Das Licht der Scheinwerfer schnitt durch die Dunkelheit des Studios wie der Strahl eines Leuchtturms. Raven kannte den Rhythmus genauso gut wie ihren eigenen Herzschlag. Alle fünf Sekunden streiften die kreisenden Lichtkegel ihre Fenster, erhellten alles für einen Augenblick. Dann wanderten sie weiter, über die bröckelnden Fassaden, erloschenen Straßenlaternen und stellenweise zerborstenen Fensterscheiben der Nachbarschaft – wieder zurück zu ihr.
Die meisten Leute, die sich in den heruntergekommenen, verlassenen Altbauten rund um das Gardens eingenistet hatten, hassten dieses Licht. Es fraß sich selbst durch die dicksten Vorhänge und raubte vielen erst den Schlaf, dann den Verstand. Doch Raven mochte es.
Sie saß gerne auf der tiefen Fensterbank im Dunkeln und blickte auf das riesige Gebäude jenseits der Scheibe, betrachtete das Treiben, das mit Einbruch der Nacht zunahm. Raven sah Menschen kommen und gehen, genoss es, zu wissen, dass einige von ihnen nicht sonderlich gerne dabei beobachtet wurden, wie sie das Utopia Gardens betraten. Sie beeilten sich, um möglichst schnell an der Security vorbei in den schützenden Club zu gelangen. Meist blickten sie dabei nicht einmal
auf.
Unter ihnen fand man Politiker und Ärzte, Richter und Polizisten, kleine und große Gangster. Wenn sie die Security passierten und durch die schwere Stahltür traten, die sich direkt unter Ravens Fenster befand, wurden sie alle gleich. Vergnügungssüchtige Getriebene, die ihr gleichförmiges oder elendes Leben jenseits der Mauern des Clubs zurückließen. Sie streiften den Verfall der Altstadt und die Lügen der Neustadt von sich ab, wurden zu Wesen ohne Vergangenheit oder Zukunft. Bis sie durch ebendiese Türen zurück in die Realität gespuckt wurden.
Vielleicht waren die Scheinwerfer doch nicht wie das Licht eines Leuchtturms, dachte Raven. Leuchttürme halfen Seefahrern bei Sturm und Nacht, nicht an den Klippen zu zerschellen. Das Utopia Gardens jedoch war der Fels, gegen den die Berliner brandeten, um von ihm zerschmettert zu werden. Oder ein Schlund, der gnadenlos jeden verschluckte, der sich ihm näherte.
Und doch war das Gardens auch ihr Zuhause. Sie liebte die schummrigen Lichter, die alles weicher zeichneten, die allzu hübschen Bardamen in ihren kurzen Paillettenkleidern, die laute Musik. Dumpfe Bässe, die ihrem Puls den Rhythmus vorgaben und den ganzen Körper zum Vibrieren brachten, wilder Jazz, der einen förmlich zum Tanzen zwang, Bollywood-Beats, zu denen man sich so lange drehen konnte, bis Raum und Zeit zu einer glitzernden Masse verschwammen. Doch das Gardens war nicht einfach nur ein Club. Es war Disco und Jahrmarkt, Bordell und Shoppingmall, Arena und Wellnessoase. Hier fand jeder, was er suchte oder sich nie zu suchen gewagt hatte. Auf alle geheimen Fragen, die man draußen – wenn überhaupt – nur flüsterte, hatte das Gardens mindestens hundert Antworten.
Raven kannte das Gardens in- und auswendig, doch sie hatte mit der Zeit gelernt, welchen Bereichen sie besser fernblieb, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte. Raven tanzte, nahm weiche
Drogen und besuchte diejenigen, die ihr am Herzen lagen. Und sie kaufte manchmal auf dem Schwarzmarkt des Fightfloors ein, wenn sie das, was sie für ihr nächstes Projekt brauchte, sonst nirgendwo beschaffen konnte. Alles andere ging sie nichts an.
Sie liebte, dass die Außenwelt im Gardens einfach keinen Platz hatte. Am Anfang eines jeden Besuchs war das, was draußen passierte, einfach nur weit weg. Und irgendwann wurde es dann vollkommen unwichtig. Verbrachte man ein paar Tage im Club, verlor man jegliches Zeitgefühl, und alles floss ineinander. Man existierte, man atmete, tanzte und lachte. Nichts sonst.
Tage waren nicht für Raven gemacht. Sie waren von allem zu viel. Zu viel Licht, zu viel Lärm, zu viel andere Menschen, auf die zu viel Licht fiel und die zu viel Lärm machten. Am Tag sah man die Schatten, nachts war alles gleich. Oder zumindest beinahe. Denn Raven war ein Wesen, das selbst im Dunkeln leuchtete.
Seit Jahren bewegte sie sich tagsüber kaum vor die Tür, doch bald würde sie es müssen. Sie würde dazu gezwungen sein, etwas zu etablieren, das andere Menschen »Alltag« nannten. Ausgerechnet. Seufzend schob sie den Brief, den sie die ganze Zeit abwesend in ihren Fingern hin und her gedreht hatte, in die Tasche ihres schwarzen Kittels. Am liebsten hätte sie die kommenden Stunden komplett im Club verbracht, doch sie hatte einen Kunden. Die Werkstücke, die sie für ihn angefertigt hatte, standen auf einem Tisch bereit und glänzten alle fünf Sekunden, wenn der Lichtkegel der Scheinwerfer durch den Raum strich. Ein leiser Abschiedsschmerz schlich sich in ihre Brust. Raven hing an ihren Kreationen.
Sie zuckte zusammen, als die Deckenlampe anging.
»Rave?«, rief eine Stimme in den beinahe leeren Raum hinein.
Raven entspannte sich wieder. Spencer war zurück; der einzige Mensch, der sie »Rave« nannte. Es war albern, aber sie mochte es. Alles war ihr lieber als ihr Geburtsname. Stöhnend glitt sie vom
Fensterbrett, wobei sich winzige Teile des bröckeligen Lacks ablösten, der in Flocken zu Boden rieselte. Sie bewegte sich so geschmeidig, dass ihre Füße kaum ein Geräusch machten, als sie auf den alten Dielenboden trafen.
»Hier hinten!«, antwortete sie, und kurz darauf schob sich Spencers schlaksige Gestalt durch die alte Doppelflügeltür. Er ging immer ein wenig, als müsste er sich an Deck eines großen Schiffs gegen den Sturm stemmen. Das viele Tätowieren in gebückter Haltung hatte dazu geführt, dass er sich selten gerade hielt.
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und ließ seinen alten Lederrucksack geräuschvoll auf den großen Metalltisch knallen. Dabei wackelten die Werkstücke bedrohlich. Schnell lief Raven zu ihren Kunstwerken hinüber, um sicherzustellen, dass sie nicht umfielen. »Pass doch auf!«, schimpfte sie und schoss Spencer einen giftigen Blick zu. Der hob abwehrend die Hände.
»Ey, wer hat gerade Stunden auf dem Campus verbracht, um diesen verrückten etepetete Medizinstudenten das ganze Zeug aus den Rippen zu leiern?« Er zeigte auf seine Brust. »Moi!«
Raven winkte ab. »Und wer sorgt dafür, dass wir was zu beißen haben? Moi!«
»Hey, ich verdiene auch Geld!«
Raven schnaubte genervt. Dieses Gespräch würde sie jetzt ganz sicher nicht führen. »Hast du alles bekommen?«
Sie griff nach seinem Rucksack und öffnete vorsichtig die brüchigen Schnallen. Nacheinander holte sie Skalpelle, mehrere Spritzen und Ampullen mit Betäubungsmitteln, Nähzeug, neue Sägeblätter sowie mehrere Dutzend Arterienklemmen hervor, die sie ordentlich auf ihrem Rollwagen ausbreitete.
»Keine Klammern?«
Spencer schüttelte den Kopf. »Felix liegt flach. Keiner konnte mir sagen, wie lange.«
»Shit«, Raven biss sich auf die Unterlippe. Für das, was sie heute vorhatten, brauchte sie Klammern.
»Haben wir nicht mehr genug?«, fragte Spencer.
Raven drehte sich um und wühlte in der Schublade des alten Küchenbuffets herum, das an der Wand zum nächsten Zimmer stand. Sie zog drei Packungen hervor und legte sie auf die Ablage.
»Es sind noch ungefähr hundert. Das könnte reichen. Es könnte aber auch in die Hose gehen.«
Spencer zuckte mit den Schultern und gab ihr damit zu verstehen, dass sie es jetzt sowieso nicht ändern konnten. Und er hatte recht. Raven seufzte.
»Gut, dann decken wir mal ab.«
Gemeinsam rollten sie eine Bauplane aus, die sie mit Klebeband auf dem Holzboden fixierten. Die Kunden wurden von der Plane immer sehr verunsichert, aber Raven konnte es nicht ändern. Alte Blutflecken auf dem Boden würden sie sicher noch stärker verunsichern, und die Plane war wenigstens sauber.
Spencer und sie waren ein eingespieltes Team, sie taten das hier mittlerweile mehrmals im Monat. Meistens nachts, so wie heute. Raven hatte ihr Gehirn im Verdacht, vor Einbruch der Dunkelheit nicht richtig zu arbeiten.
Schließlich band sie sich die schneeweißen Haare zu einem kleinen Dutt und streifte sich ihre schwarze Kurzhaarperücke über. Dann setzte sie die schwarze Bauta auf. Dass diese Maske früher mal vom venezianischen Stadtadel getragen worden war, wusste heute so gut wie niemand mehr. Im Gardens jedenfalls waren Bautas weit verbreitet. Sie waren eine der wenigen Möglichkeiten, das Gesicht so zu verdecken, dass man unerkannt blieb, der Maskenträger aber immer noch sprechen, essen und trinken konnte. Wenn sie die Maske aufsetzte, verschwand Raven hinter Lagen aus schwarzem Stoff, schwarzen Haaren und schwarzem Holz. Sie glitt in den Schatten,
wurde eins mit ihm. Verwandelte sich in Dark.