und einem ausgiebigen Gabelfrühstück, setzt er sich an seinen Schreibtisch.
Und abends kocht Maria Pasta mit Pilzen und Wildschweinbraten an Maronen, selbst beim Meditieren morgens packen ihn manchmal die Gedanken ans Abendessen, er kann es nicht ändern. Spätabends, nach drei üppigen Gängen und einem Grappa, schreibt Hauptmann dann in sein Tagebuch, sichtlich ergriffen von sich selbst: »Wir ziehen uns aus dem, was sie aus uns machen wollen, auf das zurück, was wir sind. Sie können eine Puppe erheben und fallen lassen, mich nicht.« Da er nun weiß, was er ist, will er auch gleich den Deutschen zeigen, was sie sind. Und er glaubt, dass er das am besten in Form eines Puppentheaters machen sollte. Er schreibt für die Hundertjahrfeier der Befreiungskriege, die am 31. Mai in Breslau stattfinden soll, ein »deutsches Urdrama«, ein »Festspiel in deutschen Reimen«. Mit Blick auf die Schaumkronen des Mittelmeeres taucht er ein in die Untiefen der deutschen Geschichte. Er erfindet eine Puppe für Napoleon. Eine für Kleist. Und ein paar deutsche Klageweiberpuppen gibt es natürlich auch. Der Text besteht aus Knittelversen. Am 12. Februar hat er sein »Festspiel« beendet und sendet es mit stolzerfüllter Brust nach Breslau. Am nächsten Tag lässt er es sich unten im Salon von seiner Frau Grete dreimal hintereinander vorlesen. Er sitzt im breiten, grünen Sessel, trinkt ein Glas kühlen Weißwein, genießt und schweigt. Und wie nennt man diesen Zustand der bräsigen Selbstzufriedenheit, wenn man gerade Nobelpreisträger geworden ist? Gerhart Hauptmann beschreibt ihn abends im Tagebuch als, Achtung: »Passive Produktivität«. Von Nobelpreisträgern kann man wirklich etwas lernen.
Die bevorstehende Hundertjahrfeier setzt auch andernorts produktive Kräfte frei, so bei Freifrau Gustl von Blücher in Dresden. Wie sie ausgerechnet an jenem Ort, an dem August der Starke die »Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit« gründete, auf die fixe Idee verfiel, direkt neben dem geplanten Völkerschlachtdenkmal in Leipzig ein »Heim für abstinente Frauen« zu gründen, bleibt rätselhaft. Aber sie verfolgte das Ziel mit großer Nüchternheit. Sie schrieb die Oberhofmeister aller gekrönten Häupter deutscher Sprache des Jahres 1913 an (und das waren eine Menge) und bat sie um Spenden für den Bau dieses Müttergenesungsheimes. Aus Preußen kam Zustimmung: Ihre Majestät, die Kaiserin und Königin, teilte aus Berlin mit, dass sie 300 Mark beisteuern wolle. Doch aus Württemberg kam Skepsis: »So sehr nun Ihre Majestät die guten Absichten der Idee anerkennen«, heißt es im Schreiben vom 12. Februar, »so vermögen Allerhöchstselbe doch mit dem Gedanken des vorliegenden Planes und seiner Ausführung nicht befreunden.« Denn: »Der Anschauung ihrer Majestät widerspricht es, den gegebenen patriotischen Anlaß und das geplante Unternehmen eines Heimes für abstinente Frauen in einen einleuchtenden Zusammenhang zu bringen.« Das nennt man Diplomatie. Auf gut Deutsch hieß es: Verehrte Freifrau von Blücher, das ist eine Schnapsidee.
Und jetzt kommt eine der unglaublichsten Geschichten dieses unglaublichen Jahres: Am 13. Februar nämlich lässt sich der Clown, Feuerschlucker, Hochseilartist und Hallodri Otto Witte aus Berlin-Pankow, Wollankstraße 54, in Albanien zum König krönen (so die bislang unwiderlegte Behauptung des Clowns, Feuerschluckers, Hochseilartisten und Hallodris Otto Witte). Aber der Reihe nach. Der gute Otto Normalverbraucher hatte sich in den herrlich unübersichtlichen Wirren des Balkankrieges unter dem Namen Josef Joppe als Offizier und Geheimagent in der türkischen Armee einen Namen gemacht. Sodann fingierte er zwei Telegramme, mit denen er die baldige Ankunft des Prinzen Halim Eddin in Tirana ankündigte, des Neffen des letzten Sultans, und er lieh sich eine bombastische orientalische Phantasieuniform in einem Kostümladen in Wien (»There is a Kingdom, there is a king«, wie Nick Cave singen würde). Otto Witte also hatte kühne schwarze Haare und einen stolzen Schnäuzer von türkischen Ausmaßen und sah so dem guten Halim Eddin ausreichend ähnlich. Prachtvoll kostümiert und frisiert reiste er sodann zum obersten Befehlshaber der Türken in Albanien, General Essad Pascha. Seine genauen Kenntnisse der serbischen Aufmarschpläne, die er sich als türkischer Spion verschafft hatte, machten großen Eindruck. Er nahm eine Parade ab und erteilte in schnittiger Sprache klare Anweisungen. Das machte auf dem Balkan großen Eindruck. Die Soldaten schlossen sich ihm freimütig an, und die Generäle hegten den Plan, den vermeintlichen Prinzen Halim Eddin, also unseren guten Otto Witte, schnellstens zum albanischen König zu erklären, bevor die Westmächte den Thron unter sich ausmachen konnten. Also rief Essad Pascha im Morgengrauen des 13. Februar Otto Witte zum »König von Albanien« aus, man hatte ein paar Albaner hinzugebeten, die ergeben jubelten und ihre bunten Tücher schwenkten, die Militärkapelle spielte einen Marsch. Unverzüglich reiste der frischgekrönte König nach Tirana, wo der Palast für ihn vorbereitet wurde, wegen der Eile war zwar noch keine Bürokratie vorhanden, wohl aber gelang es den Albanern, dem König über Nacht einen Harem mit elf bildschönen Frauen zur Verfügung zu stellen. Und da »1913« in Wahrheit natürlich ein Buch über die Liebe ist, genoss Otto Witte aus Berlin-Pankow immerhin vier von tausendundeiner Nächten in vollen Zügen. Im Morgengrauen des fünften Tages jedoch ging in Tirana ein Telegramm aus Konstantinopel ein, in dem sich der wahre Prinz Halim Eddin meldete und wutschnaubend erklärte, dass ein Betrüger unter seinem Namen König spiele. Er werde noch am selben Tage anreisen und den Hochstapler vom Thron stoßen. Noch in der Morgendämmerung des 19. Februar flüchtete König Otto Witte also aus seinem Harem und seinem Palast, warf, ohne die Leihgebühren zu bezahlen, seine Phantasieuniform in einen Bach und stahl einem Bauern einen einfachen Kittel. So erreichte er nach fünftägiger Regentschaft auf schnellstem Wege die Küste seines Königreiches. In Durazzo flüchtete er auf ein österreichisches Schiff, das ihn in Sicherheit bringen sollte. Sollte. Denn in Österreich hielt man ihn aufgrund seiner Erzählungen für geisteskrank und steckte ihn in die Psychiatrie. Doch dann erschienen Zeitungen, die Otto Witte beim Einzug in Tirana zeigten, und der Patient wurde unverzüglich als geheilt entlassen. In seinen deutschen Pass ließ er sich eintragen: »Ehemaliger König von Albanien«. Ordnung muss sein. 1925 kandidierte er nach dem Tod von Friedrich Ebert für das Amt des deutschen Reichspräsidenten, aber diesmal klappte es nicht.
Der Dichter Fernando Pessoa wird Anfang Februar in Lissabon auf seinem Heimweg an einem frühen Abend von einem plötzlichen Gewitter überrascht. Er rennt durch die Dunkelheit zu seiner Wohnung in der Rua de Passos Manuel 24, 3. Stock links, und im Laufen bilden sich in ihm die Verse für sein Poem »Abdankung«. Er zieht die nassen Kleider aus, setzt sich an seinen Schreibtisch und schreibt: »Ich hinterließ im kalten Treppenhaus die Sporen, deren Klirren mich betrog, mein Panzerhemd, das ohne Wert. Ich zog mein Königreich, den Leib, die Seele aus, und kehrte heim zur alten, stillen Nacht wie eine Landschaft, wenn der Tag vollbracht.« Wie eine Landschaft, wenn der Tag vollbracht… Was für ein Vers.
Richard Dehmel, der bekannteste deutsche Dichter der Zeit um 1913, verehrt von Thomas Mann wie von Hermann Hesse und Arnold Schönberg usw., veröffentlicht neue Verse unter dem Titel »Schöne wilde Welt«. Das ist die perfekte Überschrift für das Jahr 1913. Aber zu ihm und seiner schönen Frau Ida kommen wir noch. Muss ich unbedingt noch erzählen!
Wir schalten jetzt erst einmal kurz nach Wien, in eines der Epizentren der schönen wilden Welt. Am Samstagabend, dem 15. Februar, hat das Kolleg bei Dr. Sigmund Freud in der Berggasse 19 im 9. Wiener Bezirk die Themen »Bisexualität/Neurose und Sexualität/Traumdeutung«, also das volle Programm. In der Woche ordinierte Freud morgens von 8 bis 9 und von 17 bis 19 Uhr, Mittwochabends und Samstagsabends versammelt er aber in seinen Kollegs seine Getreuen um sich, um psychologische Tiefenforschung zu betreiben. Seit Ende 1912 war eine besondere Frau zu Gast in der illustren Männerrunde der größten Therapeuten und Theoretiker Wiens, nämlich Lou Andreas-Salomé. Die trug an ihrem Gürtel zwei bemerkenswerte Skalps: den von Nietzsche und den von Rilke. Beide waren einst ihrer funkelnden Intelligenz, ihrer schillernden Unabhängigkeit und ihrem abgrundtiefen Eigensinn verfallen. Und nun stand der große Freud kurz davor, hinterherzustürzen. Sie sagt also zum Beispiel am 15. Februar so besondere Dinge wie diese: »Deshalb kann sowohl Asket als auch lasterhaft im Grunde nur der Mann sein, das Weib (dessen Geist Geschlecht und dessen Geschlecht Geist ist), wird dazu nur in dem Maße imstande sein als es sich entweibt.« Freud sagte ihr, sie sei die »Dichterin der Psychoanalyse«, er selbst könne nur Prosa. Am 15. Februar also geht Lou Andreas-Salomé nachmittags zunächst zur Generalprobe von Frank Wedekinds neuem Stück »Die Büchse der Pandora«, Arthur Schnitzler sitzt neben ihr, abends dann zieht sie weiter zu Freud ins Kolleg. Abends notiert Andreas-Salomé begeistert in ihr Tagebuch: »Sehr sympathisch sprach Freud über die Bereicherung, die im Bisexuellen liegen könne.« Schau an.
Im Februar gründet Magnus Hirschfeld in Berlin die »Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik«. Als Gutachter gelang es Magnus Hirschfeld, die Berliner Kriminalpolizei davon zu überzeugen, dass Homosexualität kein »erworbenes Laster«, sondern »unausrottbar« sei. Um das zu untermauern, veröffentlichte Hirschfeld in seinen streng wissenschaftlichen »Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen« (!) jedes Jahr tausende Seiten von Statistiken, um zu beweisen, dass es im großen deutschen Reiche nicht nur »Vollweiber« und »Vollmänner« gebe, sondern dass der Phantasie in diesem Zwischenreich der Bisexualität keine Grenzen gesetzt seien.
Am 17. Februar eröffnet in New York die »Armory Show« in der Halle des 69. Regiments der Nationalgarde. Es ist der Moment, in dem die moderne Kunst wie eine massive Flutwelle Amerika erreicht. Der junge Fotograf Man Ray wird Ende des Jahres sagen: »Ich habe sechs Monate nichts getan – so lange habe ich gebraucht, um zu verdauen, was ich gesehen habe.« Alfred Stieglitz, der große Fotograf, Herausgeber der Zeitschrift »Camera Work« und Betreiber der Avantgardegalerie 291, war da etwas reaktionsschneller. Er sah, verdaute und kaufte noch am Eröffnungsabend für 1260 Dollar von Wassili Kandinsky das abstrakte Gemälde »Improvisation 27«.
F. Scott Fitzgerald bekommt keinen Studienplatz in Harvard (er muss nach Princeton). Aber T.S.Eliot darf ab Sommer 1913 in Harvard studieren.