Er lief jeden Tag zur Arbeit. Obwohl »rennen« es viel besser traf. Den ganzen Weg von seiner Wohnung im Wedding bis zum Käfig am Alexanderplatz – einmal quer durch die Mitte von Altberlin. Er rannte durch die Spuren der vergangenen Nacht, die zu so früher Stunde noch nicht vom Wind oder den Kollegen der Sitte weggeschafft worden waren.
Er rannte nicht, um Kalorien zu verbrennen oder sich fit für den anstrengenden Dienst zu halten. Um attraktiv zu wirken oder gesund zu bleiben. Birol versuchte, all die Wut loszuwerden, die ihn erfüllte. Um sich nicht den ganzen Tag über zusammenreißen zu müssen. Doch das klappte so gut wie nie. Die Wut war sein Mitbewohner, lebte, atmete und wuchs wie ein Parasit in seinem Innern, zog die Strippen und beeinflusste sein Denken und Handeln. Zumindest einen Teil davon, die schmerzhaften Spitzen, die sich über Nacht herausgebildet hatten, konnte er morgens in den Asphalt der Straßen rammen.
Vielleicht versuchte er außerdem, die enge Wohnung möglichst schnell hinter sich zu lassen, die drückenden Erinnerungen und die Erwartungen, die sich in den Teppichen festgesetzt hatten wie das Nikotin aus der Pfeife seines Onkels. Seine Familie, die nun
automatisch davon ausging, dass er sich um alles kümmern würde. Dass Birol derjenige war, der das Geld ranschaffte, das Schulzeug für die Kleinen bezahlte, seiner Schwester die Leviten las, seiner Mutter beim Kochen half, die Elternabende besuchte und dafür sorgte, dass die Familie nicht auseinanderfiel. Dass er in seinem stickigen Kinderzimmer schlief und nicht rummeckerte. Feiern und heiraten konnte er schließlich später noch. Wenn die Kleinen aus dem Gröbsten raus waren oder die Hölle zufror. Eski Tas, eski Hamam.
Birols Leben war geprägt von der familiären Enge; er hatte keinen Ort, an dem er seine Wut lassen konnte, außer auf den Straßen der Stadt. Es tat gut, die Zähne aufeinanderzupressen, schnell und hart durch die Nase zu atmen, die Füße auf den Boden hämmern zu lassen, als wollte er ihn aufbrechen, um die Unterwelt endgültig über die Stadt hinwegfluten zu lassen. Manchmal fragte er sich, was dann wohl alles zum Vorschein käme. Nein, das stimmte nicht ganz. Birol fragte sich nicht, was alles zum Vorschein kommen würde, er wusste es. Er kannte den Dreck, der unter der Oberfläche dieser Stadt lauerte, bereit, durch jeden noch so kleinen Riss in der Fassade ans Tageslicht zu kriechen. Das war es schließlich, wogegen er ankämpfte.
An manchen Tagen fantasierte er auch, dass seine Schritte eines der alten Gebäude, die seinen Arbeitsweg säumten, zum Einsturz brachten. Ein nicht gerade kleiner Teil von ihm wünschte sich sogar genau das. Einen richtigen Knall, der alles zum Einsturz bringen würde. Die perfekte Katastrophe und danach saubere Stille. Nicht so ein Mosaik aus Scheiße wie sein Leben, das sich aus kleinen, dreckigen Stückchen zusammensetzte.
Früher waren seine Wünsche einfacher gewesen: eine Polizeimarke. Ein eigener Schreibtisch. Der Schlüssel zu einem Dienstwagen. Und jetzt? Jetzt war Birol Polizist der Stadt Berlin. Das war sein Platz in dieser Welt. Daran hatte er nie gezweifelt. Er wollte helfen, etwas verändern. Relevant sein. Wozu war er denn sonst hier?
Und ausgerechnet jetzt brodelte die Wut in ihm, so unberechenbar und schwer zu kontrollieren wie ein verwundetes Tier. Sie nahm ihm die Freude, trübte seine Sicht auf die Dinge und vergiftete jeden einzelnen Tag. Manchmal hasste er sich dafür. Meist jedoch hasste er andere.
An diesem Tag hingen dramatische Wolken über der Stadt. Regenschwere Ungetüme, die seiner Stimmung den richtigen Rahmen gaben. Seit geraumer Zeit mochte Birol die Sonne nicht mehr.
Wie immer hörte er einen Block vorher auf zu rennen. Seine Kollegen fanden ihn ja so schon viel zu ambitioniert, da wollte er nicht auch noch den Eindruck erwecken, dass er es nicht abwarten konnte, zur Arbeit zu kommen. Ihr Spott begleitete ihn tagtäglich, da musste er ihn nicht zusätzlich anheizen. Außerdem mochte er es, langsam auf den Käfig zuzugehen. Der Anblick der Polizeiwache veränderte etwas in ihm.
Er hatte nie auf eines der Kuscheldezernate in Neuberlin gewollt. Was sollte er denn dort mit seiner Lebenszeit anfangen? Entlaufene Rassehunde suchen und Nachbarschaftsstreitigkeiten schlichten? Verschwundene Ehemänner aufspüren, Jugendliche zurechtweisen? Sich dafür bestechen lassen, dass er den zigsten Fall häuslicher Gewalt nicht zur Anzeige brachte? Nein, er wollte da arbeiten, wo es richtige Polizeiarbeit zu erledigen gab.
Das große rote Backsteingebäude, das von zwei Reihen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht umgeben war, war für Birol seit seiner Kindheit das Symbol für die Polizei schlechthin. Dort saßen die Menschen, die Vergewaltiger und Mörder dingfest machten. Die dafür sorgten, dass in der Stadt Recht und Ordnung herrschten. Mutige Männer und Frauen, die ihr Leben riskierten für die Bürger dieser Stadt. Das hatte er jedenfalls als Kind immer geglaubt. Und auch heute konnte er sich der Wirkung, die der Anblick des Käfigs auf ihn ausübte, nicht entziehen. Sein Herz machte jedes Mal einen Sprung, wenn er um
die Ecke bog und das Gebäude vor sich sah. Es war schon immer der Ort gewesen, zu dem Birol sich am meisten hingezogen fühlte. Und jetzt konnte er hier sein, wann immer er wollte.
Er grüßte an der Pforte und legte seine Hand zum Scannen auf das Lesegerät. Die Schleusentür summte, und er trat hindurch. Erst wenn die Tür zur Straße hin zugefallen war, begann die andere zu summen. Das sollte verhindern, dass Menschen auf das Gelände der Polizeizentrale in Altberlin Mitte drangen, die dort nicht hingehörten und nicht willkommen waren. Warum auch immer jemand auf diese Idee kommen sollte – doch es war wohl schon vorgekommen.
Aus praktischen Gründen hatte man die Polizeizentrale genauso eingezäunt, wie man es mit einigen Gefängnissen in Berlin getan hatte, und manch einer fühlte sich in dem großen, alten Gebäude genauso eingesperrt. Doch es war notwendig geworden, weil die Zentrale so häufig unflätig beschmiert und schließlich auch beschädigt worden war, dass die Stadt kurzerhand beschlossen hatte, das Gebäude von der Außenwelt abzuschirmen. Das war typisch für das Vorgehen der Obrigkeit in der gesamten Stadt. Es wurden Symptome bekämpft, keine Ursachen. Für Ursachenbekämpfung war einfach kein Geld da.
Er betrat das Gebäude durch einen Seiteneingang. Birol ging nicht gerne die große Treppe hinter dem Haupteingang nach oben, weil er immer das Gefühl hatte, dass die Beamten dort ein Schaulaufen abhielten, als hätte sie jemand zu einem Casting für die nächste Realityshow eingeladen. Man straffte die Schultern, man lächelte verbindlich, man grüßte einander. Bei vielen von ihnen waren das wohl die einzigen Momente ihres Arbeitstages, an denen sie sich wirklich Mühe gaben. Ihm waren die Seitentreppen des ehemaligen Parlamentsgebäudes bedeutend lieber. Schmucklose Steintreppen mit flachen Stufen, die schon seit Jahrhunderten ebenso schmucklose Beamte zu ihren Schreibtischen führten. Denn am Ende waren sie genau das: schmucklose Beamte. Der Polizeidienst, so hatte sich für
ihn sehr schnell herausgestellt, war deutlich weniger glamourös, als er sich das in seiner Kindheit ausgemalt hatte. Sein Bild vom perfekten Polizisten war mittlerweile genauso schäbig und abgenutzt wie die Treppen, die er gerade hinaufstieg. Nicht zum ersten Mal fragte sich Birol, wann diese Treppenhäuser den letzten Anstrich erhalten hatten.
Er wollte duschen, bevor er auf seine Etage ging und sich den Kollegen und dem Alltag stellte. Das war seine Routine. Er rannte, er duschte, er arbeitete. Und er war wütend. Die Wut, die er in sich trug, war zu einem Hintergrundgeräusch geworden, zum Grundgefühl seines Daseins. Nicht immer dominant, aber immer da. Nachts knirschte er so heftig mit den Zähnen, dass er sich bereits ein Stück seines rechten Schneidezahns abgebrochen hatte. Weshalb er nun seinem Cousin Yasin noch ähnlicher sah, was ihn nicht nur besonders ärgerte, sondern vielleicht sogar in Schwierigkeiten bringen konnte. Den meisten Flachhirnen, mit denen Yasin sich tagtäglich anlegte, fiel es ja schon schwer, links und rechts auseinanderzuhalten.
»Hey, Celik!«, hörte er eine Stimme hinter sich rufen, als er gerade den zweiten Treppenabsatz erreicht hatte. Er drehte sich um.
Marion Kaskel schaute zu ihm hoch, die Stirn wie immer leicht gerunzelt. Kaskel sah permanent so aus, als würde sie sich über irgendwas wundern. Oder als müsste sie ohne Sonnenbrille ins grelle Licht schauen.
»Was ist denn?« Birol klang unfreundlicher, als er beabsichtigt hatte, und das Stirnrunzeln auf Kaskels Gesicht vertiefte sich.
»Hinnerk sucht dich.«
Birol seufzte. Da ging sie hin, seine heiße Dusche. Normalerweise war Hinnerk um diese Zeit noch gar nicht im Käfig anzutreffen.
»Ist was passiert?«, fragte er und stieg ein paar Stufen zu ihr hinab.
Kaskel zuckte mit den Schultern. Doch ihre Gesichtszüge wurden weicher, und sie sah Birol mitfühlend an. Er hasste es, wenn Frauen das taten. Als könnten sie lesen, was gerade in ihm vorging. Und am
meisten störte ihn daran, dass es stimmte. Denn tatsächlich hoffte Birol gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass Hinnerk ihn sprechen wollte, weil es endlich Neuigkeiten gab.
»Ich bin nur der Bote«, sagte Kaskel knapp. »Du wirst schon selbst zu ihm müssen. Er ist in seinem Büro und wartet auf dich.«
Das war typisch Hinnerk. Eine jüngere Kollegin loszuschicken, anstatt einfach an der Pforte Bescheid zu sagen, damit man Birol benachrichtigen konnte, wenn er eintraf. Hinnerk spielte seine Position gerne aus. Einfach nur, weil er es konnte.
Wenn man es genau nahm, war es das Einzige, mit dem Hinnerk seine kurzen Arbeitstage füllte. Denn er bewegte sich grundsätzlich so wenig wie nur irgend möglich. Wahrscheinlich hielt sich der feiste Mann für eine Art König, jedenfalls benahm er sich so.
Auf dem Weg zu Hinnerks Büro nahm Birol immer zwei Treppenstufen auf einmal. Gegen seinen Willen war er neugierig. Hinnerk rief einen nur in sein Büro, wenn es wirklich wichtig war. Sonst störte man ihn ja nur beim Nichtstun.
Birol klopfte an die Bürotür und wartete, bis er hereingebeten wurde.
Hinnerk saß wie immer hinter seinem Schreibtisch, die Kaffeetasse mit der Aufschrift »Hot Boss« vor sich, die schon diverse braune Ringe auf der hellen Kunststoffplatte hinterlassen hatte.
»Celik!«, bellte Hinnerk. »Komm rein, komm rein. Setz dich!«
Birol nickte, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen der abgewetzten blauen Besucherstühle vor dem Schreibtisch.
Von seinen Ambitionen einmal abgesehen, war an Hinnerk Blume alles riesig. Der Mann war über zwei Meter groß, hatte Hände wie Baustellenschaufeln, und seine Schuhe konnten einem Kleinkind eine Fahrt über die Spree ermöglichen. An sich alles keine schlechten Eigenschaften, wenn man diese Position bekleidete. Fragte man Birol, so endete Hinnerks Qualifikation allerdings an seinen polierten
Schuhspitzen. Was er sich natürlich nicht anmerken ließ. Stattdessen faltete er die Hände im Schoß und sah seinen Chef abwartend an.
»Birol, mein Junge, heute ist dein großer Tag«, bellte dieser und grinste breit.
Birol konnte sich schon denken, was das bedeutete: mehr Arbeit.
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, entgegnete er lächelnd.
»Unser Celik. Immer ein Witzbold!« Hinnerk schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und brachte die Kaffeetasse zum Überschwappen.
»Jovial« war das Wort, das Hinnerks Attitüde wohl am besten beschrieb. Birol hoffte, dass er möglichst schnell zum Punkt kam.
»Du bekommst eine neue Aufgabe, mein Junge«, fuhr Hinnerk fort.
Aha. Birols Lächeln verkrampfte sich.
»Eine neue Aufgabe?«, fragte er so ruhig wie möglich. »Aber ich bin doch erst ein paar Wochen bei Dengler im Team.«
Hinnerk schüttelte bedeutungsschwanger den Kopf. »Birol, wir wissen doch beide, dass du nicht dazu bestimmt bist, den Rest deines Lebens kleine Dealer hochzunehmen.«
Das stimmte allerdings. Aber nicht nur, weil Birol zu ehrgeizig für die Arbeit beim Drogendezernat war, sondern auch, weil er jeden zweiten Tag mit einem seiner Cousins zu tun hatte, was sowohl sein Privat- als auch sein Berufsleben deutlich erschwerte.
Hinnerk schüttelte den Kopf und brachte damit seine dünnen Haare, die Birol immer ein bisschen an Vogelfedern erinnerten, in Wallung. »Du gehörst in die Mordkommission!«
Birol glaubte sich verhört zu haben. Was sagte Hinnerk da gerade?
»Was?«, fragte er dann auch gleich ungläubig, noch bevor er sich zurückhalten konnte. Normalerweise dauerte es Jahre, bis ein gewöhnlicher Polizist zur Mordkommission gerufen wurde. Man musste sich seine Sporen erst verdienen; musste erst zeigen, was in einem steckte, bevor man »mit den Großen« spielen durfte. Hatte er
sich wirklich dermaßen gut geschlagen? Oder war die Polizei von Altberlin noch verzweifelter, als er gedacht hatte?
Als Hinnerk seinen Gesichtsausdruck auffing, brach er in schallendes Gelächter aus.
»Jetzt guck doch nicht so, Kleiner. Sonst muss ich ja Angst haben, dass du tot umkippst, wenn ich weiterspreche!«
Birol schüttelte den Kopf und mühte sich um ein weiteres Lächeln. Was kam denn jetzt noch?
»Ich habe mich gefragt: Was soll’s?« Hinnerk stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und zeigte mit beiden Zeigefingern auf Birol. »Es war ein neuer Job zu vergeben, und ich habe zu mir selbst gesagt: Der Birol, das ist dein bester Mann im Moment.« Hinnerk lehnte sich wieder zurück. »Klar, vielleicht ist er noch jung, hat gerade die Prüfung hinter sich, aber hey! Der Junge hat die Polizeiarbeit im Blut!«
Birols Wirbelsäule versteifte sich. Er ahnte, dass dieses Gespräch in keine gute Richtung strebte.
Hinnerk klatschte in die Hände. Er wirkte so fröhlich und aufgekratzt, dass es Birol nicht gewundert hätte, wenn er was genommen hätte. Dazu gab es diverse Gerüchte. Angeblich hatten sich einige Kleinkriminelle ihre Freiheit schon in Naturalien erkauft. Hinnerks Augen glitzerten.
»Du bekommst ein eigenes Team!«
Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Was?« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung.
»Was, was, was. Mehr hast du dazu nicht zu sagen, Celik?«
Birol lachte verunsichert. Er wartete auf den Haken. Irgendwo musste der ja versteckt sein; sein gesamtes Leben bestand quasi aus Haken. »Wie? Also, ich meine … Danke!« Himmel, er konnte sich selbst kaum zuhören.
Hinnerk lachte so laut, dass er sich den enormen Bauch festhalten musste.
»Du hast doch sicher schon vom neuen Strafdienst gehört, mein Junge, oder?«, fragte er, nachdem er sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte.
Ah. Da war er also, der Haken. »Dem Alternativprogramm zur Haft?«, fragte er.
Hinnerk nickte. »Genau dieses Programm meine ich. Die Stadt weiß nicht mehr, wohin mit den ganzen unverbesserlichen Straftätern und drückt sie uns aufs Auge. Wir sollen sie nicht nur einfangen, sondern neuerdings noch mit ihnen arbeiten, damit sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden.« Er schnaubte und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Birol meinte ihn leise »als ob« in das Gefäß nuscheln zu hören.
»Ich verstehe nicht ganz, was das mit mir zu tun hat«, bemerkte er höflich.
»Wir haben einen der ersten Strafdienste auszuführen, was dich nicht weiter überraschen dürfte. Irgendwie ja auch verständlich, immerhin dürften wir das abschreckendste Dezernat sein, das Berlin zu bieten hat.« Hinnerk lachte erneut, und es klang ungesund, als hätte er Kieselsteine in der Kehle. »Der- oder diejenige tritt heute den Dienst bei uns an. Außerdem kommt noch eine Auszubildende zu uns. Du wirst dich der beiden annehmen und ihre Fortschritte sowie die Fehltritte protokollieren. Ihr untersteht mir direkt, du berichtest immer nur mir und nimmst immer nur von mir Aufgaben an.«
Birol unterdrückte ein Stöhnen. Mit diesem Haken hätte man ein Seeungeheuer fangen können. Einhändig. Er sollte sich jetzt also um diejenigen kümmern, die hier sonst keiner haben wollte. Eine wunderbare Gelegenheit, sie alle gemeinsam loszuwerden. Den Streber, den Azubi und den Kriminellen. Sollten sie sich doch miteinander beschäftigen, dann hatten alle anderen wieder ihre Ruhe. Seine Wut hatte die letzten Minuten friedlich vor sich hin geschlummert. Jetzt wachte sie wieder auf.
»Und wie soll das Ganze dann heißen?«, fragte er und merkte, wie seine Wangen zu glühen begannen. »Kommando Kindergarten?«
Hinnerk kicherte. Für ihn war das Ganze einfach ein einziger großer Spaß. Sicher wartete er bereits jetzt darauf, dass Birols Team seine ersten Fehler machte. »Du kannst ja richtig kreativ sein! Wenn du möchtest, dann können wir den Namen gerne aufnehmen. Die Kollegen gewöhnen sich sicher schnell daran.«
Birol schnaubte und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch bescheuert«, sagte er, und sein Chef wurde ernst.
»Nein, das ist es nicht. Und ich verlange von dir, dass du diesen Job mit genau der gleichen Gründlichkeit und Zuverlässigkeit ausführst, die ich an dir so schätze. Wen sollte ich denn sonst abstellen, den beiden Neuen ein Vorbild zu sein, wenn nicht dich?«
Er breitete die Arme aus und zog seine buschigen roten Augenbrauen nach oben. »Fällt dir da vielleicht jemand ein?«
Natürlich nicht. Hinnerk hatte ja recht. Wenn man etwas über Hinnerk Blume sagen konnte, dann, dass er seine Truppe recht gut kannte. Birol fragte sich nicht zum ersten Mal, wie der Mann das überhaupt anstellte, wo er doch so gut wie nie seinen Schreibtischstuhl verließ.
Es gab tatsächlich niemand Besseren für den Job. Für die meisten war der Käfig absolute Karriereendstation. Hier landete man eigentlich, anstatt zu starten. Entweder weil man seine Prüfungen miserabel abgeschlossen hatte oder weil man sich im Dienst etwas hatte zuschulden kommen lassen. Oder beides. Außer ihm war niemand freiwillig hier. Was bedeutete, dass der Altersdurchschnitt hoch und die Moral niedrig war. Birol zuckte die Schultern.
»Na eben! Wir alle müssen mit dem zurechtkommen, was uns zur Verfügung steht. Also mach das Beste draus!«
Hinnerk schob eine schmale Pappmappe über den Schreibtisch, auf der ein einzelner Schlüssel lag.
»Was ist das?«
»Der Schlüssel zu eurem neuen Büro und euer erster Fall. Die Leiche wurde bis jetzt nur aufgefunden, sonst wurde noch nichts unternommen. Die beiden Neulinge kommen in einer Stunde. Zeit genug, zu duschen, du stinkst wie ein Wiesel auf Entzug. Begrüß dein Team und dann ab zum Tatort. Mach mich stolz, Junge.«
Birol nickte und nahm die Mappe entgegen. Mit steifen Fingern klappte er sie auf und starrte auf das Foto, das über eine kurze Fundnotiz geklebt war. Ihm drehte sich der Magen um, und Birol war froh, dass er noch nichts gegessen hatte.
Als er den Blick wieder hob, grinste Hinnerk ihn an. Beinahe hatte Birol das Gefühl, dass sein Chef darauf wartete, dass er sich verriet. Auf den Boden kotzte oder umkippte. Aber diesen Gefallen würde er Hinnerk ganz sicher nicht tun.
Er klappte die Mappe wieder zu.
»Sonst noch was?«
»Nein, nein. Ab mit dir! Ich hab zu tun.«
Klar doch. Birol stand auf und ging zur Tür. Beim Hinausgehen hörte er Hinnerk noch sagen: »Mach deinen Vater stolz!«
Er presste den Kiefer so fest zusammen, wie er konnte, und schloss die Tür ganz sanft und ganz leise. Weil er sie eigentlich mit aller Kraft zuknallen wollte.
Draußen lehnte er sich einen Moment mit geschlossenen Augen gegen das Türblatt. Er wusste, dass die vorbeigehenden Kollegen ihre Schlüsse ziehen würden, doch das war ihm egal. Es würde nicht sonderlich lange dauern, bis sich die Neuigkeit in jeden Winkel des Käfigs verbreitet hatte.
Als er an diesem Morgen aufgestanden war, hatte er noch nichts dergleichen vorausgesehen. Wenn diese Sache eines war, dann zumindest ein interessanter Wochenbeginn. Birol konnte sich allerdings nicht vorstellen, wie dabei irgendetwas Gutes
herauskommen sollte.