Er hatte gar nicht mitbekommen, wo sie ihn hingebracht hatten, aber eigentlich war ihm das ja auch ziemlich egal. Irgendwo in Hamburg, schätzte er jetzt mal. Musste ja so sein. Wieso sollten solche Leute extra nach Hamburg fahren, um einen armen Schlucker wie ihn aufzugabeln? Von Typen wie ihm gab es säckeweise im ganzen Land, da brauchte man nicht weit zu reisen.
Als er gefragt hatte, warum sie ausgerechnet ihn wollten, hatte der Typ im Anzug nur geantwortet: »Sie erfüllen alle Kriterien zu unserer vollsten Zufriedenheit!«
Na, das war in seinem Leben immerhin mal ganz was Neues. Normalerweise erfüllte Hendrik überhaupt nichts, schon gar nicht zu irgendjemandes Zufriedenheit. Außer vielleicht noch Vorurteile.
Wer wie er seit Jahren auf der Straße lebte, war es gewohnt, mit Verachtung betrachtet zu werden, wenn man ihn überhaupt bemerkte. Und er konnte es den Leuten nicht mal sonderlich übel nehmen. Obdachlose waren eine konstante Erinnerung an die Tatsache, dass jedes Leben ganz schnell auch den Bach runtergehen konnte. Jeder wusste das insgeheim, wollte es aber nicht unbedingt sehen. Verdrängung war gut für die geistige Gesundheit.
Auch er hatte mal ein Heim gehabt, eine Familie. Er hatte sogar einen Beruf gelernt, doch das war lange her. Das war es, was er mit Vorliebe verdrängte.
Aber vielleicht wendete das Blatt sich ja jetzt für ihn. Möglich wäre es. Er würde viel Geld bekommen, wenn die Sache hier gut ging. Diese Leute zahlten gut, er hatte einen Vertrag unterschrieben mit Briefkopf und allem. Hochoffizielle Angelegenheit.
Allerdings hätte er nicht damit gerechnet, dass das Ganze so lange dauern würde. Sein Nacken wurde steif auf dem unbequemen Stuhl, auf den sie ihn geschnallt hatten, und ihm war kalt. Wahrscheinlich auch, weil sie ihn nur in eine Art Nachthemd gesteckt hatten, seine Füße standen nackt auf einer Metallplatte, seine Handflächen lagen ebenfalls auf Metall. Überall aus dem Nachthemd ragten Kabel hervor, die sie an seinem Körper angebracht hatten. Mit Nadeln, die ihn ein bisschen an Angelhaken erinnerten. Hatte nicht sonderlich wehgetan, aber die Vorstellung ekelte ihn.
Sie hatten ihm gesagt, dass er sich so wenig wie möglich bewegen sollte, und das versuchte er auch. Er wollte diese eine Sache richtig machen. Wie die anderen gucken würden, wenn er heute Abend mit einer Stange Geld bei ihnen aufschlug, das malte er sich immer wieder aus. Obwohl: Vielleicht wäre das keine gute Idee. Seine Leute waren nicht übel, aber alle hatten Hunger und verzweifelte Träume. Und er war schon alt, konnte sich nicht mehr so gut wehren wie früher. Hoffentlich hatte niemand seinen Schlafsack geklaut, das ging schneller, als man niesen konnte.
Was für ein dummer Gedanke. Heute Abend würde er nicht in seinen Schlafsack am Rande des Fischmarkts kriechen, sondern unter die gestärkte Decke eines Hotelbetts. Nachdem er ausgiebig gebadet und gegessen hatte. Sollten sie doch seinen Schlafsack behalten. Sie würden denken, dass er irgendwo tot in der Elbe lag. Wie die meisten von ihnen, wenn sie nicht mehr wiederkamen.
Dieser Raum war merkwürdig. Ein wenig erinnerte er ihn an eine Schaltzentrale, wie er sie aus den alten Gangsterfilmen kannte. Überall waren Bildschirme und Monitore angebracht. Er selbst war ja genauso an allen möglichen Stellen verkabelt, sogar an seinen Kronjuwelen – er konnte und wollte gar nicht so genau wissen, wo noch überall. Hendrik hatte nicht hingeguckt. Er sah jetzt bestimmt ziemlich gruselig aus.
Der Raum hatte keine Fenster, die Wände waren aus gewelltem Metall, manchmal knarzte und gluckerte es. Wer in Hamburg aufgewachsen war, der wusste das alles einzuordnen. Sie befanden sich eindeutig auf einem Schiff. Fünf Männer in weißen Kitteln liefen im Raum umher, ein junger Kerl in schwarzer Kleidung, der so gar nicht hierher passte, saß hinter einer Glasscheibe an einem Gebilde aus mindestens fünf Computern. Der Typ war das Einzige, was Hendrik ein bisschen merkwürdig vorkam. Allerdings wusste ja jeder, dass diese Computerfreaks meist abgedrehte Jugendliche waren, die in ihrer eigenen Welt lebten. Sagte Sabine jedenfalls, und die hatte einen Sohn, ging also als Expertin durch. Und wer war er eigentlich, andere nach ihrem Äußeren zu beurteilen?
Sie hatten ihm den Schädel geschoren, aber das hatten sie vorher mit ihm abgesprochen. Manche Dinge mussten eben sein; trotzdem kam er sich nackt vor. Die Haare hatten ihn vom Rest der Welt abgeschirmt, hatten ihn unsichtbar gemacht und gewärmt. Auch seine Kleidung hatten sie ihm weggenommen und versprochen, sie zu waschen, bis sie hier fertig waren. Gesprächig waren sie hier alle nicht, aber nett genug.
»So, Herr Hinnerksen, wir wären dann so weit«, sagte der Mann, der ihn am Morgen auf der Straße angesprochen hatte. Müde Augen, ein ernstes, aber freundliches Gesicht. Hendrik hatte ihm sofort vertraut. Er sah einfach aus wie ein Arzt.
»Schön, ich habe nämlich nicht den ganzen Tag Zeit!«, erwiderte
Hendrik mit einem Augenzwinkern, und der Mann, der sich als Doktor Lessing vorgestellt hatte, nickte. Der Name passte gut zu ihm, zu dieser Ernsthaftigkeit, die ihn wie eine Wolke umgab. Lessing rang sich ein winziges Lächeln ab. Er schien nervös zu sein. Kein Wunder. Wenn Hendrik mit so viel Kohle jonglieren würde, dann wäre er wohl auch ziemlich nervös.
»Sie haben die Unterlagen, die wir Ihnen gegeben haben, ausführlich gelesen und verstanden?«
Ehrlich gesagt hatte er das nicht. Er sah nicht mehr so gut. Aber was er von alledem verstanden hatte, reichte ihm auch so. Sie machten einen medizinischen Test mit ihm, und wenn der gelang, dann bekam Hendrik viel Geld.
Die Leute sahen studiert aus. Sie wussten sicher, was sie taten. Und auch der Raum wirkte hochwissenschaftlich und sehr medizinisch auf ihn. Würde schon alles seine Richtigkeit haben.
»Ich habe alles verstanden.«
»Keine Fragen mehr?«
Hendrik schüttelte den Kopf. »Nein, Doc.«
»Gut. Dann möchte ich Sie bitten, sich zu entspannen. Sie können gerne die Augen schließen, wenn Sie wollen.«
»Okay.«
Hendrik lehnte sich zurück und schloss die Augen. Dabei achtete er peinlich genau darauf, dass er keines der Kabel verknickte, die mit seinem Kopf verbunden waren. Das durfte er jetzt nicht versauen. Nicht so, wie er sein restliches Leben versaut hatte.
Er atmete tief durch. Hörte am Rande, wie die Männer sich mit gedämpften Stimmen unterhielten, versuchte, sich zu entspannen.
Als er klein gewesen war, hatte man ihm mal die Mandeln rausgenommen, danach hatte er tonnenweise Eis löffeln dürfen. Das hier war sicher so ähnlich. Nur mit Kohle anstelle von Eiscreme.
Ein Countdown erklang, und er hörte das Geräusch von Schuhen,
die über den Fußboden eilten. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen.
Hendrik presste die Augen fest zusammen, mit jeder Sekunde, die heruntergezählt wurde, machte sich mehr und mehr Angst in ihm breit. Musste diese Runterzählerei wirklich sein? Dabei wurde doch jeder nervös, oder nicht? Vielleicht hätte er mehr Fragen stellen sollen. Wozu das Ganze gut war und für wen die Männer arbeiteten. Natürlich, das wäre vernünftig gewesen. Hätte jeder getan. Er hörte seinen Vater schimpfen: »Hendrik, du Dummkopf!« Warum hatte er nicht daran gedacht? Ein Satz aus der Gefahrenbelehrung des Arztes schoss ihm durch den Kopf.
»Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass ein Exitus nicht ganz ausgeschlossen werden kann.«
Exitus. Das bedeutete Tod, oder etwa nicht?
Der Countdown endete, und ein grellweißer Schmerz schoss durch Hendriks Kopf. Seine Hände und Füße verkrampften sich, er hatte das Gefühl, sein Gehirn würde von innen verbrannt. Hitze, Feuer und stechender Schmerz. Als würde Elektrizität durch ihn hindurchlaufen. Die Hitze kroch seine Wirbelsäule hinunter, er spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Leib, als könnte er sie von außen sehen. Sogar seine Zähne spürte er.
Hendrik dachte an seine Mutter. An den Kirschbaum im Garten und an zarte Hände, die sich nach ihm reckten. »Komm!«
Dann dachte er an nichts mehr.