Er fuhr den Streifenwagen und hatte die beiden Frauen auf dem Rücksitz platziert. Nun beobachtete er sie im Rückspiegel. Birol fühlte sich mehr als nur ein bisschen verarscht. Er hatte zwei Frauen? Echt jetzt? Nicht nur zwei Frauen, sondern zwei echt merkwürdige Frauen. Die eine war weiß wie Schnee, klaute wie ein Rabe und hieß auch noch so. Außerdem schaffte sie es mit nur einem spöttischen Blick, dass er sich komplett dämlich und fehl am Platz fühlte. Und die andere machte ihn, wenn möglich, noch nervöser. Sagte kaum was und wirkte so … er konnte es nicht anders ausdrücken: reif. Dabei war sie erst siebzehn, er hatte ihre Papiere durchgesehen. Dennoch wirkten ihre Augen älter, als hätten sie schon mehr gesehen, als ihr guttat. Aber hatten sie das nicht alle?
Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie er mit diesen beiden überhaupt vernünftig arbeiten sollte. Und wenn man ehrlich war: Er wusste ja nicht einmal, ob er selbst in der Lage dazu war.
Raven saß mit verschränkten Armen auf der rechten Seite und starrte aus dem Fenster. Birol konnte nicht begreifen, dass überhaupt Menschen existierten, die dermaßen weiß waren. Und wieso hatte man sie dann Raven genannt, verflucht? Wer tat seinem Kind denn so was
an? In ihrer Aktennotiz hatte gestanden, dass sie schon über zehn Mal wegen Diebstahlsdelikten vor Gericht gestanden hatte. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie jemand unbemerkt etwas mitgehen lassen konnte, der komplett weiß war. Sie fiel ja überall auf. Vielleicht war sie auch jedes Mal erwischt worden, doch das konnte er sich ebenfalls nicht vorstellen. Dumm wirkte sie nicht, ganz im Gegenteil. Bestimmt hatte sie eine Krankheit, so was konnte ja nicht normal sein. Selbst ihre Lippen hatten kaum Farbe.
Martha blickte ebenfalls aus dem Fenster, nur schaute sie wesentlich neugieriger in die Welt. Was Birol ebenfalls verwunderte, sagte ihr Ausweis doch, dass sie in Berlin geboren und aufgewachsen war. Ein besonders großes Schlagloch ließ den Wagen wackeln und zwang seine Aufmerksamkeit zurück auf die Straße.
Schon seit vielen Minuten teilten sie sich die Luft im Auto schweigend. Er musste etwas sagen. Es war seine Aufgabe, etwas zu sagen.
»Martha?«
Sie reagierte nicht.
»Martha?«
Raven streckte einen Arm aus, um Martha in die Seite zu piksen, ohne dabei den Blick zu wenden.
Martha lächelte ihn im Rückspiegel an. »Entschuldige, ich war gerade in Gedanken.«
Birol brummte. Er fragte sich, ob es ebenfalls seine Aufgabe war, autoritär zu sein. Vielleicht sollte er Martha anschnauzen, weil sie nicht direkt reagiert hatte. Doch dann entschied er sich dagegen. Es war ihr erster Tag. Der Himmel alleine wusste, wie lange er es mit diesen beiden aushalten musste.
»Du bist nicht von hier, oder?«, fragte er, während er das Auto von der Münzstraße endlich in die Alte Schönhauser Straße lenkte.
Marthas Blick huschte hin und her, als versuchte sie, die Antwort
irgendwo auf der Chassis des alten Mercedes zu finden.
»Wie kommst du darauf?«, fragte sie.
Birol lächelte. »Du schaust aus dem Fenster, als wärst du das erste Mal hier.«
Martha lächelte wieder. Ihre makellosen, weißen Zähne standen dermaßen gerade, dass es unecht wirkte. Entweder hatte sie sehr viel Glück gehabt, oder dieses Lächeln hatte ein Vermögen gekostet.
»Ich wohne außerhalb«, sagte Martha. »Am Rand von Neuberlin, da, wo es langsam grüner wird. Ich komme nicht so oft in diese Ecke.«
Birol nickte. Das hatte er sich schon gedacht. »Aber warum wolltest du dann unbedingt im Käfig lernen? Mit deinen Testergebnissen hättest du überall anfangen können.«
Martha zuckte die Schulter. »Was hätte ich denn dort lernen sollen? Ich will Polizistin werden, kein Kindermädchen.«
Diese Antwort überraschte Birol. Martha sah nicht aus wie jemand, der sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, wie es war, im Käfig Dienst zu schieben. Mit ihrem schwarzen Bob und den Grübchen in den Wangen. Er musste zugeben, dass sie ihn beeindruckte. Auch wenn er nicht sicher war, ob sie in der Lage war zu verdauen, was sie gleich zu sehen bekam. Dann würde sich zeigen, ob sie ihrer Wahl gewachsen war. Oder er seiner, wenn er schon dabei war.
Das Zentrum um den Alexanderplatz herum war noch in relativ gutem Zustand, wenn man Altberlin als Ganzes betrachtete. Hier gab es ein paar kleine Supermärkte, Dönerbuden, Technikshops und Bordelle, ein bisschen von allem eben. Leute tummelten sich auf den Straßen oder drückten sich vor ihren Ladengeschäften herum. Rauchten, sprachen miteinander, bastelten an irgendwelchen Sachen herum. Vor allem Menschen aus anderen Ländern hatten sich hier niedergelassen; aus Asien und Afrika. Mit ihrem Erfindungsreichtum sorgten sie dafür, dass dieses Viertel irgendwie funktionierte. Dadurch hatte es seinen ganz eigenen Charakter bekommen.
Doch sobald man weiter in Richtung Pankow fuhr, wurden die Straßen leerer. Was hauptsächlich daran lag, dass hier früher die reichen Leute gewohnt hatten. Diejenigen, die es sich als Erstes hatten leisten können, in einen der Wohntürme zu ziehen. Paradoxerweise waren die ärmeren Viertel von Altberlin – Wedding, Reinickendorf, Neukölln – heute die Gegenden, in denen es sich noch recht ordentlich leben ließ, während Prenzlauer Berg, Zehlendorf, Pankow und Schöneberg beispielsweise beinahe vollkommen leer standen.
Weshalb es auch kein Problem war, vor dem Haus, in dem sich die Leiche laut seiner Informationen befand, einen Parkplatz zu ergattern. Raven schaute auf, als der Wagen stoppte. Sie sah aus, als hätte sie die vergangene Nacht nicht geschlafen, und Birol fragte sich, ob die roten Ränder um ihre Augen der mysteriösen Krankheit geschuldet waren oder doch eher von irgendwelchen Drogen kamen. Sie waren das Einzige in ihrem Gesicht, das überhaupt eine Farbe aufwies.
»Hier sind wir«, sagte er und schnallte sich ab. Martha runzelte die Stirn.
»Hier?«
Birol checkte die Adresse auf dem Zettel, dann nickte er.
»Vierter Stock.«
»Warum ist denn sonst noch keiner da? Spurensicherung, Kriminaltechnik und so weiter?«
Birol schüttelte den Kopf. Sie hatte ja recht, aber für ihren ersten Tag war sie ganz schön vorlaut.
»Schätze, das gehört zu deinem Ausbildungsprogramm«, antwortete er leichthin und stemmte sich aus dem Wagen. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
Das Wohnhaus, das sich der Tote zum Sterben ausgesucht hatte, war typisch für diese Gegend. Gebaut zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit fünf hohen Stockwerken, rostigen Balkonen an der
Außenfassade und jeder Menge Rattenkot im Treppenhaus. Natürlich gab es keinen Aufzug. Das war eines der Dinge, die Birol an diesen alten Häusern so hasste. Wie konnten Leute freiwillig Treppen steigen, wenn sie es eigentlich nicht müssten?
Ohnehin gab es ihm große Rätsel auf, wie man ohne Not sein Dasein in einem solchen Haus fristen konnte. Der Staat stellte für alle Bürger menschenwürdige Behausungen bereit. Mitsamt Aufzug und ohne Ungeziefer. Aber was wusste er denn schon? Er wohnte schließlich noch in seinem Kinderzimmer.
Meistens wohnten Menschen in solchen Häusern, die nicht gefunden werden wollten. Kleinkriminelle, Illegale … und Cheater. Alleine beim Gedanken daran musste Birol wieder die Kiefer aufeinanderpressen. Abschaum, elender.
Er ging voran, und die beiden Frauen folgten ihm. Sie hatten die ganze Zeit über nicht gesprochen, doch die Stille zwischen ihnen nahm nun eine völlig neue Dimension an. Es war merkwürdig zu wissen, dass man auf eine Leiche treffen würde, die alleine in einem Zimmer lag. Martha hatte schließlich recht. Normalerweise wimmelte es an einem Fundort zu diesem Zeitpunkt schon von Polizisten. Die Streife, die den Körper gefunden hatte, die Spurensicherung, die Kriminaltechnik. Doch in diesem Fall hatte Hinnerk ihm und seinem frischgebackenen Team die Koordination überlassen. Der Himmel wusste, warum. Vielleicht, um ihn direkt ins kalte Wasser zu werfen oder einfach nur zu Hinnerks Vergnügen. Wahrscheinlicher aber war, dass Hinnerk als Erster Wind von der Leiche bekommen hatte und keine Lust hatte, auch nur einen Finger krumm zu machen. Sicherlich war der Typ, den sie gleich finden würden, auch viel zu unwichtig, um die Zeit von gestandenen Polizisten zu verschwenden. Birol war leider schon lange genug im Käfig, um zu wissen, dass dies durchaus eine Möglichkeit war.
Zu diesem Zeitpunkt war er selbst der Einzige, der wusste, was
genau dort oben auf sie wartete. Wenn er gekonnt hätte, wäre er rückwärtsgelaufen. Doch es stärkte ihn zu wissen, dass sich die anderen beiden auf ihn verließen. Der Starke sein zu müssen war in Birols Leben schon immer ein verlässlicher Motor gewesen.
Es wäre ihm nur lieber gewesen, in diesem Haus hätten noch ein paar andere Leute gelebt. So war das Ganze doch ganz schön unheimlich.
Sämtliche Lampen im Treppenhaus waren ausgefallen, und so waren sie gezwungen, im schummrigen Licht die Treppen hinaufzusteigen, das durch die dreckverschmierten Flurfenster schien. Nur da, wo einzelne Scheiben fehlten, fiel genug Licht auf die Stufen, um sicher sein zu können, dass man nicht in irgendetwas hineintrat.
Als sie den vierten Stock erreichten, spürte Birol seinen Adrenalinpegel steigen. Er wandte sich zu den beiden Frauen um. So tough ihm Raven bisher auch vorgekommen war – gerade hatte er den Eindruck, dass sie sich hinter Marthas Rücken versteckte.
Martha indes sah sich aufmerksam um.
»Die Tür steht einen Spaltbreit offen«, bemerkte sie.
Birol runzelte die Stirn. Die Tür zur fraglichen Wohnung war tatsächlich lediglich angelehnt worden, und niemand hatte den Fundort mit einem Siegel oder nur einem Flatterband gesichert. Merkwürdig. Er zog sein Tablet hervor und tippte darauf herum.
Die Adresse war auch noch nicht als Leichenfundort im System erfasst.
Kälte kroch seine Wirbelsäule hoch. Das war doch alles reichlich merkwürdig. Selbst Hinnerk war eigentlich nicht dermaßen schlampig. Wer auch immer den Toten gefunden hatte, hätte wenigstens sicherstellen können, dass der Körper nicht von Ratten angenagt wurde.
War das vielleicht eine Falle? Sollte er etwa genauso enden wie sein
Vater? Birol schloss für einen kurzen Moment die Augen und mahnte sich zur Besonnenheit. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die Nerven zu verlieren.
»Gehen wir jetzt rein, oder was?«, fragte Raven, und er zuckte zusammen, weil es schon so lange her war, dass er das letzte Mal ihre Stimme gehört hatte.
Sein Daumen glitt zu der Waffe an seinem Gürtel. Er zog sie aus dem Holster und entsicherte sie, hob sie jedoch nicht. Er wollte die beiden nicht allzu nervös machen. »Ihr bleibt dicht hinter mir«, forderte er mit fester Stimme.
»Ich dachte, der Typ ist tot?«, hörte er Raven dann auch schon murmeln. Und weil es auf eine Art schlimmer war, dazustehen und darüber nachzudenken, hob Birol das rechte Bein und stieß die Tür auf.
Ihnen schlug ein intensiver Geruch entgegen. Aber nicht nach totem Menschen, sondern nach Bratfett. Und nach Exkrementen. Birol drehte sich der Magen um.
»Hier riecht es ja wie in einer Imbissbude«, murmelte Martha leicht angewidert, während er die ersten Schritte in die Wohnung hineinging und die Dielen im Flur unter seinem Gewicht quietschend protestierten.
Ein weiterer Grund, weshalb er diese alten Wohnungen nicht mochte. Holzboden. Der Schmutz sammelte sich in sämtlichen Ritzen, und es war unmöglich, sich leise durch die Räume zu bewegen. Selbst wenn man in Socken ging und so leicht war wie die ätherische Raven: Irgendeine Bodendiele quietschte immer. Manche Leute liebten diese Böden aus historischem Holz. Es gab Unternehmen, die sie aus alten Häusern herausrissen, um sie in den Neubauten zu verlegen. Völlig verrückt. Birol schaute sich um. Die Wohnung hatte nur ein großes Zimmer mit Küchenzeile und ein Bad. Trotz seiner Abneigung gegen Altbauten musste er zugeben, dass die Räume ihren Charme hatten.
Im Wohnzimmer ging ein Erker mit vier großen Fenstern zur Straße hinaus, die Wände waren weiß und nicht tapeziert, weshalb sie in einem passablen Zustand waren. An der Decke zeugte opulenter Stuck von ehemaligem Reichtum. Und direkt unter der zentralen Rosette befand sich der Grund, der sie hergeführt hatte.
Der Tote lag auf dem einzigen nennenswerten Möbelstück, das in dem großen Zimmer direkt vor dem Erker stand.
»Das ist ein Designersofa von Carcelli«, murmelte Raven, und Birol fragte sich in einer weit entfernten Ecke seines Gehirns, woher jemand wie sie so etwas überhaupt wusste. Der Rest seines Geistes war jedoch vollauf mit dem Bild beschäftigt, das sich ihm bot.
Der Tote lag auf dem Rücken, ausgestreckt auf der Récamiere des hellen Sofas, das über und über mit Blut besudelt war. Seine Hände waren ordentlich auf dem Bauch gefaltet, und die eingenässte Jeanshose stand offen. Der Rest des Körpers war noch nicht zu sehen, da die Sofalehne den Blick versperrte. Ein Laptop stand aufgeklappt auf einem billig wirkenden Cafétisch vor dem Sofa – der Bildschirm war schwarz. Wahrscheinlich war der Akku mittlerweile leer. Auf dem Rechner befanden sich Spritzer von Blut und Hirnmasse und wenn man genau hinsah, konnte man winzige Splitter vom Schädelknochen erkennen.
»Stopp!« Birol streckte die Hand aus. Martha und Raven, die zwei Schritte hinter ihm waren, blieben stehen. »Keiner umrundet die Couch.« Er beschrieb einen weiten Kreis mit seinen Armen, an der Küchenzeile vorbei bis zum Fußende des Sofas.
»Wir gehen dort entlang. Wenn wir Glück haben, kontaminieren wir so noch am wenigsten.« Birol ging voran und konzentrierte sich dabei auf den Fußboden. Hier war schon eine Ewigkeit nicht mehr geputzt worden. Und das war auch gut so, denn es half ihm nun, die Wege nachzuvollziehen, die Täter und Opfer gegangen sein mussten. Der Bereich zwischen Spüle und Fußende der Récamiere war mit Staub
bedeckt. Das war der Teil des Raumes, in dem sie sich gefahrlos bewegen konnten.
Vom Fußende der Couch konnte Birol die Leiche besser betrachten. Alles sah genauso aus wie auf dem Foto in der schmalen Akte.
Ein kleines Loch in der Stirn des Toten zeugte eindeutig davon, dass er erschossen worden war. Vermutlich von vorne, da um das Loch herum der typische Schmauchstempel eines aufgesetzten Schusses zu sehen war. Birol konnte nur vermuten, dass die Austrittswunde den Hinterkopf des Mannes in ein ziemliches Schandbild verwandelt hatte. Doch auch sein Gesicht glich einem Schlachtfeld. Dem hageren Mann waren die Augäpfel herausgeschnitten worden. Wer auch immer das getan hatte, war nicht gerade zimperlich vorgegangen. Die Löcher klafften um einiges weiter und tiefer, als es dafür eigentlich notwendig gewesen wäre. Der Täter hatte die Augenhöhlen bis zum Knochen ausgeschnitten. Die Überreste, die er dabei mit entfernt hatte, lagen neben der Couch auf dem Fußboden. Birol kniff die Augen zusammen und suchte den Boden nach einer Blutspur ab, doch er konnte nichts entdecken. Eigentlich müssten die Augäpfel nach ihrer Entfernung noch getropft haben. Wahrscheinlich hatte der Täter sie für den Transport an Ort und Stelle eingepackt, was wohl bedeutete, dass er im Vorfeld geplant hatte, die Organe mitzunehmen. Birol verzog das Gesicht.
Er hörte Martha hinter sich flach atmen, Raven fluchte. Ihm selbst war gewaltig flau im Magen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was von ihm erwartet wurde.
»Okay«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ich möchte, dass wir uns jetzt alle drei ganz konzentriert umsehen und alles dokumentieren, was uns auffällt, bevor die Stampede hier durchkommt und alles zunichtemacht. Wir haben nur diesen einen Moment der Ruhe mit dem Toten, jedes Detail könnte wichtig sein. Wir fotografieren alles ab und schreiben alles auf. Egal, wie unwichtig es uns erst mal erscheint.
Jetzt ist noch Zeit für Fantasie und Spekulationen. Also los.«
Er öffnete das Notizprogramm seines Tablets, trug ordentlich die Adresse, Uhrzeit und die Fundumstände ein.
Sobald er dem Fall eine Nummer gegeben hatte, fühlte er sich besser. Jetzt war dieser Tote ein offizieller Fall für die Polizei. Registriert und eingetragen. Es gab Regeln, an denen er sich abarbeiten konnte. Und wann immer Birol diese Regeln befolgte, wurde sein Kopf vollkommen klar.
»Der Tote könnte blind gewesen sein«, sagte Martha nach einer Weile, und Birol tippte die Vermutung ein.
»Warum?«, fragte Raven leise.
»Dem Toten wurden die Augen herausgeschnitten. Das könnte im Zusammenhang stehen.«
Raven deutete auf den Laptop. »Warum hat er dann ferngesehen?«
Martha überlegte eine Weile. »Vielleicht hat er auch nur Radio gehört?«
Raven schnaubte. »Mit offener Hose?«
»Das könnte auch der Täter gewesen sein«, gab Martha zurück, auch wenn sie dabei selbst nicht sonderlich überzeugt klang.
»Wieso sollte er so was tun?«
Birol schüttelte den Kopf. »Nach einem Sexualdelikt sieht das nicht aus«, sagte er. »Dem Täter ging es meiner Meinung nach ganz offensichtlich um die Augen.« Er deutete auf den Fußboden, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. »Seht ihr? Keine Blutspuren. Der Täter muss etwas extra zum Transport bei sich getragen haben. Die Küche wirkt mir jetzt nicht, als könnte man dort Plastikbeutel oder Vorratsboxen finden. Und ganz sicher spaziert niemand mit zwei Augäpfeln auf einem Dessertteller raus auf die Straße.«
»Vielleicht war er ein Spanner?« Raven zeigte auf das große, zentrale Fenster, durch das man direkt auf die gegenüberliegende Häuserzeile schauen konnte.
Birol nickte anerkennend. Denken konnten die beiden schon mal, das war auf jeden Fall ein Anfang. Er tippte eifrig.
»Du meinst, er saß hier, hat die Nachbarn bespannt und sich dabei einen runtergeholt? Und jemand hat es rausgefunden und sichergestellt, dass er es nicht noch einmal tut?«, fragte Martha, und Raven zuckte die Achseln. »Könnte doch sein!«
»Es ist zumindest kein abwegiger Gedanke«, nickte Birol. »Wenn er sich die falsche Frau zum Angaffen ausgesucht hat, halte ich das durchaus für möglich, vor allem in einer Gegend wie dieser. Wir sollten auf jeden Fall herausfinden, ob dort drüben jemand wohnt und wer. Sonst noch was?«
»Er hat keinen Besuch erwartet«, sagte Martha. »Auf dem Tisch stehen ein Teller und ein Glas.«
»Aber er muss den Mörder gekannt haben«, gab Birol zu bedenken, während er tippte. »Die Tür wirkte unversehrt.«
»Nicht unbedingt!«, entgegnete Martha. »Es könnte auch sein, dass der Typ sich so sicher fühlte, dass er das Schloss noch nicht ausgetauscht hat, nachdem er sich hier eingenistet hat. Vielleicht wohnt er noch nicht lange hier, immerhin musste er das Schloss aufbrechen, um reinzukommen.«
»Wer würde denn ein so teures Sofa hier reinschleppen und das Schloss nicht auswechseln?« Ravens Tonfall war maximal ungläubig. Die beiden torpedierten einander ja regelrecht; einen Zickenkrieg konnte Birol jetzt wirklich nicht gebrauchen.
Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand übers Gesicht.
»Okay. Martha, komm mal zu mir und beschreib den Toten bitte. Fällt dir irgendwas auf?«
Martha stellte sich an seine linke Seite und betrachtete den Leichnam aufmerksam. Auch ihr Atem ging mittlerweile wieder regelmäßig, sie schien ganz ruhig zu sein. Birol war beeindruckt. So viel Chuzpe hätte er ihr ganz sicher nicht zugetraut.
»Der Mörder hat sich zwar die Zeit gelassen, ihm die Hände auf dem Bauch zu falten, hat ihm aber nicht die Hose zugemacht. Das Opfer hat sich beim Essen bekleckert.« Sie zeigte auf das karierte Hemd, das Tropfflecken in Höhe der Knopfleiste aufwies.
»Sehr dünn. Vielleicht sogar untergewichtig, aber sehr muskulöse Oberarme. Schwielige Hände. Auf jeden Fall arbeitet er körperlich. Und er kann noch nicht lange tot sein.«
Birol hob den Blick. »Woran machst du das fest?«
Sie nickte mit dem Kopf in Richtung des angeschlagenen blauen Tellers auf dem niedrigen Tisch. »Er hatte Spiegelei zum Abendessen. Das riecht man immer noch. Wäre er schon länger tot, dann würde es hier sicher ganz anders riechen.«
Birol lächelte leicht und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er zufrieden war. Martha trat zurück, und Birol drehte sich zu Raven um.
»Jetzt du!«, sagte er, doch sie rührte sich nicht. Stattdessen stand sie recht nahe an der Küchenzeile und schielte in Richtung Tür, als überlegte sie, wie schnell sie aus der Wohnung fliehen könnte, wenn es hart auf hart kam. Sie hatte ihre dünnen Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kalt.
Birol winkte auffordernd. »Los, komm schon. Das gehört dazu. Es wird leichter, wenn du es ein paarmal gemacht hast.«
»Ich habe kein Bedürfnis danach«, murmelte Raven. Birols Gesichtszüge verhärteten sich.
»Falls du es vergessen hast: Du bist nicht hier, um dich zu amüsieren, und ich bin sicher nicht hier, um deine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn du danach suchst, musst du dir ein Hotel buchen. «
Zufrieden beobachtete er, wie etwas in Ravens Gesicht verrutschte und sie resigniert die Arme sinken ließ. Dann kam sie langsam zu ihm, aber nicht, ohne ihm einen stechenden Blick zuzuwerfen, der ihn wissen ließ, wie sie über ihn dachte. Es war ihm egal.
Raven blieb ein kleines Stück hinter ihm stehen und reckte den Hals, damit sie die Leiche sehen konnte. Sie hatte einen sehr langen, blassen Hals.
»Vermutlich war der Typ ein Dieb«, sagte sie nach einer Weile.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Birol interessiert.
Raven zuckte die Schultern. Das machte sie oft.
»Offensichtlich hat er nicht viel Geld. Er hatte nur Spiegelei zu Abend, die Pfanne ist eine Katastrophe, in den Regalen steht kein Essen. Kein Kaffee, kein Wein, keine Softdrinks. Der Flur ist leer. Aber sein Laptop ist ziemlich neu, das Telefon ebenfalls.« Sie zeigte auf ein flaches Smartphone, das neben dem Kaffeetisch auf dem Boden lag. Es war ein nagelneues Modell.
»Und er liegt auf einem Carcelli-Sofa. Aber das habe ich ja schon gesagt.«
Birol seufzte schwer. »Und könntest du uns bitte erklären, was das bedeutet?«
»Carcelli stellt immer nur zweihundert Sofas eines Modells her. Sie werden von Hand in Italien angefertigt und kosten fünfstellig aufwärts. Entweder der Kerl hier hat alles, was er hatte, in ein Sitzmöbel investiert, oder er hat es irgendwo abgezogen.«
Er notierte alles, was Raven sagte, kopfschüttelnd und nahm sich vor, es später genauer zu überprüfen. Birol selbst hatte von diesem Designer noch nie etwas gehört.
Ihm kam eine Idee. »Kennst du den Typen etwa? War er …« Er suchte nach den richtigen Worten. »…ein Kollege von dir?«
Raven riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Es war die heftigste Gemütsregung, die er bisher an ihr beobachten durfte.
»Ich habe keine Ahnung, wer er ist«, antwortete sie. »Und ich klaue Klamotten. Keine Polstermöbel.«
»Und woher weißt du dann, dass dieses spezielle Teil hier ein Designerstück ist?«, wollte Martha wissen und sprach Birol aus der
Seele.
Raven zuckte nur die Schultern.