Der »Monte Verita«, der Berg der Wahrheit, lädt ganzjährig zum Tanz auf dem Vulkan.

Rasputin, der Wanderprediger und Heiler mit dem irren Blick, wurde an den Zarenhof gerufen, als alle Hofärzte mit ihrem Latein am Ende waren. Der Zarewitsch Alexis litt an einer seltenen Blutkrankheit, nach einem Sturz gelang es niemandem, die innere Blutung zu stoppen, bis die Zarin Alexandra in ihrer Verzweiflung nach Rasputin rief. Er kam, betete, hypnotisierte Alexis, und das Blut gefror in dessen Adern. Seit diesem Moment war ihm auch die Zarin verfallen. Sie hielt ihn für Gottes Antwort auf ihre Stoßgebete. Und doch durfte niemand außerhalb der

Wie eng sein Verhältnis zur Zarengattin ist, weiß niemand; am Hofe hieß es, sie sei ihm sexuell hörig. Der Präsident der Duma kam zum Zaren, der verbannte Rasputin von seinem Hof. Doch dann stolperte der junge Alexis im Frühjahr 1913 auf einer Reise nach Jalta erneut, und wieder gelang es niemandem, seine Blutungen zu stoppen. Er lag schon fast im Sterben, als die Zarin erneut verzweifelt nach Rasputin rief – er eilte herbei. Und abermals rettete er Alexis durch sein Gebet das Leben.

Dem Zaren, der Duma, dem Geheimdienst, allen ist Rasputin ein Dorn im Auge, es gibt zahllose Mordversuche, die immer wieder scheitern. Im Frühjahr 1913 muss der Innenminister Chwotow seinen Posten daraufhin wegen Unfähigkeit räumen, kurz darauf wird in der russischen »Börsenzeitung« von einem

Hermann Hesse hält es nach dem verunglückten Silvesterurlaub kaum noch zu Hause aus, er zweifelt immer mehr daran, dass sich bürgerliche Bindungen und Künstlertum verbinden lassen. So wie Gottfried Benn später in Gedichtform fragen wird: »Überhaupt nachdenkenswert: Ehe und Mannesschaffen/Lähmung oder Hochtrieb?« Bei Hesse fühlt es sich nach Lähmung an. Er beschreibt in seinem Roman »Roßhalde« kaum verschleiert seinen eigenen Versuch, in der »Schloßhalde« bei Bern mit seiner Frau Mia doch noch einen Weg des Zusammenlebens zu finden. Aber das Haus, das sie mieten mit seinem herrlich verwilderten Garten, wird nur zum Schauplatz des Scheiterns einer Ehe. Sie bekommen Besuch von Romain Rolland, der berichtet von der angespannten Stimmung, von Hesses sonderbarem Aussehen, dem spärlichen Bartwuchs, den kalten Augen, daneben Mia, seine Frau, die »weder sehr schön noch sehr jung ist«. Beide sind erleichtert, wenn der Tag endlich dämmert. Dann sucht er mit den Kindern draußen im Garten Holz und macht den Kamin an.

Im S. Fischer Verlag erscheint in den ersten Tagen des Februars Thomas Manns Novelle »Tod in

Ernst Ludwig Kirchner findet sie am Potsdamer Platz. Tag für Tag streift er durch die Straßen hier, besonders wenn es zu dämmern beginnt, und er sucht die Blicke der Frauen. Man kann in diesen Tagen kaum mehr unterscheiden zwischen den aufgedonnerten russischen Ladys aus Grunewald, die hier ihre Töchter und ihren Reichtum spazieren führen, und den Schauspielerinnen von den Theatern und Varietés, den jungen adligen Damen in ihrer Garderobe aus Neapel oder Paris und jenen Kokotten, die ihren Körper gegen Geld anbieten. Es braucht den Kennerblick. Ernst Ludwig Kirchner hat ihn. Er wittert Sexualität wie andere ein Parfum. Er hat sie in Dresden gewittert bei den jungen Artistinnen im Zirkus, die selbst noch nichts davon wussten, er hat sie gewittert bei seinen Modellen, wenn er sie einlud in sein Atelier. Und er spürt sie jetzt, unter der dicken Schminke, unter den mondänen Jäckchen, unter den Schirmen. Und er zeichnet sie und malt sie und erkennt im Potsdamer Platz den vibrierenden Umschlagplatz des Geschlechtlichen. Und er zeigt in seinen Bildern, dass eben nicht nur er (und die Männer), sondern auch die anderen, ehrbaren Damen sich

Am 19. Februar morgens um 6 Uhr, es ist noch dunkel, wird die Stille im beschaulichen Walton Hill südlich von London von einer gewaltigen Detonation erschüttert. Im neugebauten Landhaus des englischen Schatzkanzlers David Lloyd George explodiert eine Bombe. Verletzt wurde niemand, aber eine Bewegung hatte sich Gehör verschafft. Denn gelegt wurde die Bombe von Emmeline Pankhurst, einer unerschrockenen englischen Suffragette, wie die Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht genannt werden. Die Justiz hat keine Wahl und steckt sie für drei Jahre ins Gefängnis.

Henri Matisse ist dem Pariser Winter entflohen. So viel Grau kann man einfach nicht aushalten, vor allem wenn man die Farben so abgöttisch liebt wie er. So sitzt Matisse jetzt also in Tanger im Hotel »Villa de France« (so viel Heimatverbundenheit muss sein) und genießt das ungeheure Licht Marokkos, verzückt, berauscht und hingerissen. Das Zimmer 35, das er gebucht hat, hat drei Fenster, eines direkt neben dem Bett. Er stellt seine Staffelei auf und malt, links den Turm der Andreaskirche, das Minarett der Moschee Sidi Bou Abid, das Häusermeer – und hinten das blaue,

Im Februar 1913 prallen der Nordpol und Südpol der Literatur zusammen, Franz Kafka und Else Lasker-Schüler. Eigentlich hat Kafka nie über irgendjemanden ein böses Wort verloren, wenn er es einmal versuchte, wie gegenüber seinem Vater, dann wird daraus ein sehr langer verschlungener Brief, und die ganze Kraft des Widerwillens wird zusammengehalten von den Sicherheitsgurten der Form und der Sprache. Doch als Kafka Else Lasker-Schüler trifft, da gehen mit ihm die Sicherungen durch, zu stark scheint deren rohe sexuelle Energie ihn seine eigenen Verklemmungen spüren zu lassen. Kafka schreibt also am 12. Februar an Felice Bauer, seine Geliebte, die zum Glück so fern ist, dass er sie sich als bloße Briefempfängerin vorstellen kann, ohne gleichzeitig an sie als Lustempfängerin denken zu müssen, an diese Felice Bauer also schreibt er: »Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, nur Leere und Widerwillen angesichts des künstlichen Aufwandes.« Und weiter: »Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer überspannten Großstädterin.« Auf Deutsch also: Ich habe Angst vor ihr. Es ist, als habe Kafka, dieses so notdürftig von einem barmherzigen Gott aus Abertausenden Nervenenden zusammengebastelte Wesen, hier mit

Wie nur soll man auf der schnöden Erde weiterleben, wenn man gerade in den Olymp aufgenommen wurde? Am besten man zieht vorübergehend an einen der wenigen Orte hienieden, um den einen sogar die Götter beneiden würden. Und so begibt sich Gerhart Hauptmann mit frischer Nobelpreismedaille, mittelalter Ehefrau und 16 gefüllten Koffern für den Winter in die Villa Carnarvon in Portofino. Unten schlagen die

Und abends kocht Maria Pasta mit Pilzen und Wildschweinbraten an Maronen, selbst beim Meditieren morgens packen ihn manchmal die Gedanken ans Abendessen, er kann es nicht ändern. Spätabends, nach drei üppigen Gängen und einem Grappa, schreibt Hauptmann dann in sein Tagebuch, sichtlich ergriffen von sich selbst: »Wir ziehen uns aus dem, was sie aus uns machen wollen, auf das zurück, was wir sind. Sie können eine Puppe erheben und fallen lassen, mich nicht.« Da er nun weiß, was er ist, will er auch gleich den Deutschen zeigen, was sie sind. Und er glaubt, dass er das am besten in Form eines Puppentheaters machen sollte. Er schreibt für die Hundertjahrfeier der Befreiungskriege, die am 31. Mai in Breslau stattfinden soll, ein »deutsches Urdrama«, ein »Festspiel in deutschen Reimen«. Mit Blick auf die Schaumkronen des Mittelmeeres taucht er ein in die

Die bevorstehende Hundertjahrfeier setzt auch andernorts produktive Kräfte frei, so bei Freifrau Gustl von Blücher in Dresden. Wie sie ausgerechnet an jenem Ort, an dem August der Starke die »Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit« gründete, auf die fixe Idee verfiel, direkt neben dem geplanten Völkerschlachtdenkmal in Leipzig ein »Heim für abstinente Frauen« zu gründen, bleibt rätselhaft. Aber sie verfolgte das Ziel mit großer Nüchternheit. Sie schrieb die Oberhofmeister aller gekrönten Häupter deutscher Sprache des Jahres 1913 an (und das waren eine Menge) und bat sie um Spenden für den Bau dieses Müttergenesungsheimes. Aus Preußen kam Zustimmung: Ihre Majestät, die Kaiserin und Königin,

Und jetzt kommt eine der unglaublichsten Geschichten dieses unglaublichen Jahres: Am 13. Februar nämlich lässt sich der Clown, Feuerschlucker, Hochseilartist und Hallodri Otto Witte aus Berlin-Pankow, Wollankstraße 54, in Albanien zum König krönen (so die bislang unwiderlegte Behauptung des Clowns, Feuerschluckers, Hochseilartisten und Hallodris Otto Witte). Aber der Reihe nach. Der gute Otto Normalverbraucher hatte sich in den herrlich unübersichtlichen Wirren des Balkankrieges unter dem Namen Josef Joppe als Offizier und Geheimagent in der türkischen Armee einen Namen gemacht. Sodann fingierte er zwei Telegramme, mit denen er die baldige Ankunft des Prinzen Halim Eddin in Tirana ankündigte, des Neffen des letzten Sultans, und er lieh sich eine bombastische orientalische Phantasieuniform

Der Dichter Fernando Pessoa wird Anfang Februar in Lissabon auf seinem Heimweg an einem frühen Abend von einem plötzlichen Gewitter überrascht. Er rennt durch die Dunkelheit zu seiner Wohnung in der Rua de Passos Manuel 24, 3. Stock links, und im Laufen bilden sich in ihm die Verse für sein Poem

Richard Dehmel, der bekannteste deutsche Dichter der Zeit um 1913, verehrt von Thomas Mann wie von Hermann Hesse und Arnold Schönberg usw., veröffentlicht neue Verse unter dem Titel »Schöne wilde Welt«. Das ist die perfekte Überschrift für das Jahr 1913. Aber zu ihm und seiner schönen Frau Ida kommen wir noch. Muss ich unbedingt noch erzählen!

Wir schalten jetzt erst einmal kurz nach Wien, in eines der Epizentren der schönen wilden Welt. Am Samstagabend, dem 15. Februar, hat das Kolleg bei Dr. Sigmund Freud in der Berggasse 19 im 9. Wiener Bezirk die Themen »Bisexualität/Neurose und Sexualität/Traumdeutung«, also das volle Programm. In der Woche ordinierte Freud morgens von 8 bis 9 und von 17 bis 19 Uhr, Mittwochabends und Samstagsabends versammelt er aber in seinen Kollegs seine Getreuen um sich, um psychologische Tiefenforschung zu betreiben. Seit Ende 1912 war eine besondere Frau

Im Februar gründet Magnus Hirschfeld in Berlin die »Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik«. Als Gutachter gelang es Magnus Hirschfeld, die Berliner Kriminalpolizei davon zu überzeugen, dass Homosexualität kein »erworbenes Laster«, sondern »unausrottbar« sei. Um das zu untermauern,

Am 17. Februar eröffnet in New York die »Armory Show« in der Halle des 69. Regiments der Nationalgarde. Es ist der Moment, in dem die moderne Kunst wie eine massive Flutwelle Amerika erreicht. Der junge Fotograf Man Ray wird Ende des Jahres sagen: »Ich habe sechs Monate nichts getan – so lange habe ich gebraucht, um zu verdauen, was ich gesehen habe.« Alfred Stieglitz, der große Fotograf, Herausgeber der Zeitschrift »Camera Work« und Betreiber der Avantgardegalerie 291, war da etwas reaktionsschneller. Er sah, verdaute und kaufte noch am Eröffnungsabend für 1260 Dollar von Wassili Kandinsky das abstrakte Gemälde »Improvisation 27«.

F. Scott Fitzgerald bekommt keinen Studienplatz in Harvard (er muss nach Princeton). Aber T.S.Eliot darf ab Sommer 1913 in Harvard studieren.