Am 5. März reist Herwarth Walden, ein energischer Strippenzieher mit hoher Stirn und tiefer Stimme, der seine Widerstandsfähigkeit ausreichend bewiesen hatte als Verleger der notorisch klammen Zeitschrift »Der Sturm« und als Ehemann von Else Lasker-Schüler, mit dem Zug von Berlin nach München. Am Bahnsteig erwarten ihn Wassily Kandinsky und dessen Partnerin, die Malerin Gabriele Münter, sowie Franz Marc und dessen Frau, die aus dem nahen Sindelsdorf in die Stadt gekommen sind. Walden, einer der großen Impresarios der Moderne, zeigt in seinen kleinen Räumen in Berlin die Futuristen aus Italien, den Blauen Reiter, die Modernisten aus Paris und aus Wien. Er hat ein untrügliches Gespür für das Neue. Und dafür, wie man es inszeniert. Er ist nach München gekommen, um gemeinsam mit den »Blauen Reitern« Marc und Macke einen Plan für eine große Ausstellung im Herbst zu entwerfen, den »Ersten Deutschen Herbstsalon«. Die Schau soll ein Fanal für die Moderne werden, so wie es die Armory Show für New York gewesen ist. Schon zwei Wochen später schreibt August Macke, das Bonner Mitglied der Gruppe Blauer Reiter, an Walden, dass er seinen großzügigen Onkel Bernhard Koehler, einen wichtigen Sammler der Moderne, dazu überreden konnte, die Ausstellung mit 4000 Mark zu garantieren. Und weiter: »Vielleicht sprechen Sie sofort mit Apollinaire und Delaunay über die Vertretung der Pariser Kunst. Ich denke, es ist vor allen Dingen wichtig, mit Matisse und Picasso zu verhandeln. Keiner, der in diesem Herbstsalon ausstellt, darf bei Cassirer ausstellen. Das Wichtigste ist, daß wir sofort alle Hauptkräfte auf unserer Seite haben. Sie werden das schon machen.« Und Herwarth Walden macht es. Er holt alle auf seine Seite. Und Cassirer, sein großer Berliner Konkurrent, wird im Herbst 1913 erstmals alt aussehen. Aber jetzt ist erst einmal Frühling.
Waslaw Nijinsky verzaubert in »Nachmittag eines Fauns« das gesamte Abendland.
Na ja, Frühling. Wie man es halt nennt. Oben, im ewigen Eis von Grönland, sitzt derweil Mitte März Alfred Wegener bei Außentemperaturen von minus 30 Grad in dem Winterlager seiner Polarexpedition und schreibt. Der Privatdozent für Physik, Meteorologie und Astronomie aus Marburg war verlacht worden, als er im November seine »Theorie der Kontinentalverschiebung« vorgetragen hatte. Niemand glaubte ihm, dass die Erdteile vor 200 Millionen Jahren einmal zusammenhingen. Das war zu viel für eine Zeit, die noch nicht einmal ihre eigenen Zusammenhänge begriff. So hatte er sich frustriert der Expedition des dänischen Forschers Johan Peter Koch angeschlossen. Vier Männer, 16 Islandpferde und ein Hund schickten sich an, Grönland von Osten nach Westen zu durchqueren, mitten durch die endlosen Weiten des ewigen Eises, die noch niemand gesehen hatte. Doch jetzt war es zu kalt zum Marschieren, zu kalt, um überhaupt sein Gesicht aus dem Quartier zu stecken, erst im April würden sie weiterziehen können. So fraßen die Pferde ihr Heu, der Hund nagte an seinen Knochen, und Alfred Wegener spielte Schach mit Johan Peter Koch. Und dann machte er die Funzel seiner Öllampe an und schrieb weiter an seinem großen Aufsatz über die Kontinentalverschiebung. Irgendwann, so wusste er, würden ihm die Menschen schon glauben, und sei es auch erst in 200 Millionen Jahren.
Marcel Proust musste nun aber nicht ganz so lange warten, bis er doch noch einen Verleger fand für die »Suche nach der verlorenen Zeit«. Nach drei Absagen kommt eine Zusage. Und am 11. März schließt er einen Vertrag mit dem Verleger Bernard Grasset ab – er selbst schießt 1750 Franc zum Druck dazu, damit das Buch im September überhaupt erscheinen kann. Das klingt noch gut. Aber wenig später beginnt Bernard Grassets Albtraum. Wenn er Marcel Proust Druckfahnen zur Korrektur schickt, dann bekommt er ein paar Tage später etwas zurückgeschickt, das man eher Schlachtfeld als Druckfahne nennen kann. Proust lässt keinen Stein auf dem anderen, überschreibt mit Tinte das gesamte gedruckte Manuskript einmal, zweimal, dreimal, klebt daneben zusätzliche Passagen aus anderen Druckfahnen und streicht ausgiebig. Selbst seinen legendären ersten Satz, dieses »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«, streicht er erst einmal komplett durch, um ihn dann wenig später reumütig per Hand doch wieder neben die Streichung zu schreiben und mit Ausrufezeichen zu versehen. Der Verleger dreht mit jeder neuen Korrekturlieferung langsam durch. Das Buch wird dicker und dicker, ständig schleichen sich neue Druckfehler ein, ganz neue Figuren werden eingeführt, andere verschwinden. Vorsorglich schreibt Grasset seinem Drucker, er solle als Erscheinungsdatum das Jahr 1914 vorbereiten, das Ganze könne unmöglich noch in diesem Jahr fertig werden. In genau diesen Tagen stößt der Münchner Schriftsteller Eduard von Keyserling, von der Syphilis zerfressen, seinen eigenen Erinnerungen nachhängend, einen leisen Stoßseufzer aus: »Wenn es doch so Korrekturbogen – nicht wahr, so nennt man das? – Korrekturbogen des Lebens gäbe…«.
Das nun hätte unser Freund Rainer Maria Rilke nicht schöner sagen können. Am 25. März 1913 sitzt er an seinem Schreibtisch in Paris in der Rue Campagne. Er hat zwar gerade keinen Schnupfen, aber es geht ihm trotzdem nicht gut. Er arbeitet quasi unaufhörlich an seinen Korrekturbögen des Lebens. Davon blickt er kurz auf und in seinen Taschenspiegel, er sieht seine zarten Bartstoppeln, und da fällt ihm auf, dass ihm langsam die Rasiercreme ausgeht. Und so schreibt er an den Hoffriseur Honsell in München am Odeonsplatz: »Übrigens wäre es mir lieb, wenn Sie mir gleich wieder eine Dose der Creme ›Mousse de Violette‹, an die ich mich sehr gewöhnt habe, hierher senden wollten.« In wahrscheinlich genau diesen Tagen schreibt Marcel Proust ein paar Straßen weiter in Paris auf den Korrekturbogen der »Suche nach der verlorenen Zeit« den wunderbaren Satz, dass man sich manchmal, wenn es einem ganz melancholisch zumute sei, immerhin »von seiner Gewohnheit in den Arm nehmen lassen kann«.
Oskar Kokoschka und Alma Mahler, das wohl rasendste Liebespaar dieses Jahres, steigen am 20. März 1913 in den Zug in Wien, um über Bozen und Verona nach Italien zu fahren.
Sigmund Freud und Martha Freud, das wohl stillste Liebespaar dieses Jahres, steigen am 21. März 1913 in den Zug in Wien, um über Bozen und Verona nach Italien zu fahren.
Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, das ungewöhnlichste Künstlerduo dieses Jahres, steigen am 30. März 1913 in den Zug in Wien, um über Bozen und Verona nach Italien zu fahren.
Der Weltgeist geht also auf Reisen. Und Wien muss mal kurz Pause machen. Denkt man.
Doch dann kehrt der Weltgeist am 31. März, obwohl also Kokoschka und Alma und Freud und Richard Strauss und Hofmannsthal fehlen, im großen Saal des Wiener Musikvereins doch kurz zurück. Arnold Schönberg dirigiert, oder sagen wir: versucht zu dirigieren – eine eigene Kammersinfonie, Mahler und Stücke seiner Schüler Alban Berg und Anton von Webern. Das Publikum explodiert. Es findet so viel Modernität ohrenbetäubend. Also: Geschrei, Wutausbrüche, Gepfeife, Buhrufe. Und zu guter Letzt wird der große Arnold Schönberg von einem kleinen Operettenkomponisten geohrfeigt. Die Zeitungen sprechen am nächsten Tag vom »Watschenkonzert«. Also im Grunde ein Triumph der neuen Musik über den alten Geschmack? Mitnichten. »Publikum und Kritik sind heutzutage so sehr von allen guten Geistern verlassen, daß sie in keiner Hinsicht mehr einen Maßstab abgeben können«, klagt Schönberg. »Man kann heute nicht einmal mehr durch einen Mißerfolg Selbstvertrauen zu sich bekommen.« Früher also, so lehrt uns der radikale Modernist Schönberg, war alles besser. Selbst der Widerstand der Konservativen.