Wie in Trance wühlte er sich durch die Leute. Wenn der Club nachts ein Moloch war, so war er tagsüber die Hölle. Denn tagsüber fand hier der Zirkus statt. Elefanten, Flamingos, Tiger und Familien. Überall Familien. Kleine grinsende Monster mit ihren klebrigen Fingern und ihren Bedürfnissen; stolze Eltern mit ihren Beschützerinstinkten. Babysprache. Alles roch nach Popcorn und heiler Scheißwelt.
Wenn er konnte, hielt er sich so weit wie möglich von solchen Ansammlungen menschlicher Sentimentalitäten fern. Er hasste Familien. Sie kotzten ihn an. Wenn er könnte, würde er die Familie als Konzept obsolet machen. Sie sollte nicht mehr so wichtig sein, immerhin lebten sie doch bald im zweiundzwanzigsten Jahrhundert. Der Mensch sollte solche sozialen Gefüge eigentlich schon längst überwunden haben. Diese Spezies wäre zu so viel mehr fähig, wenn sie sich endlich von ihren verkrusteten Strukturen lösen würde. Othello war bereit, der Menschheit genau dabei zu helfen. Er arbeitete daran.
Der Inhalt des Päckchens hatte ihn derart aufgewühlt, dass er nicht eingeschlafen war. Er hatte noch mehr getrunken, hatte überlegt, sich eine Hure kommen zu lassen, doch die waren kein Vergleich zu Nina. Und wenn sie langweilig und berechenbar waren, dann machten sie ihn nur noch wütender. Er wollte seinen Zorn nicht an irgendeiner armen Seele aus den Ostblockstaaten auslassen, die nicht einmal verstand, wo überhaupt das Problem lag.
Das Problem. Eigentlich ein viel zu kleines Wort für das, was hier gerade abging. Othello hatte kein Problem. Er hatte Ophelia.
Niemand konnte etwas dafür, dass seine Schwester ihn betrog. Dass sie versuchte, ihn zu untergraben, seine Position zu ergattern, ihn vom Thron zu stoßen. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – und Ophelia Sander standen beinahe grenzenlose Mittel zur Verfügung. Wirtschaftlich gesehen, stand sie sogar besser da als er, und dennoch würde sie nicht lockerlassen, würde nicht eher ruhen, bis sie ihren jüngeren Bruder vernichtet hatte. Was sein Auftragnehmer ihm heute Nacht gebracht hatte, hatte seinen Verdacht bestärkt.
Ophelia. Wie sehr er doch hoffte, sie würde einfach tot umfallen.
Es gab nur einen Menschen, der in der Lage war, jetzt noch seine Wut in fruchtbare Bahnen zu lenken. Sie aus ihm herauszusaugen wie Gift. Doch er hatte keine Ahnung, wo Nina tagsüber war. Unter all der lächerlichen Schminke und bei dieser albernen Musik erkannte er kaum jemanden wieder.
Als die Show losging, verfluchte sich Othello dafür, überhaupt hierhergekommen zu sein. Es war riskant, sich tagsüber im Zirkus zu zeigen. Am Ende fotografierte ihn noch jemand und dann gingen die Gerüchte wieder los. Ob er nicht vielleicht endlich die Liebe gefunden hätte. Ob es einen Erben für sein Imperium gab. Himmel. Liebe war das Allerletzte, was er jetzt wollte.
Tagsüber kam niemand in die unteren drei Stockwerke des Gardens. In der Zeit wurden Kotze und Sperma weggeputzt, die Bars wurden aufgefüllt, Wunden wurden genäht und Geld gezählt. Es hieß, dass die Mitarbeiter, die Mikael und Eugene mittlerweile gehörten, tagsüber unten auf dem Boden schliefen. Er wusste nicht, ob Nina zu diesen Leuten zählte.
»Ich habe gewusst, dass du mich vermissen würdest«, säuselte eine Stimme direkt an seinem Ohr, und er zuckte zusammen. Nina. Sie fand ihn immer. Er wollte sich zu ihr umdrehen, doch sie hielt ihn zurück.
»Schhhhhh… Nicht doch. Dreh dich nicht um. Wir wollen doch die lieben Kleinen nicht verschrecken, oder?«
Er stand wie ein Idiot zwischen zwei Stuhlreihen und sah dabei zu, wie sich eine Anakonda einen Giraffenhals hochschlängelte, während ein kleiner dicker Junge in der ersten Reihe seinem Vater in einem Wutanfall ein Softgetränk überschüttete. Ach, es musste so schön sein. Ninas Hand verschwand in seinem Hosenbund.
»Ich muss dich sehen«, raunte er.
»Das geht nicht. Komm heute Abend wieder.«
Alleine beim Gedanken, noch gute acht Stunden warten zu müssen, zog sich in Othello alles zusammen.
»Nein«, grollte er drohend. »Jetzt.«
Er wusste, dass die kleinste Demonstration seiner Macht Ninas Knöpfe drückte. Er zahlte sie zwar, doch er war sich ziemlich sicher, dass sie mehr von ihm bekam als nur Geld. Doch sie schwieg. Er musste seine Strategie folglich anpassen.
»Ich tue alles, was du willst«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Und nun konnte er hören, wie sie hinter seinem Rücken lächelte. Ihre Finger zogen sich wieder zurück.
»Zähl bis zwanzig. Langsam. Dann drehst du dich um und läufst zur letzten Bar vor dem Ausgang. Sergio wird dir einen Zettel geben.«
Er nickte. Dann begann er langsam, bis zwanzig zu zählen, wobei er sich wie ein Idiot vorkam. Erinnerungen an seine Kindheit kamen hoch, an lange verregnete Nachmittage im Labor, an denen Ophelia und er zwischen den Versuchstischen Verstecken gespielt hatten. Ihm wurde übel. Othello fragte sich, ob er nicht vielleicht auch jetzt Teil eines abgekarteten Spiels war. Immerhin hatte Nina ihn in diesem Wust aus Menschen gefunden. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass sie genau auf diese Situation vorbereitet gewesen war. Leicht verwirrt stellte er fest, dass ihm all das egal war.
Erfüllt von freudiger Erregung drehte er sich um und ging mit langen, festen Schritten in Richtung Bar. Und damit in Richtung Vergessen.