Sie stand in ihrem Büro und überblickte den Hafen. Zwar war es nicht so, dass ihr alles gehörte, was sie von diesem Punkt aus sehen konnte, doch immerhin alles, was sich zu ihren Füßen befand. Und so war es ihr eigentlich noch lieber. Alles war ihr zu ihren Füßen lieber.
An diesem Tag war die Welt hart und kalt. Dichter Nebel waberte durch das Hafenbecken, in dem die unbemannten Drohnenschiffe beladen oder gelöscht wurden. Menschen waren auf dem riesigen Areal so gut wie gar nicht mehr zu sehen. Dank eines Pilotprojekts, das helfen sollte, die Zahl der Toten bei Überfällen auf die Schiffe zu minimieren. Und das sie finanziert und mit auf die Beine gestellt hatte. Aus guten Gründen.
Die Fracht selbst war mit Sprengfallen geschützt, sodass sie meist sicher beim Kunden ankam. Spätestens nach der dritten oder vierten großen Explosion hatte sich die neue Strategie wohl in einschlägigen Kreisen rumgesprochen und Zigtausende Piraten mussten sich nun nach einer neuen Arbeit umsehen. Hafenarbeiter und Schiffsbesatzungen allerdings ebenfalls. Alles dank ihrer Technik. Sie hatte sogar irgendeinen Innovationspreis dafür verliehen bekommen. Ophelia konnte sich nicht mehr erinnern, welcher es gewesen war;
ihre Trophäe hatte sie auf der Toilette der anschließenden Galaveranstaltung »vergessen«. Sie hasste diese Dinger – wer bitte schön stellte sich so was schon freiwillig hin??!
Die Ingenieure ihrer Firma hatten das Pilotprojekt möglich gemacht, das nun auf Bremerhaven ausgeweitet wurde, ihre Spendengelder hatten geholfen, das Ganze überhaupt auf die Beine zu stellen. SeaSafety – we see to your safety. Beim Gedanken an diesen Claim verdrehte Ophelia ihre wunderschönen tiefblauen Augen. Wenn sie ihre Werbefuzzis nicht brauchen würde, hätte sie die ganze Bande schon längst auf die Straße gesetzt. Sie hatte überhaupt nichts für Wortspiele übrig, musste aber einsehen, dass die Leute sie wohl mochten.
Sollte allerdings noch ein Mensch aus dieser verfluchten Abteilung in diesem Jahr auf die Idee kommen, ein Kleinkind auf sie loszulassen, dann konnte sie für nichts mehr garantieren. Außer für Schlagzeilen, aus die auch ihr PR
-Team sie nicht mehr würde rausschwatzen können.
Was für ein Scheißjahr das war. Erst Kannenberg und wenig später der Verlust von Sky. Wenn sie an den jungen Mann dachte, dann stieg ihr noch immer Röte ins Gesicht, und ihre Hände wurden feucht. Sie wollte ihn zurück, verdammt noch mal. Und zwar sofort. Was nützte einem alles Geld der Welt, wenn man damit nicht kaufen konnte, was man wirklich wollte? Sie hatte einen Stapel Hochglanzhefte in ihrer Schreibtischschublade. Von jedem Cover lächelte ihr Sky entgegen. Ihr Wunderschöner.
Nach seinem Verschwinden hatte sie nicht in Ruhe durch Hamburg gehen können – überall, auf jeder Zeitung, auf jedem Bildschirm sein Gesicht. Kein Ort, an dem sie ihrer Trauer entkommen konnte.
Mittlerweile ging es, der schnelllebigen Zeit sei Dank. Sie hätte es nicht mehr lange ertragen.
Ihre Absätze klapperten über den spanischen Mosaikfliesenboden,
zu dem der Innenarchitekt ihr geraten hatte, um die »harte, technische Kulisse des Unternehmens zu brechen und dem Leitungsbüro einen geschmackvollen, menschlichen Touch zu geben«.
Menschlicher Touch. Sie befand sich im zwölften Stock, spanische Mosaikfliesen wirkten nicht menschlich, sondern lächerlich! Warum sie damals zugestimmt hatte, war ihr mittlerweile ein Rätsel. Wahrscheinlich, damit dieser Schwachkopf aufhörte zu sprechen. Die bunten Muster machten sie übellaunig, einzig das Klappern ihrer Schuhe gefiel ihr an manchen Tagen; wenn sie besonders wütend war, gab dieses Geräusch den Rhythmus vor und steigerte ihre grimmige Entschlossenheit.
Othello würde diese Fliesen mögen. Er hatte schon immer eine Schwäche für das Exotische gehabt, das Mediterrane, das Unfertige. Sie selbst hasste den Süden. Dreck und Faulheit und bröckelnde Fassaden an Häusern und Menschen. Ophelia Sander mochte es blank poliert und aufgeräumt. Stahl und Glas und ein nach Farben sortierter Kleiderschrank.
Othello.
Am Anfang hatte sie ihren Bruder noch vermisst, aber dieser Freak hatte sich entschieden, und wann immer sich jemand gegen sie entschied, verschwendete Ophelia keine Zeit mehr auf ihn. Sie hatte schließlich Großes vor. Doch sie hatte trotzdem Leute, die nah an ihrem Bruder dran waren, und allmählich keimte in ihr der Verdacht auf, Othello könnte tatsächlich etwas mit Skys Verschwinden zu tun haben. Er wollte sie um jeden Preis vernichten; Ophelia wusste das. Sie konnte es spüren, kannte ihren Bruder und wusste, wie er tickte.
Allerdings hätte sie nicht vermutet, dass irgendjemand von ihrer Zuneigung zu Sky wusste, am allerwenigsten ihr Bruder. Aber wenn sie Leute bei ihm hatte, wieso sollte er keine Leute bei ihr haben? Er war alles Mögliche, aber nicht blöd. Ein Teil von ihr wollte ihn tot sehen.
Oder nein, vielleicht nicht tot. Aber zerstört. Kaputt. Am Ende. Zu ihren Füßen eben.
Es reichte ihr nicht, zu wissen, dass sein Teil des Konzerns weniger wert war. Oder dass er Single war. Oder, um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, dass er neuerdings die Dienste einer optisch sehr fragwürdigen Hure in Anspruch nahm.
Nein, Ophelia wollte, dass Othello vor ihr auf dem Boden lag und litt. Am besten, so überlegte sie, direkt hier. Sie stellte sich vor, wie das Blut ihres Bruders aus ein paar nicht tödlichen Wunden auf den schweineteuren Mosaikboden sickerte. Wie sie einen ihrer Pfennigabsätze durch das weiche Fleisch seiner Wange bohrte, genau dort, wo die verdammten Grübchen saßen. Ein Mädchen würde ja wohl noch träumen dürfen.
Es klopfte an ihrer Tür. Nur ein Mensch auf der Welt durfte das. Ohne telefonische Ankündigung an ihre private Bürotür klopfen.
»Ja, kommen Sie rein!«
Ronny Könighaus schob sich in das Zimmer und blieb höflich wie immer an der Schwelle stehen. Offiziell war er ihr Sicherheitschef, inoffiziell kümmerte er sich um alles. Vor allem um die dunklen Ecken ihrer Existenz. Von daher sah sie ihn oft, in letzter Zeit sogar immer öfter. Die Dunkelheit kroch von den Ecken allmählich ins Zentrum ihres Daseins.
Sie hatte den Schläger, Zuhälter und was zur Hölle er sonst noch alles war, direkt nach ihrer Ankunft in Hamburg von den Straßen St. Paulis weg rekrutiert und diesen Schritt bisher nicht bereut.
Jedenfalls meistens nicht. Ronny hatte die irritierende Angewohnheit, ständig an seinen maßgeschneiderten Anzügen herumzuzupfen, als würden sie nicht richtig sitzen, was Blödsinn war. Sie saßen hervorragend. Wozu bezahlte sie sonst diese Witzfigur von Schneider?
»Warum malträtieren Sie den armen Stoff so?«, fragte Ophelia
schneidend, als Ronny sich wieder einmal den Daumen in seinen Hemdkragen schob im Versuch, ihn zu lockern.
»Dreißig Jahre uffm Kiez, Sanderin. Ich hab immer nur kurze Hosen und ein T-Shirt getragen. Jeden Tag mein Lebn lang. Sommers wie winters.« Er kratzte sich am Hals, an dem die alten, dunkel gewordenen Tattoos zu einer undefinierbaren Masse aus Linien und Farben verschwommen waren. Der Mann trug Hemden aus hundert Prozent Baumwolle. Was sollte da schon kratzen?
»Seit zehn Jahren arbeiten Sie aber ausschließlich für mich. Und es wäre langsam an der Zeit, sich auch so zu benehmen, König. Ich lege Wert darauf.«
Ophelia zog eine Augenbraue nach oben, und Ronny faltete brav die Hände vor der Brust und nickte. »Natürlich.«
Als sie ihn angesprochen und ihm ein Angebot gemacht hatte, das eigentlich niemand in seiner Situation hätte ablehnen können, hatte Ronny kaltschnäuzig Forderungen gestellt. Er hatte darauf bestanden, sie Sanderin nennen zu dürfen (nicht Chef oder Boss, weil er hatte keinen Chef oder Boss), und hatte ihr eröffnet, dass er sich niemals so eine fein geschliffene Sprache anschaffen würde, wie sie sie am Leibe trug.
Das hatte Ophelia gefallen. Sie mochte es, wenn Menschen versuchten, das meiste aus allem herauszuholen. Wenn sie mit festem Blick Forderungen stellten, selbst wenn es noch so lächerliche Forderungen waren. Solche Leute verstand sie; sie traute ihnen, weil sie ihr ähnelten. Und dass er sich eine andere Sprache angewöhnte, wollte sie gar nicht. Zusammen mit dem tätowierten Körper und dem Stiernacken kommunizierte seine Ausdrucksweise eindeutig, dass mit Ronny kein Spaß zu machen war. Unterschwellig, aber eindeutig.
»Irgendwas Neues?«
Ronny straffte die Schultern. »Wir haben den Hacker aus dem Gefängnis geholt, wie Sie gesagt haben. Er ist unten und wird von Rosa
ein bisschen aufgepäppelt und hübsch gemacht. Der Junge weiß, dass ihn seine Flucht was kosten wird, er ist nicht dumm und bereit zu kooperieren. Ich glaube auch, er ist schon ziemlich neugierig.«
Ophelia nickte. »Gut.«
»Allerdings schätze ich nicht, dass er alleine in der Lage sein wird …«
Ophelia schnaubte und schnitt ihrem Sicherheitschef das Wort ab. »Was Sie schätzen oder nicht, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang, König«, sagte sie scharf. »Oder sind Sie neuerdings Computerexperte?«
Ronny Könighaus wurde rot. »Nein, natürlich nicht«, brummelte er. Gut so. Kleinlaut waren ihr Männer am liebsten. Korrektur: Kleinlaut waren ihr Menschen am liebsten.
Sie ließ Könighaus ohnehin viel zu viel durchgehen, das wusste sie. Er hatte jederzeit Zugang zu ihr und bezog ein Gehalt, das seine mangelnde Bildung nun wirklich nicht rechtfertigte. Sie zahlte monatlich außerdem noch eine bestimmte Summe auf ein spezielles Konto für seine beiden Kinder ein, damit diese eine sichere Zukunft hatten, sollte ihrem Vater während der Arbeit etwas zustoßen. Er durfte ihr sogar eine Art Spitznamen geben. Herrgott noch mal.
Eigentlich konnte sie es sich nicht mehr leisten, jemanden so nah um sich zu haben, und in der meisten Zeit ertrug sie es auch nicht. Bei König war das anders. Insgeheim wusste Ophelia, dass sie den tätowierten kleinen Mann mit der Reibeisenstimme gern um sich hatte, aber sie würde niemals so tief sinken, es sich oder anderen einzugestehen. Er hatte keine Angst vor ihr, verurteilte sie nicht für das, was sie tat und war auch sonst sehr entspannt und umgänglich in ihrer Nähe, ganz egal, was sie ihm an den Kopf knallte. Er war ihr Ventil und hatte kein Problem damit. Und sie hatte ihn durchaus schätzen gelernt.
In ihrer Schreibtischschublade lag eine Pistole mit Schalldämpfer.
Sie konnte Ronny Könighaus jederzeit erschießen. Genau wie jeden anderen, der ihr Büro betrat. Und die Panzerglasfenster würden nicht einmal Schaden nehmen; mehr noch: Sie würden sogar den Schall im Raum halten. Niemand würde etwas mitbekommen. Diese Tatsache beruhigte sie etwas. Wenn sie merkte, dass er sie beeinflusste oder sie weich machte, konnte sie ihn immer noch verschwinden lassen.
»Haben die Ermittler schon etwas herausgefunden?«
Ronny schüttelte den Kopf. Nicht genug. »Nach wie vor ist keines von Kannenbergs anderen Geräten irgendwo auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht, und von der Konkurrenz ist niemand dabei, etwas Ähnliches zu entwickeln. Aber das wissen Sie ja am besten.«
Er spielte auf ihren Bruder an. Ja, dass er es nicht wagen würde, an solch einem bahnbrechenden Projekt zu arbeiten, wusste sie allerdings. Sie wusste es schon seit Jahren.
»Wir müssen wissen, wann und wo Sky zuletzt online war, damit wir irgendwo ansetzen können.«
Ophelia presste die Lippen frustriert zusammen, nickte aber. Sie wusste, dass er recht hatte. Warum sonst hatte sie den Hacker aus dem Gefängnis holen lassen?
»Haben Sie schon einen schweigsamen Friseur gefunden, der den Kerl … wie heißt er noch mal?«
König schmunzelte. »Er nennt sich Seasalt, aber sein richtiger Name lautet Sven Loran.«
»… der diesen Loran umstylen kann?«
»Besser: Ich habe eine stumme
Friseurin gefunden, die ihn umstylen kann. Sie hat mal beim Film in der Maske gearbeitet und ist mir noch was schuldig.«
Nun musste Ophelia gegen ihren Willen lächeln. »Was würde ich nur ohne Sie machen?«
König erwiderte das Lächeln und zog die Augenbrauen hoch. »Ehrliche Antwort?«
Ophelia nickte.
»Wahrscheinlich mit einem Betonklotz an den Füßen im Hafenbecken ersaufen.«