»Du hast was?«
Spencer schrie sie an. Normalerweise machte er so was nicht. Doch jetzt war er fuchsteufelswild – so wütend hatte Raven ihn noch nie gesehen. Natürlich hatte sie es ihm sagen müssen, doch sie hatte den Moment so lange wie möglich hinausgezögert. Raven hätte es ihm beichten sollen, nachdem Josh das Bewusstsein verloren hatte, dachte sie jetzt. Doch unter einem Streit hätte ihre Konzentration gelitten. Allerdings hätte es Spencer dann vielleicht nicht gewagt, sie derart anzupflaumen. Weil ja ihre Konzentration gelitten hätte.
Josh war vor einer halben Stunde abgeholt worden. Pacman, der größte Türsteher des Gardens, hatte ihn ohne viel Federlesens einfach über die Schulter geworfen. Raven hoffte, dass die Klammern hielten. Pacman war nicht zimperlich und hatte auf Spencers Mahnung, ein bisschen aufzupassen, nur mit einem Grunzen reagiert. Was war nur aus den guten alten ganzen Sätzen geworden? Subjekt, Prädikat, Objekt – mehr verlangte sie doch gar nicht.
Wenn Raven so darüber nachdachte, konnte sie sich nicht erinnern, ihn jemals sprechen gehört zu haben. Für eine Weile amüsierte sie sich selbst mit der Vorstellung, dass er eine hohe Piepsstimme hatte und
deshalb so wenig sagte.
Gerade räumten sie alles auf. Reinigten das Besteck, wischten die Folie sauber und verstauten alles wieder im Küchenbuffet, damit Spencer am nächsten Vormittag seine arglosen Tattoo-Kunden empfangen konnte. Wenn welche kamen. Manchmal dachte Raven, dass er so schlecht in seinem Job war, dass es für alle ein Segen wäre, Spencer würde sich einen anderen suchen. Aber sprach sie das laut aus? Nein! Weil sie nicht zu den Leuten gehörte, die auf den Fehlern anderer herumritten. Immerhin mochte er, was er tat. Und das traf auf die wenigsten Menschen in dieser Stadt zu.
»Hey!« Er klatschte in die Hände, und Raven zuckte zusammen. »Ich rede mit dir!«
»Jetzt komm wieder runter!« Raven zog das Dokument aus ihrem Kittel und hielt es ihm hin. Mit angeekelter Miene nahm Spencer den Umschlag entgegen und zog das Gerichtsurteil hervor, das er hastig überflog. »Du hast eine Polizistin beklaut? Ernsthaft, Rave?«
Raven nickte. Sie wollte sich nicht kleinlaut fühlen, wollte sich nicht schämen. Das waren Emotionen aus ihrer Kindheit, die hier keinen Platz hatten. Schon gar nicht mit Spencer, verflucht. Die meiste Zeit nahm sie ihn ja nicht einmal richtig ernst. Aber sein Tonfall machte etwas mit ihr. Er ließ ihre Brust eng werden. Ließ sie daran denken, wie klein und leicht sie war. Fragil. Zarte Knochen und dünne Haut. Unwillkürlich fuhr sie mit der Fingerspitze über ihren Nasenrücken. Genau dort, wo der leichte Knick zu spüren war. Als die Erinnerungen kamen, wurde ihr kalt.
Und dann fiel ihr wieder ein, dass sie gerade Skalpelle reinigte. Sie war vielleicht klein, aber sie war sicher nicht mehr wehrlos. Ihre Finger schlossen sich um einen der Messergriffe. Langsam drehte sie sich zu Spencer um, der mit dem Umschlag in der Hand neben dem Operationstisch stand. Sie konnte sehen, dass er mit seinen Fingern blutige Abdrücke auf dem Dokument hinterlassen hatte. Shit.
Raven knallte das Skalpell auf die Anrichte, trat auf Spencer zu und riss ihm den Brief wieder aus der Hand.
»Pass doch auf, verdammt! Ich muss das Ding morgen abgeben!«
»Ja und?«
Raven atmete tief durch. Sie war sich vollkommen sicher, dass es leichter wäre, einem Rauhaardackel zu erklären, wo das Problem lag. Nur mit Mühe konnte sie sich zwingen, ihn anzusehen.
»Ich muss mit diesem Dokument morgen im Käfig aufschlagen, wenn ich meinen Dienst antrete. Und du verteilst gerade fröhlich blutige Fingerabdrücke darauf, weil du zu blöd oder zu stur bist, Handschuhe zu tragen!« Sie hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben, aber irgendwie wollte es Raven nicht so recht gelingen. Die letzten Worte schrie sie beinahe.
Spencers Blick huschte zu den roten Blutspuren auf dem Papier.
»Ohhh.«
»Am Ende denken die, ich hätte vor Strafdienstbeginn noch schnell jemanden umgebracht.« Verärgert stopfte sie ihren Strafbefehl wieder in den Briefumschlag, wobei er mehrfach verknickte. Raven schnaubte. Papier.
»Strafdienst«, murmelte Spencer nachdenklich. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Ich auch nicht.« Raven steckte den Umschlag in ihren Rucksack. »Ist neu.«
»Scheiße Mann, was machen wir denn jetzt? Musstest du unbedingt …?«
Raven schnitt ihm das Wort ab. Sie hatte genug. Genug Blut für eine Nacht, genug gehört und genug gesagt. Und sowieso hatte sie schon genug Vorwürfe, dass es für ein ganzes Leben reichte. Wieso mussten Menschen überhaupt so viel reden?
»Spencer, halt die Klappe!«, sagte sie scharf, und Spencer klappte tatsächlich den Mund zu. Manchmal fragte sie sich, ob sie nur mit ihm
zusammen war, weil er so wenig Probleme machte. Okay, vielleicht auch, weil sie sein Studio brauchte und weil er recht nützlich im Umgang mit den Kunden war. Auf den ganzen Rest könnte sie getrost verzichten.
Sie kniff sich in die Nasenwurzel.
»Ich bin müde, okay? Ich habe gerade zwei Kniegelenke eingesetzt. Das hat über sechs Stunden gedauert, ich habe noch nicht geschlafen, und morgen früh muss ich im Käfig antanzen. Tu mir also einen Gefallen und lass mich für eine Sekunde in Ruhe.«
Er stand da und starrte sie an, ganz offensichtlich unsicher, wie er reagieren sollte. Sein Mienenspiel war ein offenes Buch. Erst wollte er zu einem neuerlichen Streit ansetzen. Dann ließ er es aber doch bleiben. Gut.
»Das betrifft mich genauso wie dich, Rave«, sagte Spencer resigniert. »Wir haben einen Haufen Kunden in nächster Zeit. Wie sollen wir das denn alles schaffen?«
Raven fühlte, wie die Wut aus ihr wich, als hätte jemand den Stöpsel gezogen.
»Ich habe keine Ahnung. Nachts arbeiten?«
Er kratzte sich am Kopf. »Ich kann meine Kunden auf den späten Nachmittag legen und tagsüber schlafen.«
Raven nickte. »Ja, das wäre gut.«
»Und wann schläfst du?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich tot bin?«
»Sehr witzig.«
Raven griff nach ihrer alten Lederjacke und schlüpfte hinein. Für ihre Begriffe hatte sie heute schon viel zu viel gesagt. Sie wollte nicht mehr reden. Schon gar nicht mit Spencer.
»Schau mich nicht so an. Ich habe keine Antworten für dich, Spencer. Manchmal ist das Leben einfach richtig scheiße, aber wir können es nicht ändern, okay?«
Spencer nickte knapp. »Aber du könntest wenigstens sagen, dass es dir leidtut. Immerhin hast du uns da reingeritten.«
Das wollte sie sich jetzt nicht auch noch anhören. Sie schulterte ihren Rucksack, kontrollierte, ob sie ihren Schlüsselbund und ihre Karten dabeihatte, und ging wortlos an Spencer vorbei bis zur Tür.
»Wo willst du denn jetzt hin?«
»Ich gehe rüber«, sagte sie knapp. »Wir sehen uns morgen Abend.«
Ihre Hand lag schon auf der Türklinke. Es war eine von denen, die sie so sehr mochte. Uralt und von den vielen Händen, die sie gedrückt hatten, blank poliert. Die Ränder der glänzenden Messingfläche waren jedoch pechschwarz. Raven wusste, dass es nicht Spencers Schuld war. Aber es war eigentlich nie seine Schuld. Weil er auch nie etwas tat, das irgendwie relevant war. Wer nichts macht, macht nichts falsch. Wer hatte das noch mal gesagt?
Und genau deswegen ertrug sie ihn jetzt nicht mehr. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drückte sie die Klinke hinunter und verschwand im Treppenhaus.
Was sie jetzt brauchte, war kein sinnloser Streit. Sie brauchte Zeit für sich. Ihre Freunde Nina, Lin, die von allen nur »little Cat« genannt wurde, und den stummen Cristobal. Vielleicht ein kleines Tütchen oder ein bisschen Meth. Auszeit für den Kopf.
Raven umrundete das große Gebäude, das sie immer ein wenig an das Kolosseum in Rom erinnerte. Wie sie Eugene und Mikael kannte, war das volle Absicht. Im Gegensatz zu seinem antiken Vorbild hatte das Gardens jedoch keine richtigen Fenster. Die großen, gebogenen Vertiefungen ließen den Club in verschiedenen Farben leuchten, die jeder Stammgast deuten konnte. Heute erstrahlte das Gebäude in leuchtendem Grün und Pink. Es war Dschungelnacht. Sehr gut. »Dreams of Asia« war das einzige Motto, das ihr noch ein bisschen lieber war. Raven hatte eine ausgeprägte Schwäche für Sushi.
Sie hastete durch den einsetzenden Nieselregen über die glitschigen
Pflastersteine, vorbei an ein paar Gästen, die den Club gerade mit dem typischen verklärten Gesichtsausdruck von Menschen verließen, die eine ungeheuerliche Reise hinter sich hatten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen hochgewachsenen Mann in elegantem Anzug, der schnellen Schrittes auf eine wartende schwarze Limousine zuging. Als er den Lichtkegel einer Straßenlaterne passierte, glänzten die goldblonden Locken, die den Kopf wie einen Heiligenschein umrahmten. Othello Sander. Raven schmunzelte. Dann hatte Nina also nicht geblufft. Sie hatte sich tatsächlich den Medizinmagnaten geangelt. Und wieder einmal war Raven froh, dass nicht einmal ihre Freunde wussten, wer sie wirklich war. Alle im Gardens, Eugene und Mikael eingeschlossen, dachten, dass Raven die Einzige war, die mit Dark kommunizieren konnte. Die Mittelsfrau zwischen dem Club und dem legendären Modder. Was zu gleichen Teilen wahr und gelogen war.
Der Mitarbeitereingang war von außen fast nicht zu erkennen. Er verriet sich nur dadurch, dass links oder rechts davon eigentlich immer jemand aus der Küche stand und rauchte oder aufgebracht telefonierte. Die unscheinbare Metalltür daneben war wie der Kaninchenbau aus Alice im Wunderland,
der die eine Welt mit der anderen verband.
Der Typ, der heute neben der Tür stand und rauchte, kam ihr nicht bekannt vor. Hellrote Haare und Sommersprossen, etwas untersetzt und mit einem offenen, fast fröhlichen Gesicht. Was machte einer wie der hier? Sie konnte das Poloshirt unter seiner Kochjacke ja förmlich riechen. Sein Kurzhaarschnitt sah viel zu teuer aus, die Hände wirkten, als hätte er sich noch nie geprügelt. Raven runzelte die Stirn. Alles an ihm sah nach Geld und Frischling aus. Meistens mochte Raven Frischlinge nicht, weil sie entweder dachten, dass sie es besser machen würden als alle anderen, oder schon von Anfang an resigniert waren, weil irgendwas Schlimmes sie in den Backstagebereich des
Clubs gespült hatte.
Als sie sich ihm näherte, lächelte der Typ sogar. Raven rollte mit den Augen. Kurz war sie versucht, ihn zu fragen, wer er war und was zur Hölle er hier zu suchen hatte. Doch dann ließ sie es bleiben und schlüpfte durch die Tür. Er fragte sie noch nicht einmal, wer sie war, oder versuchte, sie am Betreten des Clubs zu hindern. Pussy. Sie gab ihm eine Woche.
Immer wenn Raven durch die Küche ging, kam sie sich vor wie in einem der alten Actionfilme. Sie hatte es schon so oft getan, dass sich eine regelrechte Choreografie etabliert hatte. Und die begann mit »Hey, Raven!« aus Billys Mund. Drei, zwei …
»Hey Raven!« Raven lächelte, denn wenn sie überhaupt noch für irgendjemanden ein Lächeln übrig hatte, dann für Billy. Sie hüpfte über die Getränkekisten, die im Weg herumstanden, wich dem nassen Handtuch aus, mit dem Roberta nach ihr schlug, fing den Apfel auf, den Billy ihr zuwarf. Versicherte, dass es ihr gut ging, und versprach, nachher noch einmal reinzuschauen, wenn der Trubel sich gelegt hatte.
Der Trubel legte sich nie. Und Raven schaute nie noch einmal in der Küche vorbei. Aber es war ein Ritual, und irgendwie gab es ihnen allen ein gutes Gefühl. Als hätten sie es in der Hand.
Diese Küche war die Zwischenwelt. Das Fegefeuer, wenn man so wollte. Hier vermischten sich der Lärm aus dem Erdgeschoss des Gardens mit den Geräuschen von klappernden Töpfen, zischenden Pfannen und dem Geplapper des Küchenteams. Es war immer warm, es roch gut, und es wurde mehr gelacht als draußen auf der Straße oder drinnen im Club.
Raven ging immer durch die Küche, niemals durch einen der offiziellen Eingänge. Nicht weil sie demonstrieren wollte, dass sie es konnte, sondern weil die Küche für sie die Schleuse war. Eine Stahltür als Trennung zwischen ihren beiden Welten war nicht genug.
Sie kam in den Bereich, über den die Kellner herrschten. Hier war sie weniger gern gesehen als in der Küche. Die Kellner rannten in ihren Uniformen mit schweren Tabletts hin und her, stritten mit irgendjemandem herum und beschwerten sich in einer Tour. Die Worte »schon wieder«, »Gast«, »kalt«, »hatte Kaviar bestellt«, »Schwachkopf« schossen wie Schrapnelle durch die Luft. Raven hatte noch nie begriffen, warum die Kellner sich für was Besseres hielten. Sie trugen doch nur Sachen durch die Gegend, die jemand anderes zubereitet hatte. Ihre dunklen Uniformen machten sie nicht zu etwas Besonderem, egal, wie sie sich aufführten. Deshalb tat es ihr auch nicht leid, dass sie störte.
Sich an den wütenden Kellnern vorbeizudrücken war wie ein Slalom. Damit verdiente sie sich noch einmal alles, was jenseits der nächsten Tür lag. Dieser wunderbaren Schwingtür, die mit jedem wütenden Kellner auch ein wenig von der Luft und den Geräuschen des Gardens in den langen Flur vor der Küche brachte.
Hinter der all das lag, was Raven in diesem Augenblick brauchte.
Sie wusste, dass es unvernünftig war. In nur sieben Stunden musste sie am Käfig sein und ihren Strafdienst antreten. Und sie hatte noch nicht geschlafen, geschweige denn geduscht. Unter ihren Fingernägeln klebte Joshs eingetrocknetes Blut. Ein Jahr. Ein gottverschissenes Jahr bei der Berliner Polizei. Sie wollte schreien, wenn sie nur daran dachte. Also dachte sie nicht mehr daran.
Denn das war erst morgen. Jetzt war jetzt.