Wenn Revolutionäre entspannen, dann sammeln sie Blumen: Rosa Luxemburgs Herbarium aus dem Mai 1913.

Am Vormittag des 9. Mai, draußen jagen die Kastanien und die Flieder ihre Blütenfarben in die Luft,

Im Führer »Berlin für Kenner« aus dem Jahre 1913 werden die »Zehn Gebote für Berlin« aufgestellt. Am Wichtigsten: »Geh’ spät schlafen.« Aber dass man

Plötzlich ist Igor Strawinsky der Komponist der Stunde. »Der Feuervogel« war schon zum Triumph geworden, und nun sollte »Le sacre du printemps« zur Krönung werden. Strawinsky zieht mit seiner Familie nach Clarens in die französische Schweiz, ins Châtelard Hotel, direkt neben Maurice Ravel, um das Stück fertig zu schreiben. 8000 Rubel hat ihm Djagilew, der Impresario der »Ballets Russes« für die Komposition bezahlt, eine enorme Summe. Dann findet Ravel für Strawinsky und dessen Familie eine bessere Unterkunft, das Hotel Splendide, zwei Räume, ein Badezimmer, für 52 Francs die Nacht. Strawinsky zieht um. Rosa Luxemburg, die Revolutionärin aus Berlin, wird in diesem Frühling in Clarens Urlaub machen, durch die Wiesen streichen, Blumen sammeln, und durch die geöffneten Fenster des Hotels hört sie immer wieder unglaubliche Töne, Klaviermusik wie von einem anderen Stern. Sie hört Strawinskys revolutionäres »Le sacre de printemps« vor allen anderen.

Strawinsky ist ein seltsamer Geselle, eigentlich unauffällig im strengen Anzug, hinter seiner kleinen Brille hervorblinzelnd, aber wenn es um seine Musik geht, dann wird er zum Berserker. Schon während der Arbeit am »Feuervogel« hatte er die erste Vision von »Le sacre«: »Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll.« Arbeitstitel: »Das große

In Paris proben die »Ballets Russes« die Choreographie von Nijinsky jeden Tag, der göttergleiche Faun und Geliebte Djagilews kommt in Strawinskys kühner Komposition ganz zu sich. Die Stadt ist in heller Aufregung, die Schockwellen dringen aus den Proberäumen des Théâtre des Champs-Élysées in die Salons und die Ateliers. Die Generalprobe am 28. Mai, nur vor Künstlern und Kritikern, verläuft irritierend ruhig. Harry Graf Kessler notiert in sein Tagebuch: »Mit Djagilew, Nijinsky, Strawinsky, Ravel, Werth, Mme Edwards, Gide, Bakst usw. zu Larue, wo allgemein die Ansicht herrschte, dass es morgen Abend bei der Premiere einen Skandal geben werde.«

Am 29. Mai dann, also »morgen Abend«, die Premiere einer der kühnsten Erfindungen der Moderne. Die Uraufführung von »Le sacre du printemps«, der »Frühlingsweihe« von Igor Strawinsky, dargestellt von Djagilews »Ballets Russes« in der Choreographie Nijinskys. Im Publikum saßen Coco Chanel, Gabriele D’Annunzio, Jean Cocteau, Marcel Duchamp, Rainer Maria Rilke, Pablo Picasso und: Marcel Proust (er ist im Pelzmantel gekommen, trotz 24 Grad, und er lässt ihn bis zum Ende der Aufführung an, er hat Angst, sich zu erkälten). Und 500 andere, die ganze Pariser Gesellschaft, alle ohne Pelz. Nach dem ersten Takt: Vollkommene Verwirrung, vollkommene Verzückung, vollkommene Überwältigung angesichts der

Oder so, wie es der Kritiker von »Le Figaro« am nächsten Tag beschrieb: »Stellen Sie sich Menschen vor, die, mit den grellsten Farben angetan, mit spitzen Mützen und Bademänteln, Pelzen oder purpurnen Tuniken verkleidet, sich wie Wahnsinnige gebärden, hundertmal immer wieder dieselbe Geste wiederholen, auf der Stelle treten und treten.« Doch genau so, im Auf-der-Stelle-treten, sieht offenbar der Fortschritt aus. Das ahnt auch »Le Figaro«: »Man möchte die Stimmen unparteiischer und unabhängiger Kritiker zum Thema dieses kleinen Experiments zur Psychologie der zeitgenössischen Menschenmasse kennenlernen.«

An jenem 29. Mai wird in Paris (und in Berlin) ein zweites großes Ereignis angekündigt: die Hochzeit von Franz Hessel und Helen Grund. »Einwände«, so formuliert es der Standesbeamte im Aufgebot, »sind

Am 31. Mai wird in der neuerbauten »Jahrhunderthalle« in Breslau Gerhart Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen« uraufgeführt. Es soll an die Befreiung von Napoleon 1813 bis 1815 erinnern – und wurde ebenfalls zu einem kleinen Experiment zur Psychologie der zeitgenössischen deutschen Menschenmasse. Die Regie hat Max Reinhardt. Besser geht es also eigentlich nicht: Der frischgekürte Nobelpreisträger für Literatur dichtet, der bekannteste Regisseur des Landes inszeniert. Aber es ist ein Desaster. Künstlerisch. Die Idee, deutsche Geschichte als Puppentheater zu erzählen, geht nicht auf. Paul

Eigentlich sollte es 15 Aufführungen geben, die den deutschen Patriotismus beflügeln. Aber nach der elften Vorstellung ist am 18. Juni Schluss. Der deutsche Patriotismus fühlte sich aufs Übelste beleidigt. Es gab heftige Proteste deutscher Kriegervereine, weil Hauptmann in seinem Stück beweisen will, dass Deutschlands Weltgeltung nicht auf seiner militärischen, sondern seiner geistigen Überlegenheit beruhe. Geistig sehr wenig überlegt, verlangte der deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm von Hohenzollern die sofortige Absetzung des Stückes. Er sieht die deutsche Militärmacht durch die unpatriotischen Verse des deutschen Nobelpreisträgers geschwächt.

Mata Hari versucht derweil weiterhin den Kronprinzen mit den Waffen der Frau zu überzeugen. Sie reist aus Paris erneut nach Berlin, steigt erneut im Hotel »Bristol« ab und versucht erneut, irgendwie an den deutschen Kronprinzen heranzukommen. Sie geht ins Metropoltheater, weil sie gehört hat, dass er an diesem Abend auch da sein soll. Und er ist da.

Die »Titanic« war 1912 untergegangen und mit ihr die meisten Passagiere. Doch die 22-jährige Dorothy Gibson hatte in der sturmumtosten Nacht des 14. April einen Platz im ersten Rettungsboot bekommen. 1913 wird die Unsinkbare weltberühmt: Sie spielt sich selbst in dem zehnminütigen Stummfilm »Saved from the Titanic«, in denselben Kleidern, die sie am Tag des Untergangs getragen hatte. Auch Richard Norris Williams hat den Untergang der »Titanic« ganz gut weggesteckt. Er überlebte stundenlanges Schwimmen im eiskalten Wasser, entschied sich trotz des dringenden Rates der Ärzte gegen eine Amputation der fast abgefrorenen Beine und gewann dann 1913 leichtfüßig die Tennis-Meisterschaften der Harvard Universität und kurz darauf Wimbledon und die US-Open.