»Ich werde mich nie an diesen Aufzug gewöhnen«, sagte Spencer kopfschüttelnd und streifte sich seine Affenmaske über.
Er selbst fand es unnötig, sich zu maskieren, mokierte sich darüber, aber letzten Endes beugte er sich Ravens Willen, auch wenn er ihr oft genug vorgehalten hatte, dass ihre Vorsicht an Paranoia grenzte. Aber Spencer lief ja auch dermaßen unbeschwert durch die Welt, dass Raven sich Tag für Tag aufs Neue wunderte, wie er es schaffte zu überleben. Meistens hatte er wohl einfach nur Glück. Er wurde leicht übersehen. Ein Luxus, der ihr nicht vergönnt war.
Raven vergrub ihre Hände in den Taschen des Kittels und trat ans Fenster. Während sie wartete, umspielten ihre Finger wieder das feste Papier. Alleine dass es ausgerechnet ein Stück Papier war, das ihr Leben völlig veränderte, fand sie absurd. Papier war etwas, womit man sich den Hintern ab- und Blut aufwischte. Etwas, in dem heiße Fritten serviert wurden, oder das in feuchteren Wohnungen von den Wänden schimmelte. Papier war unwichtig, billig und dreckig. Es war ganz sicher nicht lebensverändernd. Nun, in ihrem Fall leider doch. Die Gerichte in Altberlin waren so dermaßen armselig, dass sie, wahrscheinlich als einzige auf der ganzen verdammten Scheißwelt,
noch mit Papier arbeiteten. Es fiel Raven schwer, diesen Wisch überhaupt ernst zu nehmen. Gut, sie hatte alle Informationen zusätzlich per Mail bekommen. Sonst würde sie den Brief wahrscheinlich verbrennen und so tun, als wäre niemals etwas gewesen.
Draußen im Gardens ging eine Seitentür auf. Ein junger Kerl wurde von zwei Security-Mitarbeitern aus dem Club über das matt glänzende Kopfsteinpflaster geschleift. Er stolperte immer wieder, versuchte, sich loszureißen, zappelte und schrie. Doch die halbe Portion hatte keine Chance, sich dem Griff der beiden Hünen zu entziehen.
»Sie kommen!«
Spencer nickte und öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit, damit sie lauschen konnten. Einer der Vorteile ihres Studios war, dass es im fünften Stock eines verlassenen Hauses lag, das nur sporadisch von Raven, Spencer und ein paar Freunden genutzt wurde. Kaum etwas verriet so viel über einen Kunden wie das, was im Treppenhaus auf dem Weg zu ihr vor sich ging.
Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie den Typen wimmern.
»Bitte, sagt Mikael, dass ich Sonderschichten übernehme. Sagt ihm, dass ich das Geld beschaffe. Egal wie. Ich kann es auftreiben!«
»Du hattest genug Zeit dafür«, grunzte einer der Wachmänner. »Jetzt hör auf zu winseln.«
»Bitte, bitte, bitte«, hörte Raven ihn schluchzen und schloss für einen Moment die Augen. Diesen Teil hasste sie an ihrem Job. Sie hasste es, dass Mikael und Eugene ihre treuesten Auftraggeber waren, sie hasste es, dass sie Menschen zu ihr schickten, die ihre Kunst nicht zu würdigen wussten. Die schluchzten und bettelten und heulten, damit man ihnen nicht antat, wofür andere Leute viel Geld zu zahlen bereit waren. Raven mochte es nicht, wenn die Kunden heulten. Es irritierte sie. Lenkte sie ab. All ihre Liebe steckte in ihren Werkstücken. Es war ihr zuwider, dass sie so lange an etwas gearbeitet
hatte, das nicht gewollt wurde. Die reinste Verschwendung.
Die drei waren nur noch zwei Stockwerke entfernt, als einer der Wachleute die Geduld verlor. Ein dumpfer Schlag erklang, gefolgt von einem lauten Aufheulen. Raven tippte auf eine gebrochene Nase. Nun, daran würde sich der Kleine gewöhnen müssen, bei der Karriere, die ihm bevorstand.
Als Miko und Sergej ihn schließlich ins Studio schleppten, lief ihm Blut aus seiner Nase über das Gesicht und tropfte auf sein schäbiges Hemd. Bingo, dachte Raven. Wenigstens hatte er aufgehört zu heulen. Stattdessen starrte er sie aus dunkelblauen Augen an, als sei sie der Teufel persönlich. Und für einige Leute war sie genau das.
»Dark, wir bringen dir hier einen von Mikaels Männern«, sagte Sergej und schubste den Kleinen vor. Die beiden Türsteher waren etwas außer Atem. Aufstiege wie diesen waren sie nicht gewohnt, jedenfalls nicht mit einer zappelnden, menschlichen Fracht. Es würde Raven nicht wundern, wenn sie in Neuberlin niedliche kleine Wohnungen mit niedlichen kleinen Familien bewohnten. Angeblich verdiente man als Muskelpaket an den Türen des Gardens gar nicht schlecht. Mikael und Eugene wussten, wo sie knausern durften und wo nicht. Loyale Türsteher waren für das Gardens überlebenswichtig. Verschwiegen mussten sie sein, Respekt einflößend und diszipliniert. Sie durften sich weder von Drogen noch von schönen Frauen verführen lassen. Alles in allem eine seltene Spezies im Dunstkreis des Gardens und gerade deswegen so teuer. Genau wie Raven.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie sich Sergej mit speckigen Fingern den Schweiß von der Stirn wischte. Raven konnte einfach nicht verstehen, wie man seinen Körper so vernachlässigen konnte; gerade in diesem Job. Sie selbst legte großen Wert darauf, sich fit zu halten.
Raven nickte und deutete auf den Operationstisch, der unter einer hell leuchtenden Lampe stand. Miko packte den jungen Mann am
Ärmel und zog ihn unsanft zum Tisch hinüber. »Rauf da!«, brummte der Türsteher und hob drohend die rechte Faust. Der Kleine legte sich zitternd und mit flehendem Blick auf die kalte Metallplatte.
Spencer fixierte ihn mit flinken Fingern, was den Kerl noch panischer werden ließ. Was dumm war, denn außer den Augen, die hektisch hin und her zuckten, den Fingern und Füßen, die unter den Fixierungen unkontrolliert zu zittern begannen, konnte er sich ohnehin nicht mehr richtig bewegen. Sie konnte sein Herz förmlich durch das Hemd hindurch schlagen sehen. Hoffentlich nässte er sich nicht ein.
Mit einer Handbewegung schickte Raven die Türsteher nach draußen. Hier konnte sie die Typen nicht gebrauchen. Spencer war der einzige Mensch, den sie, abgesehen von den Kunden, während einer Operation im Studio duldete. Was sie als Modder »Dark« hier tat, war nicht nur gefährlich und illegal, sondern forderte zudem ihre volle Konzentration. Außerdem wollte sie nicht, dass noch mehr Menschen wussten, wie sie beim Einsetzen der Werkstücke vorging. Ihre Methode war genauso geheim wie ihre Identität. Für Raven war es überlebenswichtig, dass es auch so blieb.
»Weißt du, was du heute von uns bekommst?«, fragte Spencer den jungen Mann, während er ihm eine Kanüle legte.
»K…kniegelenke«, antwortete dieser zitternd. Spencer nickte ruhig. »Die hammermäßigsten Kniegelenke, die diese Welt zu bieten hat.«
»Ich will sie aber nicht!«
Raven wandte sich ab und betrachtete noch einmal ihre perfekten Meisterwerke. So viel Arbeit. So viele durchwachte Nächte, nur damit jemand sagte »ich will sie nicht«.
»Wie heißt du?«, hörte sie Spencer fragen.
»Josh. Ich bin …« Spencer hob die Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. »Nur deinen Namen. Mehr wollen wir von dir nicht wissen.«
Raven atmete unter ihrer Maske langsam aus. Am liebsten hätte sie von Mikaels Männern nicht einmal die Namen gekannt. Es fiel ihr leichter, wenn sie die Person auf dem Operationstisch vollkommen ausblenden konnte. Außerdem war es sicherer, so wenig wie möglich zu wissen. Doch die Kunden waren kooperativer, wenn man sie beim Namen nannte.
»Jetzt hör mir mal zu, Josh: Du weißt vielleicht, dass Mikael euch Losern die Betäubungsmittel nicht bezahlt. Ihr sollt etwas lernen, wenn ihr bei uns seid, verstehst du?«
Josh schluchzte laut und knallte seinen Kopf gegen das Metall des Tischs.
»Lass das«, sagte Spencer schroff.
»Wir sind keine Unmenschen, deshalb pumpen wir dir einen schönen Cocktail aus Diazepam und Novalgin in deinen Blutkreislauf. Ist auch gut so, damit wir besser arbeiten können. Wenn dein Herz so weiterschlägt, saust du hier alles voll.«
Josh verzog das Gesicht. Eine perfekte Illustration für das Wort »angstverzerrt«, dachte Raven.
»Ich will hier raus!«
Raven beobachtete schweigend, wie Spencer die Schultern des jungen Mannes nach unten auf den Metalltisch drückte und seine krumme Gestalt über ihn beugte, sodass er durch die Löcher in seiner Maske hindurch in Joshs Augen sehen konnte.
»Du kommst hier aber nicht raus. Von mir aus kannst du weiter über dein elendes Leben jammern, oder du kannst es annehmen wie ein Mann. So oder so wird sich nichts ändern. Kapierst du das?«
Es dauerte einen Moment, bis Josh leicht nickte.
»Das da drüben ist Dark. Du hast doch sicher schon von Dark gehört, oder?«
»N…natürlich.«
»Dark ist eine lebende Legende. Viele Leute reißen sich darum, von
Dark behandelt zu werden, klar?«
Wieder ein Nicken.
»Wie ich schon sagte: Es liegt alles bei dir. Wenn du weiter so wimmerst, gibt es keine Schmerzmittel für den kleinen Josh. Eine einfache Regel.«
»Okay«, flüsterte Josh. Allmählich fügte er sich in sein Schicksal. Das Diazepam begann wohl zu wirken. Gut. Raven hatte keine Zeit für diesen Mist.
Spencer klopfte Josh kumpelhaft auf die Schulter. »Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst.«
Josh verdrehte die Augen, gab aber keine Widerworte mehr.
»Na also. Dann kann es ja losgehen.«
Raven zeigte an die Decke, und Spencer sagte: »Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Zähl die Risse in der Decke. Es sind wirklich viele, das dauert eine Weile. Schau auf keinen Fall nach unten.«
Raven ging zu ihrem alten Airplayer und tippte im Menü herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte. Ihre Playlist für lange Operationen.
Die ersten Töne von Björks »Hyperballade« füllten den Raum aus, und Raven rollte die Schultern. Die meisten Leute in der Stadt liebten die Musik der 1920er. Seitdem irgendein Freak das alte Zeug in die Airmusic-Cloud hochgeladen hatte, konnte ganz Berlin nicht mehr genug davon bekommen. Aber Raven stand eher auf die Songs der Jahrtausendwende. Es war die Zeit, in der sie am liebsten gelebt hätte. Modern, aber noch nicht zu hektisch – mit dem heutigen Leben zwar schon am Horizont, aber noch zu weit entfernt, um es richtig einordnen zu können. Das letzte Luftholen vor dem kollektiven Wahnsinn. Wie musste Berlin damals gewesen sein, als die meisten Leute sich noch darum gerissen hatten, im Zentrum zu wohnen, und Neuberlin noch eine Sumpflandschaft gewesen war? Fröhlicher. Das mit Sicherheit. Und auf eine andere Art lebendig. Die Musik von damals erzählte Geschichten von gequälten Seelen und
unerschütterlicher Liebe, aber auch von kreativen Köpfen, der Hoffnung junger Menschen und quirligen, bunten Großstädten. Heute war alles genau wie sie. Auf die eine oder andere Art dunkel.
Josh hatte die Augen geschlossen und atmete nun flacher. So unauffällig sie konnte, kippte sie den Operationstisch leicht, während Spencer begann, die Fußfesseln zu lösen und den Kunden zu entkleiden.
Dann stellte sie die Plastikschüssel unter den Ablauf. Venenklemmen hin oder her, es ging immer noch ordentlich was daneben. Sie war schließlich kein Chirurg.
»I go through all this, before you wake up«, hörte sie die wunderbare Stimme der isländischen Sängerin. Island. Raven hatte einmal Bilder von Island gesehen. Weite Landschaften mit Bergen, Schnee und Eis. Riesige Flächen ohne Häuser. Das sprengte ihre Vorstellungskraft. Raven war in Berlin geboren und hatte die Stadt seither noch nie verlassen. Mit ihren neunzehn Jahren hatte sie noch nicht ein einziges Mal den Horizont gesehen.
»To be safe up here with you.«
Es war zwar ein bisschen pathetisch, aber sie begann jede Operation mit diesem Song. Weil es stimmte. All das machte sie durch, um hinterher wieder safe zu sein. Ihr wiederstrebte dieser Teil ihres Jobs.
Lieber erschuf sie, als zu zerstören. Zwar kreierte sie bei den Operationen etwas völlig Neues, doch sie zerstörte auch das Alte. Und diese Zerstörung des Alten brachte Blut und Schmerzen mit sich, war anstrengend, langwierig und verstörend brutal. Es fiel ihr immer schwer, die aufsteigende Übelkeit in Schach zu halten.
Raven war zufrieden, wenn sie alleine zu Hause an ihren Werkstücken arbeiten konnte. Sie liebte es, wenn die Cyberprothesen am Ende genau so funktionierten, wie sie es von der ersten Zeichnung an geplant hatte. Wenn alles ineinandergriff und kleine Impulse kraftvolle Bewegungen auslösten. Auf alles, was danach kam, hätte sie
lieber verzichtet.
Doch ein Gutes hatten solche Operationen: Sie erforderten volle Konzentration. Wenn sie arbeitete, wurde sie durch ein schwarzes Loch in eine andere Dimension gesaugt, in der es nur noch sie und ihre Aufgabe gab. Raven dachte nicht mehr an das Dokument in ihrer Tasche. Sie dachte nicht mehr an zu Hause, nahm das Kratzen der Perücke genauso wenig wahr wie den unangenehmen Geruch, den Joshs Angstschweiß verbreitete.
Unter einer Stuckdecke, die so rissig und bröckelig war, dass sie alle im Raum jeden Augenblick unter sich begraben konnte und direkt neben dem größten Club der Welt, in dem sich Tausende Menschen gerade die Nacht um die Ohren schlugen, setzte Raven den ersten Schnitt.