Sie rannte. Eigentlich tat sie das nie. Rennen fand sie genauso würdelos wie Regenschirme, aber heute Abend musste es sein. Wieso ausgerechnet Bartosz, verflucht?! Raven hoffte, der Typ hatte keine größeren Dummheiten mehr gemacht, bevor er starb. Hatte niemandem erzählt, woher er seine Augen hatte, damit angegeben oder sich gezielt auf schwierige Jobs beworben … Allerdings: Wie hätte sonst jemand von den Augen erfahren sollen?
Wenn sie nur darüber nachdachte, wurde ihr schlecht. Am liebsten hätte sie herausgefunden, wo er überall in der Kreide stand und mit wem er gerade zusammen gearbeitet hatte, aber sie konnte nicht einfach so durch das Gardens spazieren und rumfragen; wieso sollte Darks rechte Hand schon Interesse an einem dahergelaufenen Kleinkriminellen haben? So eine Fragerei würde mehr preisgeben, als sie dadurch rausfinden konnte. Gott, und wenn sie ihre Ermittlungsarbeit aufnähmen, könnte es noch schlimmer für sie kommen.
Niemals hätte sie gedacht, dass bereits der erste Tag eine solche Katastrophe für sie werden würde. Unangenehm, nervtötend, zeitraubend und maximal demütigend. Okay. Aber keine Katastrophe; nichts, was ihr persönliches Leben berührte. Bartoszs Leiche war wie die Pointe auf den schlechten Scherz gewesen, der sich ihr Leben schimpfte.
Anfangs war sie von den Drogen und dem Schlafmangel noch ein wenig betäubt gewesen, aber langsam wurde ihr die ganze Tragweite dessen, was sie heute gesehen hatte, bewusst. Was das alles für sie und ihre Arbeit bedeuten konnte. Für ihr gesamtes Leben. Eigentlich war sie kein Mensch, den man leicht aus der Fassung bringen konnte, doch gerade rang sie mit sich. Bartoszs Anblick hatte sie auf mehr als nur eine Art stark getroffen.
Auf eine merkwürdig verdrehte Weise war sie jedoch froh, heute am Tatort gewesen zu sein. Wenn sie diesen verfluchten Strafdienst nicht ableisten müsste, dann hätte sie vielleicht niemals erfahren, dass jemand dem Fassadenkletterer Bartosz die Augäpfel rausgerissen hatte. Woher auch? Vielleicht über den Flurfunk, doch der spuckte so viele Lügen durch die Gänge des Gardens, dass Raven schon vor langer Zeit aufgehört hatte, ihm Gehör zu schenken.
Zehn Monate hatte sie an den Augäpfeln gesessen, und nun hatte sie jemand anderes! Jemand, der nicht so viel Mühe und Herzblut in die Netzhäute gesteckt hatte und es ganz offensichtlich auch nicht vorhatte, das war ja wohl klar. Kalte Wut stieg in ihr auf, wenn sie nur daran dachte. Niemand hatte das Recht, sich an ihrer Arbeit zu bereichern. Niemand!
Wenigstens Lin dürfte sich darüber freuen, dass Bartosz tot war. Wenn der Kerl nach einem Bruch mal genug Geld gehabt hatte, dann war er ihr immer viel, viel zu nahegekommen. Es war nicht so, als müssten die Mädchen im Gardens nicht alle möglichen Jobs machen, doch diejenigen unter ihnen, die schon lange dabei waren und sich eine gewisse Berühmtheit erarbeitet hatten, mussten nicht mit jedem Mann aufs Zimmer gehen. Sie konnten Nein sagen. Doch Bartosz hatte ein Nein nie akzeptiert. Und Lin war nicht Nina – sie hatte sich nicht gewehrt.
Raven schwitzte, ihr weißes Haar klebte strähnig auf ihrer Stirn, ihr Körper hatte das Meth von heute Nacht noch immer nicht vollständig abgebaut und schien damit auch gehörige Probleme zu haben. Wenn man am nächsten Morgen ein wenig Zeit zum Auskatern hatte, war es okay. Jetzt war es einfach nur scheiße. Es wäre wohl besser, wenn sie erst mal aufhörte.
Zum Glück war Raven nicht abhängig von irgendwas; dazu neigte sie nicht. Schon mehr als einmal hatte sie einfach mit irgendwas aufgehört, wenn es ihr nicht mehr in den Kram gepasst hatte. Und gerade passte es nun wirklich überhaupt nicht. Denn jetzt brauchte sie ihre volle Konzentration, und zwar Tag und Nacht. Keine Pausen mehr. Keine Auszeiten von dieser beschissenen Welt.
Sie wusste, dass sie stank. Und dass sie langsam mal was essen sollte. Wenn sie sich jetzt mit einer Tasse und einem kleinen Pappschild an den Straßenrand setzen würde, bekäme sie sicher ein paar Münzen.
Eigentlich hasste sie es, ungepflegt zu sein, doch jetzt gerade konnte sie sich nicht mit ihrem Körper beschäftigen. In ihrem Kopf drehte sich alles um Bartosz – eigentlich war er ein Einzelgänger, der komplett für sich blieb. Er sprach mit keinem, er arbeitete allein, er lebte allein. Lin konnte sie auch nicht nach ihm fragen; Raven wusste, dass er sich seit seiner Operation keinen Besuch im Gardens mehr geleistet hatte, um keinen Ärger mit ihr zu riskieren. Oder vielmehr mit Dark. Doch gerade deshalb hätte niemand auf ihn kommen dürfen. Spencer verplapperte sich nicht, da war sie sich ganz sicher. Außerdem verkehrte er mit niemandem, den eine solche Information interessieren könnte. Doch irgendjemand hatte etwas erzählt. Ihr System hatte ein Leck.
Scheiße, Raven wünschte wirklich, sie hätte eine Waffe. Schon oft hatte sie gedacht, dass sie sich mit einer Schusswaffe am Körper deutlich besser fühlen würde. Das erste Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder machtlos, und das war etwas, was Raven nur schwer ertrug. Mehr noch: Ihr wurde schlecht von diesem Gefühl. Es war wie ein Ort, den sie sich geschworen hatte, nie mehr zu betreten.
Endlich kam die Hochhaussiedlung in Sicht, in der sie lebte. Die Tram fuhr schon seit Monaten nicht mehr bis hierher, und einen Ersatz gab es nicht. Seit die Busse hier in der Gegend immer wieder angegriffen worden waren, hatte die Stadt beschlossen, die Bewohner verkehrstechnisch sich selbst zu überlassen. Wer kein Geld für ein eigenes Fahrrad hatte, der hatte auch keins zum Uffmucken. Viele waren es sowieso nicht mehr, die hier lebten.
Die Kolosse von Lichtenberg waren mehr als nur in die Jahre gekommen. Eigentlich waren sie so was wie die ersten Wohntürme Berlins gewesen, Pioniere auf dem Gebiet des vertikalen Massenwohnens, aber leben wollte hier keiner mehr. Vom Komfort her konnten sie nicht mit den modernen Wohntürmen mithalten, wenn man das Wort Komfort überhaupt im Zusammenhang mit diesen Dingern in den Mund nehmen wollte.
Die Hochhäuser waren aus Platten und auf dem Berliner Lehmboden erbaut worden. Mit der Zeit waren die riesigen, schweren Gebäude zur Seite gekippt oder eingesackt, und die Platten hatten sich zum Teil voneinander gelöst. Die Häuser standen zwar noch, und Ravens Wohnhaus war auch eigentlich noch ganz gut, aber hier und da hatten sich Risse in den Wänden gebildet, durch die der Wind pfiff. Die großen Häuser sahen von Weitem aus wie eine Gruppe Besoffener auf dem Weg nach Hause. Manche schienen sich sogar aneinanderzulehnen, auch wenn das eine optische Täuschung war. Trotzdem war es in vielen dieser Häuser eigentlich nicht mehr sicher. Außerdem gab es kaum noch ein Gebäude, in dem der Fahrstuhl funktionierte.
Was ein Vorteil für sie war. Raven hielt den Fahrstuhl in ihrem Haus am Laufen, und dafür ließen sie die anderen Bewohner die meiste Zeit in Frieden. Auch sorgte sie dafür, dass das Türschloss unten immer intakt war, sodass ihr Haus noch eines der besseren in der ganzen Siedlung war, was allerdings nicht sonderlich viel hieß, außer dass niemand so einfach eindringen, darin herumrandalieren oder in den Flur kacken konnte.
Es hatte ein paar winzige Vorteile, sie zu sein. Und es hatte für sie noch mehr Vorteile, in einer Gegend zu wohnen, in die kein normaler Mensch freiwillig auch nur einen Fuß setzte.
Raven erreichte endlich ihren Hauseingang, tippte den zehnstelligen Zugangscode ein und drückte die Tür auf. Ihre Glieder schrien nach ein wenig Ruhe, das merkte sie besonders, als sie mit ihrer Schulter gegen das Türblatt drückte. Sofort schlug ihr der vertraute muffige Geruch entgegen, den sie von nirgendwo anders kannte. Es war der Geruch ihrer Kindheit. Eine Mischung aus altem Putzlappen und feuchten Steinen mit Noten von allem Möglichen, an das sie noch nicht einmal denken mochte. Da sie damit aufgewachsen war, störte sie sich kaum daran. Ja, sie verband den Geruch sogar mit Sicherheit und Geborgenheit, obwohl das zwei Dinge waren, die sie in ihrem ganzen Leben noch nicht kennengelernt hatte.
Trotzdem war dieses Hochhaus ihr Königreich. Hier konnte sie sich frei bewegen und tun, wonach ihr war.
Raven hatte sich mehrere Wohnungen im Haus zu eigen gemacht, und bevor sie duschen konnte, musste sie noch etwas erledigen. Also fuhr sie mit protestierenden Gliedern in den zehnten Stock hinauf und öffnete die Wohnung, die ihr als … ja, als was eigentlich diente? Hexenküche, Werkstatt, Labor? Jedenfalls war diese Wohnung ihr Reich, Verlängerung ihrer Arme und ihres Herzens. Es war der Ort, an dem sie sich am liebsten aufhielt. Und das, obwohl es auch hier ziemlich streng roch.
Auf dem abgewetzten Teppichboden standen in der gesamten Wohnung schmale Tische an der Wand, die sie aus einem der verschimmelten Kellerräume gezogen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wofür diese Klappdinger einmal gut gewesen waren; sie standen ziemlich wackelig auf ihren Metallfüßen, weder zum Essen noch zum Arbeiten wirklich geeignet. Aber für ihre Zwecke waren sie perfekt. Auf ihnen konnte Raven all die Einzelteile zum Trocknen auslegen, die sie für ihre Prothesen selbst herstellte. Und das waren nicht wenige. Erst war es zu teuer geworden, all die Teile auf dem Schwarzmarkt der Berliner Kliniken und des Gardens zu kaufen, und später waren ihre Kreationen zu elaboriert, als dass es überhaupt Teile dafür auf dem Schwarzmarkt gegeben hätte. Das war es, was ihre Arbeit allmählich so gefährlich und einzigartig machte. Raven brachte Modds zustande, die weit über das hinausgingen, was angeblich möglich war. Tatsächlich war »Modder« gar nicht mehr die richtige Bezeichnung für sie, da sie nicht mehr modifizierte, sondern kreierte. Aber dafür gab es noch keinen Begriff.
Sie wusste, dass sie sich eigentlich zügeln sollte, dass sie mehr tat, als gut für sie war, aber sie konnte nicht anders. Raven hatte es schon immer wissen wollen. Sie musste herausfinden, ob ihre Hirngespinste der Realität standhalten konnten. Ob das, was sie sich nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, so zusammensponn, wirklich funktionierte. In ihr herrschte der unbezwingbare Drang, es auszuprobieren. Und deshalb stellte sie mittlerweile das meiste, was sie für ihre Prothesen brauchte, selbst her.
Was eine ganze Menge war. Ihr Repertoire hatte sich alleine in den letzten sechs Monaten noch einmal gehörig erweitert. Und sie war schneller geworden, konnte mehr Kunden bedienen und brauchte dementsprechend auch mehr Material.
All die neuronalen Verbindungen mussten zum Beispiel mit künstlich hergestellten kleinen Kanälen geschaffen werden; diese Kanäle bildeten den Großteil dessen, was sie hier in ihren vier Wänden herstellte. Und es waren komplizierte kleine Gebilde, für jeden Körperteil brauchte sie andere. Außerdem mussten sie die Informationen zuverlässig transportieren, durften im Körper nicht rosten oder sich zersetzen, auch durften sie nicht verstopfen, sonst hatte der Kunde sehr schnell ein Problem. Sie hatte ewig gebraucht, um für diese Dinger eine Lösung zu finden, die nun in Form von zwei altersschwachen 3-D-Druckern in der Mitte des Raumes stand.
Es war reiner Zufall gewesen, dass Raven die Teile auf dem Schwarzmarkt entdeckt hatte – heute wurden sie kaum noch genutzt. Eine Zeit lang waren sie in Mode gewesen, doch dann wieder aufgegeben worden, was sie allerdings nicht nachvollziehen konnte. Raven mochte sich überhaupt nicht vorstellen, was passierte, wenn einer ihrer Drucker einmal den Geist aufgab. Bisher war es ihr gelungen, sie jedes Mal wieder zu reparieren, doch ob das ewig so blieb?
Seit sie einen Weg gefunden hatte, ihre eigenen Neuro-Tubes herzustellen, brummte ihr Geschäft erst richtig. Nun hatte sie die Möglichkeit, nicht nur Kniegelenke zu tunen oder Waffen mit Sprungmechanismen einzubauen, sondern konnte eben auch mit neuen Augen und anderen Dingen experimentieren, die viel komplexer funktionierten. Momentan arbeitete sie an aufsetzbaren Fingerkuppen, die genauso sensibel waren wie die echten. Ihr fielen auf Anhieb eine Menge Leute ein, die sich dafür interessieren könnten. Es war kaum auszudenken, was sie noch alles tun könnte. Mit ihren Fähigkeiten gehörte sie nicht hierher, sondern auf eine medizinische Forschungsstation, das wusste sie. Sie könnte auch viel Gutes bewegen mit dem, was sie draufhatte. Und manchmal wünschte sie sich nichts sehnlicher als das. So sehr, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Aber ihr Leben war schon vor einer ganzen Weile falsch abgebogen. Das konnte man nicht mehr reparieren. Wahrscheinlich war es schon seit ihrer Geburt verkorkst, und das war nicht mal ihre Schuld.
Trotzdem war sie wild entschlossen, ihre eigenen Grenzen immer und immer wieder zu testen und zu überschreiten.
Wenn nicht bald ein Knall ihr ganzes Leben in Stücke reißen würde. Vielleicht fehlten nur noch wenige Tage und sie würde genauso tot in ihrer Wohnung liegen wie Bartosz. Dann konnte sie nur hoffen, dass irgendjemand sie fand und rausschaffte, bevor die kleinen Tierchen, die sicher millionenfach im Teppichboden wohnten, sie Stück für Stück zersetzten.
Raven zischte leise und versuchte, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Ihr war eiskalt, sie brauchte eine Dusche. Doch vorher musste sie noch die Drucker anschmeißen. Dieser dämliche Strafdienst brachte ihre gesamte Planung vollkommen durcheinander.
Sie stellte die Drucker an und aktivierte drei große Wärmeplatten, die auf einem der Tische an der Wand aufgereiht waren. Auf ihnen standen große Töpfe mit Silikon, das nun erhitzt wurde, damit es sich besser verarbeiten ließ. Schon nach kurzer Zeit stank es gehörig in der kleinen Wohnung, aber das fiel nicht weiter auf. Im gesamten Viertel stank es.
Im Nebenraum brummten vier gewaltige Kühltruhen vor sich hin. Raven ging zur ersten und zog einen Sack mit Fleischstücken hervor. Es waren Reste vom Schlachthof, hauptsächlich vom Schwein. Sie kaufte jede Woche einen riesigen Vorrat davon; zum Glück hatte sie einen ganz guten Draht zu einem der Zerteiler dort; der brachte ihr das Zeug mit dem Auto in die Stadt, dafür brachte sie ihm aus dem Gardens mit, was er brauchte. Die perfekte Symbiose. Sie war auf das Schweinefleisch angewiesen. Es war wichtig für die Tubes, da nur Schweinefleisch bzw. Schweinefett die notwendige Ähnlichkeit zum menschlichen Gewebe aufwies.
Sie zitterte nun noch stärker; das kalte Fleisch zwischen ihren Fingern half nicht gerade dabei, sie aufzuwärmen. Raven wusste, dass sie körperlich und nervlich mit Vollgas über ihre Grenzen bretterte, sie kannte sich gut genug. Allerdings half ihr dieses Wissen überhaupt nicht weiter. Sie hatte keine Chance, sich hinzulegen und ein wenig zu schlafen; außerdem war sie sich sicher, dass Schlaf in der jetzigen Situation ohnehin das Letzte war, was sie in ihrer Wohnung finden würde. Dämonen und dunkle Gedanken, das gab es für sie dort oben. Raven konnte es sich auch schlichtweg nicht leisten auszuruhen. Sonst würde sie im Mahlwerk des Gardens zermalmt werden wie schon so viele andere vor ihr. Sie hatte sich geschworen, niemals selbst so blöd zu sein. Manchmal konnte man keinen Gang rausnehmen, selbst wenn man es eigentlich müsste. Manchmal konnte man nur bei voller Geschwindigkeit gegen den nächsten Baum rasen.
Sie schüttete die Schlachtabfälle in einen Hochleistungsmixer und sah zu, wie die rotierenden Klingen Fett, Fleisch und Knochen in einen bizarr süßlich wirkenden rosa Brei verarbeiteten, den sie mit dem Silikon vermengte und schließlich auf die Drucker verteilte. Ein paar Stunden konnten die Geräte mit dem Material arbeiten, ohne dass sie etwas tun musste. Wenn die Mischung richtig eingestellt war, was sie eigentlich immer war, verklebten die Tubes nicht so schnell miteinander und konnten schon mal antrocknen. Raven würde sie später auf die richtige Länge kürzen und zum Durchtrocknen auslegen. Sie checkte schnell noch ihre anderen Werkstücke, dann ging sie wie immer zu der Kühltruhe, die an der hintersten Wand stand, öffnete den Deckel einen Spaltbreit und berührte ganz sachte einen der Finger, die zwischen den Fleischsäcken herausragten. Dabei durchlief sie ein Schauder, der weder von der Kälte noch von der Müdigkeit herrührte.
Eigentlich war sie kein abergläubischer Mensch, aber dieses Ritual vollführte sie jedes Mal, wenn sie diese Wohnung wieder verließ. Es war das Versprechen, eines Tages alles wiedergutzumachen. Insgeheim wusste sie, dass ihr das nicht mehr gelingen konnte, doch alleine das Vorhaben hielt sie innerlich zusammen.
Es half ihr, jeden Tag einen Schritt nach dem anderen zu gehen.
»Gott, was ist denn mit dir passiert, Mädchen?« Professor Lorenz musterte sie über den Rand seiner Vergrößerungsbrille hinweg besorgt, als sie durch die Doppelflügeltür aus Metall in den Sektionssaal trat. Raven hätte gar nicht gedacht, dass sie noch immer so schlimm aussah; sie hatte geduscht, sich die Haare gewaschen und sie zu einem braven Pferdeschwanz gebunden. Für Professor Lorenz war sie, zumindest dem Anschein nach, die Medizinstudentin Caroline, die sich mit der Arbeit bei ihm etwas dazuverdiente – auch wenn sie wusste, dass er genau wusste, dass sie das nicht war. Trotzdem versuchte Raven immer, sich halbwegs anständig zurechtzumachen, wenn sie zu Lorenz in die Rechtsmedizin ging. Irgendwie gehörte das zu ihrer unausgesprochenen Übereinkunft.
Sie zog sich ihre blassen Augenbrauen mit einem hellbraunen Stift nach und legte sogar ein bisschen Rouge auf, damit sie nicht ganz so gespenstisch weiß wirkte. Raven setzte dunklere Kontaktlinsen ein, um ihr Erscheinungsbild abzuschwächen, obwohl das die Sehkraft ihrer eigenen Augäpfel merklich verringerte. Anfangs hatte sie sich noch vorgemacht, sie täte es, damit der Arzt keine Fragen stellte, doch das war einfach nicht der Fall. Raven mochte Lorenz. In seinem Sektionssaal fühlte sie sich auf eine Art normal und geborgen, die sie nirgends sonst in Berlin finden konnte. Der Ort, den die wenigsten Menschen auf der Welt mit Komfort und Wärme verbinden würden, war für Raven ein wohliger Hafen. Ein Kokon der Akzeptanz und Sicherheit. Sie wollte, dass Lorenz sie für normal hielt. Der einzige Mensch auf der Welt, bei dem es so war. So normal, wie ein schrulliger, leicht zynischer alleinstehender Rechtsmediziner einen anderen Menschen nun mal finden konnte.
Sie lächelte leicht und zuckte mit den Schultern. »Ich war die ganze Nacht auf und habe gelernt«, sagte sie und trat an den Professor heran, um sich von ihm in eine kurze Umarmung ziehen zu lassen. Es gab nur wenige, die das überhaupt durften.
»Ja, das Medizinstudium ist eines der härtesten, mein Mädchen. Nur die Besten kommen da durch. Und nur die Allerbesten landen in diesem fensterlosen Scheißloch!« Er zwinkerte ihr zu, und sie hörte sich kichern. Raven kicherte eigentlich nie. Hier drin durfte sie es.
Sie ging zu den angerosteten Spinden, die an einer Wand standen, und holte eine Schürze aus einem der schmalen Metallschränke hervor. Die Tür quietschte dabei recht eindrucksvoll, und wie jedes Mal hatte Raven Lust, sie mit Schwung zuzuschmeißen, einfach nur um zu hören, wie das wohl klingen würde. Aber Caroline schmiss keine Spindtüren zu. Sie nicht.
»Was kann ich tun?«, fragte sie, und Professor Lorenz zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Du kannst den wieder zumachen!«
Raven ging zu der Leiche, die gemeint war, und betrachtete sie. Es war ein junger Mann mit dunklen Ringen unter den Augen. Ausgezehrt und bleich. Seine Haare waren stumpf und die Fingernägel abgeknabbert. Überall an seinem Körper waren kleine rote Einstichstellen zu sehen.
»Überdosis?«, fragte sie, während sie sich an die Arbeit machte.
Lorenz schüttelte den Kopf. »Nein, erstaunlicherweise nicht. Akutes Nierenversagen. Sicherlich auch eine Folge seines Lebenswandels, aber keine direkte. Manchmal lohnt es sich sogar, diese armen Teufel aufzumachen. Man lernt doch immer was dazu.«
Er kratzte sich am Kopf, dann lächelte er. »Der ist jedenfalls nicht halb so interessant wie der Kerl, den sie mir vor ein paar Stunden reingebracht haben. Warte mal hier.«
Raven nickte mit einem, so hoffte sie, Ausdruck milden Interesses auf dem Gesicht. Sie ahnte, was jetzt kam. Oder vielmehr, wer. Hoffte und fürchtete es zu gleichen Teilen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und brachte vielleicht sogar ein bisschen Gesichtsfarbe mit.
Professor Lorenz schob eine Bahre in den Sektionssaal und brachte sie neben dem Tisch, an dem Raven arbeitete, zum Stehen. »Eigentlich habe ich noch drei andere in der Warteschleife, und Michelsbach wird toben, wenn er erfährt, dass wir den hier zuerst aufgemacht haben, aber ich kann ihn dir einfach nicht vorenthalten.«
Er schlug das Laken zurück, und Bartosz kam zum Vorschein. Raven pfiff durch die Zähne und bemühte sich um einen überraschten Gesichtsausdruck. »Liebe Zeit, was ist denn mit dem passiert?«
»Erschossen und von seinen Augäpfeln befreit. Nun will die Polizei natürlich gerne wissen, warum.« Lorenz lachte trocken. »Als wenn wir dabei helfen könnten. Na, aber schauen wir mal, was wir finden können.«
Ravens Herz schlug bis zum Hals. Sie beobachtete Professor Lorenz dabei, wie er mit der äußeren Leichenschau begann, während ihre Finger mit traumwandlerischer Sicherheit den Brustkorb des Drogenabhängigen wieder schlossen. Das Zunähen war offiziell die einzige Aufgabe, die ihr hier zufiel, weil es der Teil der Obduktion war, den Lorenz am wenigsten leiden konnte. Und zugegeben, besonders interessant war es auch nicht. Doch für Raven war es in Ordnung. Was sie über die menschliche Anatomie und Medizin wusste, hatte sie zu einem kleinen Teil aus Büchern, zum größten Teil aus diesem Raum. Wenn es sein musste, würde sie bis an ihr Lebensende Brustkörbe zusammennähen.
Lorenz machte sich an den klaffenden Höhlen zu schaffen, die einmal ihre wunderschönen Cheater-Augäpfel beherbergt hatte. Die echten Augen des Diebs lagerten, wie so vieles andere, bei ihr in einer der Kühltruhen. Eine Sache, die ihr fast schon ein bisschen leidtat. Irgendwie kam es ihr falsch vor, einen Menschen ohne seine Augen zu bestatten. Zwar glaubte sie eigentlich nicht an ein Leben nach dem Tod, doch ein kindlicher Teil in ihr fragte sich trotzdem, wie der arme Mann auf dem Weg ins Jenseits denn etwas sehen sollte.
Raven setzte die letzten Stiche, machte einen festen Knoten und beendete ihre Arbeit. Dann stellte sie sich neben den Professor.
»Was hat der Mörder benutzt, um die Augäpfel rauszutrennen? Ein Messer?«
Lorenz schüttelte den Kopf, während er mit einer Lupenbrille auf der Nase tief über den Toten gebeugt dastand. »Nein, dann müssten die Krater in der Mitte spitz zulaufen. Bei dem Winkel hätte man das niemals so sauber hinbekommen. Ich tippe spontan auf einen scharfen Löffel.«
»Chirurgenbesteck?«
Lorenz nickte. »Sieht mir ganz danach aus.«
»Also war es ein Arzt.« Raven spürte, wie Hitze in ihr hochstieg. Kein gewöhnlicher Krimineller aus dem Umfeld des Gardens. Das machte die Sache umso gefährlicher.
»Zumindest jemand, der sich auskennt«, murmelte Lorenz. Er hatte sich mittlerweile so tief über die Leiche gebeugt, dass seine Nasenspitze beinahe an die von Bartosz stieß. Plötzlich hielt er inne.
»Was ist das denn?« Seine Hand schoss nach hinten in Ravens Richtung. »Gib mir mal die kleine Pinzette.« Raven gehorchte, auch wenn sie sich wunderte, dass ihre Gliedmaßen ihr nicht den Dienst verweigerten. Sie legte dem Rechtsmediziner das kalte Metall in die geöffnete Hand.
Dieser zog mit verwirrter Miene eine ihrer Neurotubes aus der Vertiefung und hielt sie gegen das Licht.
Raven musste sich am Sektionstisch festhalten, um nicht umzukippen.
Professor Lorenz betrachtete den kleinen Kanal, den sie eigenhändig und extra für Bartosz gedruckt, von Graten befreit, beschichtet und eingesetzt hatte, von allen Seiten. Die Ratlosigkeit in seinem Gesicht war vollkommen.
Dann wandte er sich an Raven. »Was um alles in der Welt soll das sein?«, fragte er erneut, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten.
Professor Lorenz konnte nicht ahnen, dass Raven der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, der ihm tatsächlich eine geben konnte.