Es war gar nicht so einfach, ruhig zu bleiben. In der Schlange für den Zulassungstest zum Polizeidienst nicht allzu nervös, alt oder verdächtig auszusehen. Gleich würde sie ihren gefälschten Ausweis das erste Mal jemandem zeigen müssen, der vielleicht in der Lage war, den Unterschied zu erkennen. Natürlich war sie irrational, aber dieses Wissen half ihr nicht weiter. Verflucht.
Warum ausgerechnet Berlin? Hamburg hatte ja schon einen üblen Ruf, aber die Hauptstadt war deutlich schlimmer. Wahrscheinlich war das einfach der Job einer Hauptstadt. Mehr von allem zu sein.
Sie blickte sich um und hatte zum wiederholten Mal heute das Gefühl, in der falschen Schlange zu stehen. Und obwohl das ihr Leben ganz gut beschrieb, war es in diesem Moment keine Metapher. Laura kam sich tatsächlich vor wie in der Schlange für die Essensausgabe eines Gefängnisses. Mehr als die Hälfte der Leute sah aus, als gehörte sie eher hinter Gitter als auf die andere Seite. Rasierte Schädel, vernarbte Hände, Tätowierungen, Implantate und Plateauschuhe, wohin man blickte. Hektisch zuckende Augäpfel, zu große Pupillen, ausgeschlagene Zähne.
Ein paar von ihnen machten auf Laura den Eindruck, dass sie nur an
dem Test teilnahmen, weil sie einen Job brauchten, der ihnen ihr kaputtes Leben finanzierte. Sie sahen furchtbar abgewrackt aus und starrten die meiste Zeit ins Leere. Wenn es weiterging, hoben sie kaum die Füße. Der Typ hinter ihr roch merkwürdig, nach Schweiß und alten Klamotten. Wie ein Putzlappen, der dringend in den Müll gehörte.
Sie starrte an die Decke, doch auch hier konnte sie sehen, was Altberlin ausmachte: Verfall. Konstant und allgegenwärtig. Die alten Häuser, die das Stadtbild in den früheren Wohnstraßen prägten, fielen buchstäblich auseinander – da machte diese Turnhalle einer Grundschule keine Ausnahme.
Die Deckenplatten, die sicher irgendwann einmal weiß gewesen waren, fehlten zu mindestens fünfzig Prozent. Überall guckten Kabel heraus, man sah die staubigen Metallträger, die alles zusammenhielten.
Die Schlange bewegte sich ätzend langsam voran. Zweimal stolperte sie über den PVC
-Belag am Boden, weil dieser sich an einigen Stellen regelrecht vom Estrich schälte. Sie fragte sich, ob diese Halle überhaupt noch für Sportzwecke genutzt wurde oder ob es zu gefährlich war, weil den Kindern die Decke auf den Kopf krachen könnte. Und wie wahrscheinlich es wohl war, dass sie in den nächsten zwei Stunden einstürzte.
Laura wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen, wollte das Blatt mit den Aufgaben, die sie mittlerweile auswendig konnte, mit zu einem freien Platz nehmen, die Sache durchziehen und dann nichts wie raus hier. Bevor sie doch noch der Mut verließ. Irgendwie machte die ganze Atmosphäre sie nervös. Hier drin und in dieser Gesellschaft hatte sie nichts, was sie von ihren düsteren Gedanken abbringen konnte.
Fenne tot im schmalen Gang zwischen gestapelten Schiffscontainern, die schwarze Mütze über ihren hellblonden Haaren. Zu wenig Blut für
einen tödlichen Schuss.
»Reiß dich zusammen, du tust das hier für sie«, versuchte sie sich zu sagen, während der Typ, der gerade an der Reihe war, in einen Streit mit der Beamtin geriet, die alle Bewerber registrierte.
Am Beginn der Schlange entwickelte sich ein Tumult, der zu einer Schlägerei ausarten konnte. Die Leute drängten nach hinten, und die ordentliche Menschenreihe geriet aus der Form.
Als der volltätowierte Unruhestifter schließlich von zwei Beamten an den Wartenden vorbeigeschleppt wurde, versuchte er, einen der Männer, die ihn mit sich schleiften, in den Arm zu beißen.
»Na dann herzlich willkommen bei der Berliner Polizei, wa?«, hörte sie ein Mädchen in der Schlange feixen. Die Flashtunnels in ihren Ohren waren so groß wie Lauras Handteller; ihre pink geschminkten Lippen bliesen eine enorme Kaugummiblase, die schließlich zerplatzte, als wollte sie ein Ausrufezeichen hinter den Scherz setzen. Auf ihre Bemerkung hin lachten einige der Umstehenden nervös, und das Mädchen grinste zufrieden. Sie konnte kaum älter als siebzehn sein, das Mindestalter für den Polizeidienst in Deutschland.
Das Alter, in dem Fenne und sie sich in Hamburg in eine ganz ähnliche Schlange eingereiht hatten. Verflucht. Jetzt nicht mehr dran denken.
Sie hätte überall hingehen können, nachdem sie aus Hamburg geflohen war. Sie hätte Deutschland sogar komplett den Rücken kehren können, immerhin beherrschte sie vier Sprachen fließend. Doch das hatte sie nicht über sich gebracht. Irgendjemand musste schließlich herausfinden, was in der Nacht im Containerhafen geschehen war. Das war sie Fenne schuldig. Und sich selbst, wenn sie die Hoffnung auf normalen Schlaf nicht endgültig begraben wollte. Das nagende Schuldgefühl kam jede Nacht angeschlichen und setzte sich in der Dunkelheit schwer auf ihre Brust. Völlig egal, was sie sich tagsüber
einzureden versuchte.
Aber musste es ausgerechnet Altberlin sein? St. Pauli war ihr früher schon immer nicht ganz geheuer gewesen, doch das war ein Spaziergang im Vergleich zu dem hier. In Altberlin gab es den Käfig. Und es gab das Utopia Gardens. Den legendären Club, in dem alles existierte, was auf dieser Welt eigentlich nicht existieren sollte. Toleriert und ganz offen mitten in der Stadt. Auf dem Weg hierher hatte sie sogar ein Werbeplakat dafür gesehen. Sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wie das möglich war. Pauli war wenigstens gewachsen, aber das Gardens war erbaut worden. Von berüchtigten Gangster-Brüdern, die sogar ihrer Großmutter ein Begriff waren. Der Oberbürgermeister hatte das rote Band zur Eröffnung zerschnitten und anschließend den Hausherren die Hände geschüttelt. Kein Mensch hatte sich darüber gewundert. Während sie sich hier so umsah, begann sie zu begreifen, warum.
Das Utopia Gardens war der letzte Ort auf der Welt, an dem sie sein wollte, und doch musste sie genau dorthin, wenn sie Fennes Spur folgen wollte. Aber zuerst musste sie in den Käfig, das Herzstück der Altberliner Polizei. Was sie, kurz gesagt, an diesem aschgrauen Nachmittag in die noch grauere Turnhalle geführt hatte.
Hoffentlich ging die Sache gut. Laura war nicht bereit, einfach so ausgebremst zu werden. Sie hatte noch keinen Plan B. Oder vielmehr war es exakt Plan B. B wie beschissenes Berlin.
Die Beamtin am Ende der Schlange warf nur einen kurzen Blick auf ihren gefälschten Ausweis und das polizeiliche Führungszeugnis, das sie sich noch in Hamburg besorgt hatte, aber keinen Blick auf Laura.
Laura nahm die Fragebogen und den bereitgestellten Filzstift entgegen und suchte sich einen freien Platz. Der Plastikstift sah billig aus und war himmelblau, was ihn maximal deplatziert wirken ließ. Doch sie wusste, warum hier Filzstifte verteilt wurden: weil ein Kandidat vor zwei Jahren einem anderen den Kugelschreiber glatt
durch die Handfläche gerammt hatte. Nicht, dass so was mit Filzstiften nicht möglich war. Es war nur schwerer.
Auf das Zeichen der Beamtin hin drehten alle ihre Blätter um.
»Was macht Sie Ihrer Meinung nach zu einem guten Mitglied der Berliner Polizei?«, lautete die erste Frage. Laura legte den Kopf in den Nacken.
Nichts, dachte sie. Überhaupt nichts.
Dann atmete sie durch und schrieb etwas anderes.