Ernüchterung. Das war das Wort, nach dem sie gesucht hatte. Und die Empfindung, die sie von Kopf bis Fuß ausfüllte. Diese Ernüchterung hatte das »Was zur Hölle??!«-Gefühl abgelöst, das nach dem Eintreffen der Spurensicherung recht zügig in ihr aufgestiegen war. Sie hätte sich im Vorfeld wirklich besser über die Berliner Kollegen informieren sollen. Es hätte allerdings auch ausgereicht, den zahllosen Gerüchten, die über den Käfig kursierten, etwas mehr Beachtung zu schenken, doch sie war nicht bereit gewesen anzunehmen, dass überhaupt etwas dran sein könnte. Und deshalb lernte sie gerade auf die harte Tour, dass »Polizei« alleine noch lange kein Gütesiegel war.
So was hatte Laura noch nie gesehen. Gerade einmal zwei Männer waren, mit einer Verspätung von fünfzig Minuten, in der Wohnung eingetroffen. Alleine der Verschmutzungsgrad der Räume sowie die Verteilung der organischen Spuren hätte mindestens die doppelte Anzahl Experten gefordert. Aber Experten war sowieso nicht das richtige Wort. Weiß der Himmel, wo diese Kerle ausgebildet worden waren; zwischendurch war es Laura so vorgekommen, als hätte man die beiden einfach auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie nicht vielleicht Lust hätten, an einem Tatort ein paar Spuren zu sichern. Birol hätte sich die Ermahnungen, die Wohnung nicht zu kontaminieren, vorsichtig aufzutreten und keine Spuren zu verwischen, wirklich sparen können.
Zwar trugen beide Kriminaltechniker Überzieher an den Schuhen, doch da hörte die Professionalität auch schon auf. Der eine hatte eine Wollmütze auf dem Kopf, um seine Haare zurückzuhalten, der andere hatte sich etwas übergestülpt, das Laura eher an eine Badekappe erinnerte. Hatte die Berliner Polizei nicht einmal ein Budget für schnöden Haarschutz? Das waren Wegwerfprodukte, verdammt. Doch die beiden trugen ihre Kopfbedeckung mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als würden sie zur offiziellen Berufsbekleidung gehören.
Und der Stand der Technik, auf den sie zurückgeworfen waren, spottete jeder Beschreibung, auch wenn sie daran natürlich keine Schuld trugen. Die beiden Männer arbeiteten noch mit Grafit-Pulver, Pinseln und Klebestreifen und hatten nicht einmal eine Kamera für luzide Aufnahmen dabei. Ohnehin schien nur einer der beiden zu arbeiten, während der andere permanent kleine Schlucke aus einer Thermoskanne nahm und das Vorgehen seines Kollegen kommentierte. Sein Blick war so glasig, dass Laura schon hoffen musste, dass sich in der Kanne nur harter Alkohol befand. Hamburg war schon keine Musterstadt. In Deutschland galt generell: Je weiter nach Norden oder Osten man kam, desto schlimmer wurde es. Die Länder, Städte und Kommunen waren arm, die Privatisierung diverser Sektoren hatte nur kurzfristig für Erleichterung gesorgt, auf lange Sicht aber alles nur noch schlimmer gemacht. Doch auf ihrem Dezernat hatte zumindest noch eine gewisse Struktur geherrscht. Jedenfalls bildete sie sich das gerne ein. Auch wenn eine kleine Stimme in ihrem Inneren sie mahnte, sich nicht selbst zu belügen. Wäre bei ihnen alles in Ordnung gewesen, dann würde Fenne wohl jetzt noch leben. Ihr Dezernat war lediglich unter der Oberfläche verschimmelt, während der Verfall hier für jeden sichtbar war.
Mittlerweile stand sie mit Birol und Raven im strömenden Regen. Sie waren aus der Wohnung gescheucht worden, nachdem Sanitäter gekommen waren, um die Leiche mitzunehmen und ins rechtsmedizinische Institut zu bringen. Immerhin würde es eine Obduktion geben.
Die Sanis waren natürlich ebenfalls mitten durch das Spurenbild getrampelt, ohne dass sie irgendjemand aufgehalten hätte. Lauras gesamter Körper kribbelte von der Anstrengung, ihre Zunge im Zaum zu halten. Es war deutlich schwerer, als sie vermutet hatte, die Ahnungslose zu spielen. Und ja: Manchmal war sie auch eine unerträgliche Besserwisserin. Das hatte ihr Fenne mehr als einmal ins Gesicht gesagt. Sie liebte es, zu zeigen, was sie konnte. Schließlich hatte sie nicht so hart gepaukt, um dann mit allem hinterm Berg zu halten, oder? Verflucht, das war alles so dermaßen anders geplant gewesen. In diesem Augenblick, nass bis auf die Knochen und an einem Ort, an dem sie überhaupt nicht sein wollte, vermisste sie ihr altes Leben wie einen guten Freund, der verstorben war. Es war nicht vollkommen gewesen, aber es hatte ihr allein gehört. Hier in Berlin schien ihr gar nichts wirklich zu gehören.
Sie versuchte, sich einfach daran zu erinnern, dass sie nicht nach Berlin gekommen war, um tatsächlich Polizistin zu werden, sondern um herauszufinden, warum Fenne sterben musste, und basta. Und dafür war sie doch schon recht weit gekommen.
»Hast du einen Namen für mich?«, riss einer der Sanitäter sie aus ihren Gedanken. Er war mit einem Tablet an Birol herangetreten, dessen Display eine Unzahl Risse aufwies. Wie diese Stadt. Wie ihr ganzes Leben.
Birol schüttelte den Kopf. »Nein, hier ist niemand gemeldet, und Papiere hatte der Kerl auch nicht. Es wird eh schwer sein, was herauszufinden. Das Gesicht ist ja nicht besonders …« Er suchte nach den richtigen Worten. »… aussagekräftig.«
Der Sanitäter tippte etwas in sein Gerät und schnalzte mit der Zunge. »Na, euren Job will ich nicht machen. Solche Kerle vermisst doch auch kein Mensch!«
Der Kollege, der bisher noch im recht ramponiert wirkenden Krankenwagen gewerkelt hatte, sprang aus der Ladeklappe geradewegs in eine Pfütze, sodass seine ohnehin dreckigen Hosenbeine noch schmuddeliger wurden. Er beäugte die nasse Versammlung gut gelaunt. Sein Blick blieb an Raven hängen.
»Unsere Kleine hier sieht aus, als hätte sie noch nie eine Leiche gesehen!«
»Es ist ihr erster Tag!«, sagte Birol mit einem leichten Lächeln, als sein Blick ebenfalls zu Raven wanderte, die vom Sani neugierig gemustert wurde.
Raven stand etwas abseits mit verschränkten Armen im Regen, die alte Lederjacke spannte sich wie eine zweite Haut um ihre knochigen Schultern. Zwar ließ der Regen ihre Haare eine Nuance dunkler erscheinen, doch es war noch immer deutlich zu sehen, dass sie weißer war als andere Menschen.
»Lass die bloß nicht undercover arbeiten«, witzelte einer der Forensiker nun, der mitsamt Koffer das Treppenhaus hinabgestiefelt kam. Waren die etwa schon fertig?
»Ja«, stimmte der Sani mit ein. »Keine Chance, dass die übersehen wird.«
»Ich bin ein Mensch«, bemerkte Raven nun mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich habe Ohren!«
Sie strich sich eine ihrer klitschnassen Haarsträhnen zurück, sodass alle ihre rechte Ohrmuschel sehen konnten.
Die Männer lachten im Chor, und auch Lauras Mundwinkel zuckten. Allerdings lächelte sie nicht, um es den Kerlen gleichzutun, sondern weil sie Ravens Reaktion bewunderte. Während Laura beinahe wegen jeder Kleinigkeit wütend wurde, schien Raven ruhiger und ruhiger zu werden. Sie machte Laura neugierig. Die junge Frau hatte etwas an sich, das Laura gerade dazu anstachelte, mehr über sie herausfinden zu wollen.
Vielleicht lag es daran, dass sie Rätsel so liebte. Schon als Kind hatte sie sich eigene Rätsel ausgedacht, und es hatte für sie keine größere Freude gegeben als die Tage, an denen ihre große Schwester eines ihrer Rätsel nicht hatte lösen können. Heimlich träumte sie davon, ein Rätsel zu erschaffen, das niemand lösen konnte. Sollte es ihr allerdings nicht einmal gelingen, Fennes Tod aufzuklären, so würde sie sich diesen Traum abschminken müssen.
Mit Blick zu Raven dachte sie, dass die größten Rätsel vielleicht ohnehin nicht geschaffen, sondern geboren wurden. Nichts war unergründlicher als die menschliche Seele.
Der weiße Rabe fing ihren Blick auf und zog eine Augenbraue minimal amüsiert nach oben. Kalte Scham durchzuckte Laura, und sie blickte wieder zur Seite.
»Nimm dich in Acht, Celik. Du scheinst da eine echte Zicke im Team zu haben!«
Die Männer lachten erneut, und Laura wurde kalt. Was hatte der Typ da gerade gesagt? Ihr Blick schoss zu Birol, der sichtlich versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, obwohl ihm das Gefeixe der Männer offenbar zuwider war.
»Wir kommen schon zurecht«, murmelte er und kratzte sich am Kopf, während er sich verlegen, ja beinahe entschuldigend zu Raven und Laura umdrehte. »Nicht wahr?« Raven schnaubte nur verächtlich, während sie Dreck unter ihren Fingernägeln hervorpulte und auf die Straße schnippte. Birols Blick wanderte zu Laura, seine Augen flehten.
Laura nickte benommen.
»Celik und sein Profiteam!« Der Sani schlug Birol auf die Schulter, und Laura zuckte zusammen. Sie hatte sich nicht verhört. Mehr noch: Nun erinnerte sie sich, was der Pförtner heute Morgen zu ihr gesagt hatte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sie solle sich bei Birol Celik melden. Wie hatte sie das nur überhören können? Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihr wurde schwindelig. Jetzt rächte sich, dass sie heute noch nichts gegessen hatte.
Sie war in Berlin wegen eines Celik. Genau genommen wegen Can Celik. Sein Name war im Zusammenhang mit dem Kannenberg-Mord aufgetaucht, und Fenne hatte dieser Spur nachgehen wollen, bevor sie gestorben war. Es war der einzige konkrete Anhaltspunkt, den Laura jetzt hatte, und allein dieser Name hatte sie in den Käfig geführt. Denn seine Spur hatte sich zuletzt im Utopia Gardens verloren, und Laura hatte gedacht, dass es ihr als Polizistin am ehesten gelingen konnte, an Informationen aus dem Club heranzukommen. Und dann arbeitete sie ausgerechnet mit jemandem zusammen, der Celik hieß.
Sie hatte keine Ahnung, ob Celik ein weitverbreiteter Nachname war oder nicht, doch so oder so war es ein ziemlicher Zufall, dass ausgerechnet der nette Kerl, der ihre merkwürdige Arbeitsgruppe leitete, denselben Namen trug wie der Mann, den sie suchte. Und sie damit unbewusst und schmerzlich daran erinnerte, warum sie in Berlin war.
Birol unterzeichnete noch ein paar Überführungspapiere, dann machten sich die Sanis endlich auf den Weg. Laura hoffte, dass sie niemals in einen Unfall verwickelt würde, bei dem die beiden Erste Hilfe leisten mussten. Sie hatten eindeutig ihren Beruf verfehlt.
Raven kam zu ihnen herübergeschlendert und fragte mit einem maximal desinteressierten Ausdruck auf dem Gesicht: »Und was passiert jetzt mit dem?«
»Er wird ins rechtsmedizinische Institut gebracht.«
»Warum war denn eigentlich kein Rechtsmediziner hier?«, fragte Raven weiter und begann, wieder an ihren Fingernägeln herumzufuhrwerken. »Ich dachte, die kommen immer an den Tatort.«
Raven nahm Laura das Wort aus dem Mund. Tatsächlich hatte sie die ganze Zeit dort oben auf einen richtigen Mediziner gewartet, nicht auf zwei Arschlöcher in Weiß. Oder vielmehr in Warirgendwannmalweiß.
»Das mag im Fernsehen Praxis sein, doch Berlin ist völlig überlastet und viel zu groß. Würden die Ärzte jedes Mal ausrücken, wenn ein Toter gefunden wird, dann hätten sie für ihre eigentliche Arbeit gar keine Zeit mehr.«
»Und was ist ihre eigentliche Arbeit?«
»Na, im rechtsmedizinischen Institut zu arbeiten«, antwortete Birol, der allmählich ungeduldig wurde. »Dort wird auch an unserem Toten eine Obduktion durchgeführt, und die Ergebnisse bekommen wir dann, sobald sie vorliegen.«
»Man hat ihn erschossen und ihm anschließend die Augen rausgeschnitten. Was gibt es da noch groß herauszufinden?«
»Wer sagt dir denn, dass ihm die Augen nicht zuerst rausgeschnitten wurden? Bevor man ihn erschossen hat?«, fragte Birol mit selbstzufriedener Miene zurück, doch Raven ließ sich nicht beeindrucken.
»Sah mir nicht aus, als hätte man den Mann gefesselt. Keiner würde bei so einer Prozedur freiwillig stillhalten, würde ich sagen, egal wie schön das Filmchen ist, das er sich gerade ansieht. Und selbst wenn er fixiert gewesen wäre, warum hätte man ihn dann posthum wieder losbinden sollen? Das kostet Zeit; auch einen toten Körper umzulagern. Von Kraft mal ganz zu schweigen. Außerdem war viel zu wenig Blut um die Augen herum. Wenn er vor dem Tod gefoltert worden wäre, hätten wir das wohl gesehen.«
Birol zog die Augenbrauen hoch. »Woraus folgerst du denn so was, zum Teufel?«
Raven zuckte die Schultern. »Die Frage ist doch eher: Warum weißt du es nicht?«
»Pass auf, was du sagst, Mädchen«, erwiderte Birol ungehalten. »Ich bin immer noch dein Vorgesetzter.«
»Ich werde es mir merken.«
Raven deutete eine spöttische Verbeugung an.
»Und ich habe dir eine Frage gestellt.«
»Wenn das Herz nicht mehr schlägt, dann pumpt es kein Blut mehr durch den Körper. Es spritzt nicht mehr. Ist doch logisch.« Als Birol sie weiter prüfend ansah, seufzte Raven theatralisch.
»Mein Opa war Metzger. Zufrieden?«
Birol nickte knapp.
»Können wir jetzt eigentlich mal hier weg oder müssen wir im Regen stehen bleiben, bis wir in einen Gully gespült werden?«
»Das würde ich allerdings auch gerne mal wissen«, sagte Laura und begann wie auf Kommando zu zittern.
Als Hamburgerin war sie Regen gewohnt, aber Altberlin strahlte zusätzlich eine Kälte aus, die sie von daheim nicht kannte. Laura wusste nicht, ob es die Menschen oder die Gebäude waren, die ihr permanent ein schlechtes Gefühl gaben, oder ob es einen ganz anderen Grund hatte, doch Tatsache war, dass sie sich hier ganz und gar nicht wohlfühlte. Und noch nicht eine Minute wohlgefühlt hatte, seit sie vor einer Woche angekommen war.
Diese Mischung aus prächtigen Fassaden und verlassenen Räumen, aus Neuberlin und Altberlin – die Zweiklassengesellschaft, die in dieser Stadt tatsächlich ganz offen gelebt wurde, machte sie ganz krank.
»Ja, wir können hier wohl abhauen«, sagte Birol und klang dabei genauso resigniert, wie sie sich fühlte. »Geht schon mal in den Wagen. Ich versiegele oben die Wohnung.«
Birol drehte sich um und machte sich wieder an den Aufstieg.
»Als würde sich irgendjemand von einem mickrigen Plastikband davon abhalten lassen, eine Wohnung zu betreten«, murmelte Raven amüsiert, dann stapfte sie in Richtung Auto.
»Kommst du, Martha?«
Laura folgte ihr kopfschüttelnd.
Birol Celik. Immerhin schien Laura an genau dem richtigen Ort gelandet zu sein. Ein schwacher Trost, aber trotzdem ein Trost.
Während sie mit hochgezogenen Schultern zu Raven auf die muffelige Rückbank des alten Polizeiautos kroch, fragte sie sich, ob sie es wagen sollte, Birol einfach nach Can Celik zu fragen. Doch welches Motiv sollte sie als junge Polizeischülerin dafür schon haben? Nein, sie konnte niemanden fragen, sondern würde es selbst herausfinden müssen.
»Gibt es hier in Berlin ein Zeitungsarchiv?«, fragte sie Raven, und die junge Frau drehte ihr aufreizend langsam das Gesicht zu.
»Schätzchen, wenn du deine falsche Identität weiter aufrechterhalten willst, solltest du niemals, niemals solche Fragen stellen.«
Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge, ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen, während Laura fühlte, wie ihr heiß wurde.
»Die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz hortet alles, was in Deutschland publiziert wird«, sagte Raven mit Blick aus dem Fenster. »Schon seit über einem Jahrhundert. Was immer du suchst: Wenn es dort nicht ist, existiert es nicht.«
»Danke«, murmelte Laura, während sie noch versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
»Das war aber das letzte Mal«, sagte Raven streng. »Was immer du da tust, zieh mich nicht mit rein. Klar?«