Sie standen einander im Ring gegenüber wie antike Gladiatoren. Das war der Teil, den er ganz besonders mochte. Die Sekunden, bevor der Ringrichter das Kommando gab. Wie sie sich gegenseitig abzuschätzen versuchten. Die Körper des jeweils anderen scannten, um herauszufinden, was ihn außergewöhnlich machte. Wo seine Schwächen wohl liegen mochten. Seine Stärken. Vor allem ging es bei diesen Kämpfen sehr viel mehr um die Schwächen des anderen als um die eigenen Stärken. Doch das kapierten die wenigsten.
Wie bei einem Blind Date wussten die Kämpfer hier niemals, auf wen sie treffen würden, wenn man sie in den Ring führte. Es war wie Russisch Roulette, zwar ohne die Kugeln, doch nicht weniger tödlich.
Eigentlich mochte er den Club nicht sonderlich – im Gardens war ihm alles zu künstlich, zu viel, zu laut. Er schätzte es nicht, wenn sich etwas aufdrängte. Doch hier unten, auf dem Fightfloor des dritten Untergeschosses, war es anders. Diese fensterlose Welt auf halbem Weg zur Hölle war das Ehrlichste, was das Utopia Gardens zu bieten hatte. Und für ihn einer der sichersten Orte auf der ganzen Welt. Der enorme, kreisrunde Raum, in dessen Zentrum der hell beleuchtete Ring stand, war wie immer brechend voll. Auf den Rängen, die treppenförmig vom Ring aus nach oben führten, drängten sich die aufgeregten Zuschauer. An den Bars, die auf jedem Rang zu finden waren, beeilten sich die Bardamen, sämtliche Wünsche zu erfüllen, bevor der Kampf begann. Er selbst stand im Auge des Sturms. Direkt am Rand des Rings.
Die Leute scherten sich nicht um ihn, bemerkten ihn nicht einmal. Sie kamen aus Blutdurst und um Wetten abzuschließen, nicht, um einander anzugaffen. Und für Othello Sander war es eine wirklich willkommene Abwechslung, mal nicht angegafft zu werden.
Auf dem Fightfloor herrschte Gier. Nicht nach Neuigkeiten oder Gerüchten, sondern schlicht nach Geld. Jedem einzelnen Besucher stand sie in die Augen geschrieben.
Hier unten konnte er gefahrlos Geschäfte abschließen und Verabredungen wahrnehmen, die an der Oberfläche völlig unmöglich oder nur unter großen Schwierigkeiten realisierbar wären. Es war ein wundersames Phänomen, dass er hier unten Hunderte Zeugen hatte, die ihn doch allesamt ignorierten. Sie waren alle wie Kinder, die hofften, nicht gesehen zu werden, solange sie selbst nicht hinsahen. Bisher hatte es auch immer blendend funktioniert. Nichts, was er hier auf dem Fightfloor trieb, war jemals an die Oberfläche gelangt.
Und doch ging er das Restrisiko ein, dem sich andere Geschäftsleute und Prominente dadurch entzogen, dass sie lächerliche Masken trugen. Othello konnte sich nicht vorstellen, so tief zu sinken. Hier unten war doch jeder erpressbar – darauf fußte das gesamte System. Es ging nicht darum, seine Identität zu verbergen, sondern seine Motive. Die wunden Punkte. Genau wie beim Kampf im Ring. Aber auch das kapierten die wenigsten.
Sie verschanzten sich lieber hinter ihren Bautas und bildeten sich ein, auf diese Weise sicher zu sein. Wohin Othello auch blickte, überall sah er gut gekleidete Männer und Frauen mit den venezianischen Masken. Er wusste, dass sie nicht nur als Tarnung, sondern auch als Code dienten. Die Farben und Formen der Bautas drückten aus, was der Träger suchte. Menschen mit schwarzen Masken wollten einfach nur zuschauen; wer Gold trug, war auf der Suche nach einem Geschäft oder einer lukrativen Wette, Rot stand für Analsex, Silber für ein gleichgeschlechtliches Abenteuer und wer eine Bauta mit besonders langer, spitz zulaufender Nase trug, war auf der Jagd nach dem kulinarischen Kick. Nach Gerichten mit besonders exotischen Zutaten wie vom Aussterben bedrohten oder auf dem Teller noch lebenden Tieren.
Othello fand diese Form der Schwäche abstoßend. Wenn man etwas wollte und bereit war, diesem Bedürfnis nachzugehen, dann sollte man sich verdammt noch mal nicht dafür verstecken. Er hatte sich ja auch nicht versteckt. Sie waren die Oberschicht und standen somit an der Spitze der Nahrungskette jener Spezies, die sowieso an der Spitze der Nahrungskette stand. Menschen wie sie sollten überhaupt keine Angst haben.
Seine Hände spielten mit dem schweren Whiskyglas, der rechte Zeigefinger fuhr den exzellenten Musterschliff nach, während er für sich selbst zu entscheiden versuchte, auf wen der beiden Opponenten er im Zweifel wetten würde. Das machte er immer so. Er war nicht so dumm, sein Geld tatsächlich einzusetzen, doch er liebte es, recht zu haben. Othello war gut darin, andere Menschen zu lesen, und der Fightfloor war ein perfekter Ort, diese Fähigkeit zu trainieren. Also widmete er den Kämpfern im Ring einen Großteil seiner Aufmerksamkeit. Auch um die elenden und abgehalfterten Gestalten, die ihn umgaben, nicht wahrnehmen zu müssen.
Der Kleinere der beiden hatte Angst, das konnte man sehen. Sein Opponent war sicher nicht der Einzige, der die dunkelroten Narben kurz oberhalb der Knie bemerkt hatte. Offenbar war er noch nicht lange dabei; die Nähte waren noch nicht verblasst. Othello hoffte, dass es ein halbwegs ausgeglichener Kampf werden würde, er war zu feingeistig für Gemetzel und mochte es überhaupt nicht, wenn er Zeuge eines solchen wurde. Othello glaubte an Zivilisation und Fortschritt; er war überzeugt davon, dass Macht längst nicht mehr an physischer Stärke gemessen wurde, sondern an psychischer. Die Demonstration körperlicher Überlegenheit kam ihm primitiv, ja geradezu mittelalterlich vor. Und unästhetisch war es obendrein, vom Geruch ganz zu schweigen.
Die Glocke erklang und die Menge fing an zu toben. Der Lärm war schon nach wenigen Sekunden ohrenbetäubend, es entzog sich vollkommen Othellos Horizont, was einen Menschen veranlassen konnte, so zu brüllen, während zwei andere aufeinander eindroschen.
Wobei.
Es war schon eine ziemliche Show, die sie heute Abend zu sehen bekamen.
Der fette Kerl zeigte offenbar gerne, was er hatte; das Grinsen, das er aufgesetzt hatte, als er die Klingen an seinen Fersen und den Handrücken ausfuhr, hätte ihn glatt als Model für Plakatwerbung durchgehen lassen. Momente des ungekünstelten Glücks; so was sah man in Berlin eher selten.
Der Jüngere hatte seine Courage gefunden, er musste hart trainiert haben. Seine Tritte waren kraftvoll und so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum zu verfolgen waren. Es musste einer von Mikaels Männern sein. Der Boss hatte eine Schwäche für Kniegelenke. Sie waren ja auch praktisch. Vielseitig einsetzbar und schwer aufzuspüren. Nur fliegen war mit den Dingern nicht mehr drin, was jedoch für die meisten nicht registrierten Ersatzteile galt. Sie würden in den Ganzkörperscannern am Flughafen sofort bemerkt werden.
Die Geschwindigkeit und Kraft dieser speziellen Gelenke waren allerdings nicht normal. Sie überschritten die Grenzen des eigentlich Machbaren um ein Vielfaches. Othello presste die Kiefer aufeinander. Er könnte schwören, dass der junge Kerl keine Prothesen von Sander Medics trug. Dafür war er viel zu gut. Was Othello da gerade sah, war fast schon unmöglich, keiner in seinem Labor wäre fähig, so etwas zu entwickeln. Weder im Hinblick auf gesetzliche oder technische Möglichkeiten noch in Bezug auf seine Fähigkeiten. Dabei hatte er schon die besten Leute, die Deutschland auf seinem speziellen Berufsfeld zu bieten hatte. Das durfte doch nicht wahr sein!
Die Hand, die sein Glas hielt, begann leicht zu zittern. Und als er dann noch unweigerlich an seine Schwester dachte, wurde das Zittern stärker.
Schneller New Orleans Jazz dröhnte aus unsichtbaren Boxen. Die Luft war erfüllt von Anfeuerungsrufen der verschiedenen Wettlager und von Zigarettenrauch, der von den tief hängenden, alten Lampen angestrahlt träge durch den Raum waberte. Natürlich rauchte hier drin niemand, das hätten Eugene und Mikael niemals zugelassen. Der Rauch wurde künstlich erzeugt und durch versteckte Düsen in den Raum gepustet. Das war eine der Spezialitäten des Clubs: Es wurden perfekte Illusionen geschaffen. Die Bardamen trugen kurze Paillettenkleider mit passenden Hauben, das Sicherheitspersonal steckte in dunklen Anzügen, und ein jeder hatte seinen Hut tief in die Stirn gezogen. Der heilige Ernst, mit dem sie die Maskerade trugen, war kurz davor, in die Lächerlichkeit zu kippen, aber den Gästen schien genau das zu gefallen. In Berlin musste alles immer ein bisschen mehr sein, um das verwöhnte Publikum überhaupt noch zu erreichen.
Othello fühlte eine Hand in seinem Schritt und runzelte die Stirn.
»Was willst du, Nina?«, fragte er, ohne seinen Blick vom Kampf zu lösen.
Die Hand drückte zu. »Die Frage ist vielmehr, was du willst.«
Seufzend wandte sich Othello der Gestalt zu, die neben ihm stand.
Es fiel ihm immer schwer, sie anzusehen. Ninas Augen waren verstörend, das hatte er schon immer so empfunden. Er hatte keine Ahnung, ob sie etwas an ihnen hatte machen lassen oder ob sie Kontaktlinsen trug, damit die Augäpfel aussahen, wie sie aussahen. Genau wie der Rest von ihr erinnerten Ninas Augen in ihrem satten Grün mit dem schmalen, schwarzen Schlitz in der Mitte an eine Schlange. Und das war es auch, was Othello so faszinierte, an manchen Abenden sogar erregte: Im Gegensatz zu den anderen Mädchen im Gardens war sie nicht das Opfer, sondern der Jäger. Nina war unbezähmbar und wild. Exklusivmaterial für sehr reiche Gäste mit einem speziellen Geschmack. Sie hatte ihren Kopf frisch rasiert, ihr makelloser, kaffeebrauner Körper steckte in einem hautengen, grünen Nichts, aus dem ihre perfekt gemachten Brüste gerade weit genug rausblitzten, um ihn nervös zu machen. Das konnte er jetzt alles nicht gebrauchen.
»Verzieh dich!«, sagte er schroff, doch sie ließ nicht locker.
»Du freust dich doch auch, mich zu sehen«, säuselte sie ihm ins Ohr. Es war erstaunlich, dass es ihr überhaupt gelang, bei dem Lärm, der hier unten herrschte. Doch Nina war ein Vollprofi. Othello wusste nicht, ob sie den Club jemals verließ.
Nina lächelte leicht und schlug die Augen nieder. »Ich kann es spüren.«
Othellos Hals wurde trocken. Er würde sich von diesem Flittchen doch jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen! Auf keinen Fall durfte er ihr heute nachgeben. Beim letzten Mal hatte er sich geschworen, dass er es niemals wieder zulassen würde. Die Erinnerungen an seine Treffen mit Nina verdrängte er, so gut es ging. Nicht, weil sie so erregend wären, sondern, weil sie ihn abstießen. Sie war die einzige Frau, die er jemals angebettelt hatte. Und er verachtete nichts auf dieser Welt mehr als Demütigung. Der Grat zwischen Liebe und Hass war so schmal.
Sie allein war der Grund, warum er Mikael nicht auf die Kniegelenke seines Fighters ansprechen konnte. Früher wäre er einfach zu ihm hingegangen und hätte ihn konfrontiert, doch das ging jetzt nicht mehr. Er hatte sich im Netz des Gardens verfranst, war in ihm kleben geblieben wie eine Fliege. Jetzt musste er stillhalten; sonst kam die Spinne und fraß ihn auf. Wenn man sich einmal auf all das hier eingelassen hatte, gab es keinen Weg mehr hinaus. Ein schwacher Moment und alles zerfiel in seine Einzelteile. Kaum etwas bereute Othello mehr als seine Dummheit in Momenten der Schwäche. Für die Nina verantwortlich war.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, und Othello riss den Kopf herum. Er musste einen spektakulären Schlag verpasst haben, der kleine Kerl blutete aus der Schulter. Verdammtes Weibsstück. Sie verdarb ihm sogar den Kampf. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was sie hier gerade riskierte? Seine rechte Hand löste sich vom Glas und schloss sich um Ninas Handgelenk. Es war schmal und zierlich, wie das eines Kindes. Er drückte so fest zu, wie er konnte, und sie ließ ihn los. In ihren Augen sah er kurz etwas Dunkles aufflackern – war es Wut oder Lust? –, bevor sie wieder lächelte. Nina hatte keine Angst vor ihm, und das war es, was ihn besonders an ihr erregte. Auch jetzt.
»Mach, dass du verschwindest!«, grollte er.
»Dafür musst du mich erst loslassen«, zischte sie zurück. Othello gab sie frei und stieß sie von sich. Sie stolperte, doch der Raum war zu voll, um hinzufallen. Ihre Lippen formten noch eine Beleidigung, doch er hatte sich längst wieder abgewandt. Er wollte sie nicht länger ansehen.
Der Kampf begann, ihn zu langweilen. Ganz offensichtlich hatte Nina ihn um die interessantesten Momente gebracht. Mittlerweile blutete der Kleine aus mehreren Wunden. Er sah erbärmlich aus. Als hätte er Todesangst. Doch Mikael würde schon nicht zulassen, dass er starb. Sein Körper war mittlerweile zu wertvoll. Othello rieb sich erschöpft übers Gesicht.
Vielleicht hätte er die Verabredung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben sollen? Es war ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Andererseits kommunizierte er mit diesen Leuten so wenig wie möglich. Er konnte es sich nicht leisten, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Deshalb gab er auch keine Nummer heraus, unter der er zu erreichen war. Was allerdings die Gefahr mit sich brachte, dass er sich, falls etwas schiefgelaufen war, hier noch Stunden die Beine in den Bauch stehen würde.
Deshalb war seine Erleichterung auch recht groß, als er rund dreißig Minuten später spürte, wie etwas Schweres in seine Sakkotasche glitt. Othello nickte knapp, drehte sich aber nicht um. Er wollte nicht sehen, wer ihm das Päckchen gebracht hatte. Noch nie hatte er einen von ihnen gesehen. Nichtwissen war im Gardens der beste Schutz.
Der dritte Kampf des Abends hatte begonnen, aber Othello hatte genug gesehen. Außerdem wollte er noch einen Blick auf das Päckchen werfen, bevor er schlafen ging, und das war hier drin dann doch zu riskant. Wenn zwei Leute wussten, was er mit sich herumtrug, war das schon mehr als genug. Sein Blick glitt zu Mikaels Loge. Wie jede Nacht saß der ältere der beiden Metzger-Brüder ganz oben in seiner verglasten Einzelkabine auf einem weißen Ledersessel, eines der blutjungen Mädchen aus dem Salon Rouge auf dem Schoß. Othello nickte Metzger knapp zu und wartete, bis dieser ebenfalls nickte. Dann trank er aus und verließ den Fightfloor.