Seine Kaiserliche und Königliche Majestät Kaiser Franz Joseph bekommt am Montag, dem 5. Mai, in Wien zum Mittagessen Leberknödelsuppe, Kalbsfilets, Omelette, Kartoffelpüree und grüne Bohnen serviert. Auch in seinem 83. Lebensjahr und auch trotz der Balkankriege ist ihm noch lange nicht der Appetit vergangen. Dann empfängt er Erzherzog Heinrich Ferdinand, den Sohn des letzten Großherzogs der Toskana aus der habsburgischen Sekundogenitur der Linie Habsburg-Lothringen-Toskana Ferdinand IV. (bitten Sie mich jetzt bitte nicht, das zu erklären). Der will sich bedanken für die Ernennung zum Major im Dragonerregiment Nr. 6. Gleich darauf fährt der junge Major weiter nach Graz, um sich in den Puch-Werken ein neues Auto zu kaufen. Abends aß der Kaiser Gerstenschleimsuppe, gebackene Fleischpasteten, Roastbeef, grünen Spargel, gebratene Schnepfen. Zum Nachtisch verspeiste Franz Joseph dann noch ein Erdbeertortelette und einen Schokoladenkuchen. Serbischer Bohneneintopf steht nicht auf der Karte.
Wenn Revolutionäre entspannen, dann sammeln sie Blumen: Rosa Luxemburgs Herbarium aus dem Mai 1913.
Am Vormittag des 9. Mai, draußen jagen die Kastanien und die Flieder ihre Blütenfarben in die Luft, geht die junge Revolutionärin Rosa Luxemburg in die Papierhandlung von Paul Frank in der Steglitzer Straße 28 und kauft ein blaugraues Oktavheft. Ihr Jugendtraum war es gewesen, Botanikerin zu werden. Und nun, in diesem blühenden, duftenden, explodierenden Frühjahr 1913, da packte die große Theoretikern und Kämpferin für eine neue Republik plötzlich das, was sie selbst »den Rappel« nannte. Am 10. Mai ging sie das erste Mal raus auf die Felder und in die Wälder und sammelte Blätter, als Erstes, ganz klassisch, waren es die der roten und der weißen Johannisbeersträucher, am 11. Mai waren es ein Ulmen- und ein Eschenblatt, dann kommen der Holunder, der Flieder, die Buche. Nimmt sie und presst sie, klebt sie auf die Seiten ihres Heftes und beschriftet sie, beschreibt sie, schreibt die lateinischen Namen dazu. Sie habe sich, gesteht sie ihrer besten Freundin, »mit meiner ganzen Glut, mit dem ganzen Ich in das Botanisieren gestürzt, daß mir die Welt, die Partei und die Arbeit verging und nur die eine Leidenschaft mich Tag und Nacht erfüllt: draußen in den Frühlingsfeldern herumstrolchen, die Arme voll Pflanzen zu sammeln und dann zu Hause zu ordnen, zu erkennen, in die Hefte einzutragen«. Schon am 14. Mai ist das erste Heft gefüllt, sie geht erneut zur Papierhandlung in Berlin-Südende und kauft gleich fünf weitere Oktavhefte, das zweite beginnt am 15. Mai mit der prächtigen Blüte und den schlanken Blättern der Japanischen Quitte. Am 20. Mai, mit dem Zusatz »vom eigenen Balkon«, dann: Stiefmütterchen.
Die Künstlergruppe »Die Brücke« löst sich am 27. Mai mit großem Knall auf. Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff gehen ab sofort getrennte Wege. Kirchner, erschöpft und erleichtert, fährt mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling nach Fehmarn und springt ins Meer. Die beiden wohnen wieder im blaugetünchten Turmzimmer des Hauses des Leuchtturmwärters auf Staberhuk, unten am Meer sieht man die Segelboote vorbeiziehen. Kirchner sitzt am Tisch, raucht eine Pfeife, trägt eine leichte Hose und ein leichtes Oberhemd, Erna steht vor ihm, nackt, wie Gott sie schuf. Sie unterhalten sich, beiläufig, interessiert, die Zimmerwände sind blau, die Möbel fallen kubistisch durch den Raum, Erna schaut zurück, aus dem Fenster, aufs Meer, Kirchner schaut sie an, immer aufs Neue begeistert von ihrem Körper. Genau diesen Moment hat er gemalt. »Turmzimmer (Selbstbildnis mit Erna)« heißt das Bild, es zeigt einen der friedlichsten Momente im Leben dieses leidenschaftlichen Paares. Expressionismus im Hausgebrauch. Nachmittags, als die Sonne schon ein wenig schräg steht, gehen sie raus an den Strand, Erna zieht sich ein leichtes Sommerkleid über, Kirchner nimmt seine Kamera mit. Er will die Bucht fotografieren, die Wellen und die Dünen. Berlin ist ganz weit weg.
Im Führer »Berlin für Kenner« aus dem Jahre 1913 werden die »Zehn Gebote für Berlin« aufgestellt. Am Wichtigsten: »Geh’ spät schlafen.« Aber dass man nicht seines nächsten Weib begehren sollte – keine Rede davon.
Plötzlich ist Igor Strawinsky der Komponist der Stunde. »Der Feuervogel« war schon zum Triumph geworden, und nun sollte »Le sacre du printemps« zur Krönung werden. Strawinsky zieht mit seiner Familie nach Clarens in die französische Schweiz, ins Châtelard Hotel, direkt neben Maurice Ravel, um das Stück fertig zu schreiben. 8000 Rubel hat ihm Djagilew, der Impresario der »Ballets Russes« für die Komposition bezahlt, eine enorme Summe. Dann findet Ravel für Strawinsky und dessen Familie eine bessere Unterkunft, das Hotel Splendide, zwei Räume, ein Badezimmer, für 52 Francs die Nacht. Strawinsky zieht um. Rosa Luxemburg, die Revolutionärin aus Berlin, wird in diesem Frühling in Clarens Urlaub machen, durch die Wiesen streichen, Blumen sammeln, und durch die geöffneten Fenster des Hotels hört sie immer wieder unglaubliche Töne, Klaviermusik wie von einem anderen Stern. Sie hört Strawinskys revolutionäres »Le sacre de printemps« vor allen anderen.
Strawinsky ist ein seltsamer Geselle, eigentlich unauffällig im strengen Anzug, hinter seiner kleinen Brille hervorblinzelnd, aber wenn es um seine Musik geht, dann wird er zum Berserker. Schon während der Arbeit am »Feuervogel« hatte er die erste Vision von »Le sacre«: »Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll.« Arbeitstitel: »Das große Opfer«. Er sammelte in seiner Heimat Material über das »heidnische Russland«, gemeinsam mit Nicholas Roerich, dem Maler, der in diesem Frühjahr 1913 in Paris an seinen Bühnenbildern für die Premiere des »Frühlingsopfers« sitzt. Anfang April 1913 ist endlich auch die Reinschrift Strawinskys beendet, 49 Seiten reine Kalligraphie, die Proben haben da schon längst begonnen. Wo immer die »Ballets Russes« gerade gastieren, wird geprobt. Oft mit Strawinsky zusammen. In Budapest, erinnert sich eine Tänzerin, »schubste Strawinsky den dicken deutschen Pianisten zur Seite, den Djagilew ›Koloss‹ nannte, und spielte selbst weiter, doppelt so schnell, wie wir es bis dahin kannten und tanzen konnten. Er stampfte mit den Füßen und hieb mit der Faust in die Tasten und sang und schrie, um uns die Rhythmen und die Farben des Orchesters klarzumachen.« Der »sacre« beginnt mit einer verstörenden, sehr hohen Fagottlage und endet, im dreifachen Forte, mit einem finalen dumpfen Schlag. Strawinsky hat sich bei dieser Komposition quasi selbst überholt, als Debussy bei einem Freund auf dem Klavier erste Passagen aus dem neuen Stück Strawinskys hört, ist er erschüttert – und hell begeistert über das vollkommen Neue, das sich hier anbahnt. Das Neue, kommend aus den archaischen Tiefen der Riten und Gesänge und Tänze der Ahnen. Und mit einem neuen Tempo, das dem Rhythmus der Maschinen entspricht, den Propellern der Flugzeuge, den Gedichten der Futuristen. Strawinsky entdeckt mit Tönen, was Sigmund Freud parallel in den Gemütern findet, in seinem bahnbrechenden Buch »Totem und Tabu«, an dem er in diesen Tagen schreibt: »Übereinstimmung im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«.
In Paris proben die »Ballets Russes« die Choreographie von Nijinsky jeden Tag, der göttergleiche Faun und Geliebte Djagilews kommt in Strawinskys kühner Komposition ganz zu sich. Die Stadt ist in heller Aufregung, die Schockwellen dringen aus den Proberäumen des Théâtre des Champs-Élysées in die Salons und die Ateliers. Die Generalprobe am 28. Mai, nur vor Künstlern und Kritikern, verläuft irritierend ruhig. Harry Graf Kessler notiert in sein Tagebuch: »Mit Djagilew, Nijinsky, Strawinsky, Ravel, Werth, Mme Edwards, Gide, Bakst usw. zu Larue, wo allgemein die Ansicht herrschte, dass es morgen Abend bei der Premiere einen Skandal geben werde.«
Am 29. Mai dann, also »morgen Abend«, die Premiere einer der kühnsten Erfindungen der Moderne. Die Uraufführung von »Le sacre du printemps«, der »Frühlingsweihe« von Igor Strawinsky, dargestellt von Djagilews »Ballets Russes« in der Choreographie Nijinskys. Im Publikum saßen Coco Chanel, Gabriele D’Annunzio, Jean Cocteau, Marcel Duchamp, Rainer Maria Rilke, Pablo Picasso und: Marcel Proust (er ist im Pelzmantel gekommen, trotz 24 Grad, und er lässt ihn bis zum Ende der Aufführung an, er hat Angst, sich zu erkälten). Und 500 andere, die ganze Pariser Gesellschaft, alle ohne Pelz. Nach dem ersten Takt: Vollkommene Verwirrung, vollkommene Verzückung, vollkommene Überwältigung angesichts der rhythmischen Exorzismen Strawinskys, der rituellen archaischen Bewegungen des vierundzwanzigjährigen Nijinsky, dem es gelungen war, ein choreographisches Äquivalent zur atemberaubenden Komposition zu finden. Abends, nach dem umtosten, tumultuösen Auftritt, ging Strawinsky mit Djagilew und Nijinsky essen. Der von den heftigen Reaktionen des Publikums verstörte Nijinsky wurde von Djagilew, als Strawinsky einmal zur Toilette musste, getröstet: »Le sacre du printemps«, so hauchte er ihm ins Ohr, sei doch eigentlich das Kind ihrer Liebe. So also kann man es auch sehen.
Oder so, wie es der Kritiker von »Le Figaro« am nächsten Tag beschrieb: »Stellen Sie sich Menschen vor, die, mit den grellsten Farben angetan, mit spitzen Mützen und Bademänteln, Pelzen oder purpurnen Tuniken verkleidet, sich wie Wahnsinnige gebärden, hundertmal immer wieder dieselbe Geste wiederholen, auf der Stelle treten und treten.« Doch genau so, im Auf-der-Stelle-treten, sieht offenbar der Fortschritt aus. Das ahnt auch »Le Figaro«: »Man möchte die Stimmen unparteiischer und unabhängiger Kritiker zum Thema dieses kleinen Experiments zur Psychologie der zeitgenössischen Menschenmasse kennenlernen.«
An jenem 29. Mai wird in Paris (und in Berlin) ein zweites großes Ereignis angekündigt: die Hochzeit von Franz Hessel und Helen Grund. »Einwände«, so formuliert es der Standesbeamte im Aufgebot, »sind binnen 14 Tagen bei dem Standesamt II in Berlin-Schöneberg anzumelden«. Aber da kam nichts. Das Paar zog in Hessels Wohnung in der Numero 4 in der Rue Schoelcher, die Hessels waren also pikanterweise direkte Nachbarn von Pablo Picasso. Aber um ihn scherten sie sich nicht. Sie waren ganz mit sich beschäftigt. Helen, blond, herb, sportlich, dagegen Franz: kahler Kopf, alles rundlich, abwägend, ein etwas unheimlicher Blick. Doch schon in diesem Frühjahr ist Henri-Pierre Roché, Hessels Busenfreund, stets der Dritte im Bunde, ein Schriftsteller, Übersetzer und Journalist, Epizentrum des Café Dôme, Sammler von Werken Duchamps, Picassos und Braque. Und Roché boxt, ziemlich gut sogar, und sonntagabends heißt sein Gegner oft Georges Braque. Noch aber lässt er seine Finger von der Freundin seines besten Freundes. Noch sind sie nicht »Jules et Jim«.
Am 31. Mai wird in der neuerbauten »Jahrhunderthalle« in Breslau Gerhart Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen« uraufgeführt. Es soll an die Befreiung von Napoleon 1813 bis 1815 erinnern – und wurde ebenfalls zu einem kleinen Experiment zur Psychologie der zeitgenössischen deutschen Menschenmasse. Die Regie hat Max Reinhardt. Besser geht es also eigentlich nicht: Der frischgekürte Nobelpreisträger für Literatur dichtet, der bekannteste Regisseur des Landes inszeniert. Aber es ist ein Desaster. Künstlerisch. Die Idee, deutsche Geschichte als Puppentheater zu erzählen, geht nicht auf. Paul Ernst schreibt in der »Kölnischen Zeitung« am 1. Juni: »Ein sehr hochstehender Gast mag einmal einen Augenblick lang das Weltgeschehen als ein Puppenspiel empfinden. Wenn er dann ein ganzes Werk darauf aufbaut, ein Bühnenwerk, das für ein Fest bestimmt ist, so begeht er eine Albernheit. Eine Albernheit, das ist denn auch das nicht patriotisch oder politisch erzeugte, sondern das ästhetische Urteil, das man über das Werk fällen muß.«
Eigentlich sollte es 15 Aufführungen geben, die den deutschen Patriotismus beflügeln. Aber nach der elften Vorstellung ist am 18. Juni Schluss. Der deutsche Patriotismus fühlte sich aufs Übelste beleidigt. Es gab heftige Proteste deutscher Kriegervereine, weil Hauptmann in seinem Stück beweisen will, dass Deutschlands Weltgeltung nicht auf seiner militärischen, sondern seiner geistigen Überlegenheit beruhe. Geistig sehr wenig überlegt, verlangte der deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm von Hohenzollern die sofortige Absetzung des Stückes. Er sieht die deutsche Militärmacht durch die unpatriotischen Verse des deutschen Nobelpreisträgers geschwächt.
Mata Hari versucht derweil weiterhin den Kronprinzen mit den Waffen der Frau zu überzeugen. Sie reist aus Paris erneut nach Berlin, steigt erneut im Hotel »Bristol« ab und versucht erneut, irgendwie an den deutschen Kronprinzen heranzukommen. Sie geht ins Metropoltheater, weil sie gehört hat, dass er an diesem Abend auch da sein soll. Und er ist da. In einer besonders rührenden Liebesszene auf der Bühne schaut sie hoch in die königliche Loge. Und da finden sich ihre Blicke. Er schaut sie eine Hundertstelsekunde länger an als nötig. Glaubt sie.
Die »Titanic« war 1912 untergegangen und mit ihr die meisten Passagiere. Doch die 22-jährige Dorothy Gibson hatte in der sturmumtosten Nacht des 14. April einen Platz im ersten Rettungsboot bekommen. 1913 wird die Unsinkbare weltberühmt: Sie spielt sich selbst in dem zehnminütigen Stummfilm »Saved from the Titanic«, in denselben Kleidern, die sie am Tag des Untergangs getragen hatte. Auch Richard Norris Williams hat den Untergang der »Titanic« ganz gut weggesteckt. Er überlebte stundenlanges Schwimmen im eiskalten Wasser, entschied sich trotz des dringenden Rates der Ärzte gegen eine Amputation der fast abgefrorenen Beine und gewann dann 1913 leichtfüßig die Tennis-Meisterschaften der Harvard Universität und kurz darauf Wimbledon und die US-Open.