Sein Nacken war steif und schmerzte, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Es kostete ihn einen Augenblick, um zu verstehen, dass er in seinem Büro am Schreibtisch eingenickt war. Mittlerweile war es dunkel geworden, und Birol hatte sein Licht nicht angeschaltet, weshalb er eine Weile brauchte, um sich zu sortieren. Was hatte er noch mal zuletzt getan? Warum war er hier? Wie spät war es?
Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah sich blinzelnd um. Wieder einmal hatte er den richtigen Zeitpunkt verpasst, um nach Hause zu gehen. Jetzt war es sicher schon mitten in der Nacht.
Als er den riesigen Schatten bemerkte, der in seinem Türrahmen stand, zuckte er zusammen.
»Willst du nicht langsam mal heim zu deiner Familie gehen, Junge?«
Birol rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Nacken und knipste die Schreibtischlampe an. In seinem Sichtfeld tanzten nun dunkelrote und -blaue Flecken.
»Ich muss wohl eingenickt sein«, antwortete er schlaftrunken und musterte Hinnerk Blume nachdenklich. Irgendetwas war falsch daran, dass sein Chef jetzt hier war, aber er wusste nicht, was. Sein Gehirn war noch nicht vollständig wieder hochgefahren.
»Das ist mir nicht entgangen.«
Hinnerk kam unaufgefordert in sein Büro geschlendert und setzte sich Birol gegenüber auf einen der ausgeleierten Sessel, die nur hier standen, weil niemand die Muße hatte, sie zum Müll oder auch nur in den anderen Teil des Gebäudes zu bringen. Wie eigentlich alles in seinem Büro.
Birol griff nach seiner Kaffeetasse und goss sich einen Schluck des längst eiskalten Gebräus in den Rachen. Auf der Oberfläche hatte sich bereits eine Haut gebildet. Irgs.
»Und was machst du noch hier, Boss?«, fragte er. »Es ist doch sicher schon spät.«
»Ich bin oft sehr lange hier, weißt du?«, antwortete Hinnerk und seufzte. All die Jovialität schien aus ihm gewichen zu sein. Er wirkte müde und abgekämpft auf Birol, beinahe, als hätte er tatsächlich den ganzen Tag gearbeitet. Vielleicht hatte er seinem Chef in der Vergangenheit ja unrecht getan. Vielleicht arbeitete Hinnerk deutlich öfter und länger, als Birol vermutete.
»Wie lief es mit den beiden Damen heute?«, fragte Hinnerk nun.
Birol zuckte die Schultern. »Ganz gut, glaube ich. Sie sind nicht sehr zugänglich, aber gescheit. Gute Auffassungsgabe, scharfsinnig. Und keine von beiden ist beim Anblick der Leiche in Ohnmacht gefallen.«
Nun lachte Hinnerk doch, aber es war ein leises Lachen, nicht dieses laute Bellen, das Birol sonst von ihm gewohnt war.
»Na, das ist etwas, das ich nicht einmal von all meinen Mitarbeitern sagen kann. Schön. Dann klappt das mit euch.«
»Ich denke schon. Mal sehen, wie sich der Fall entwickelt.« Birol nickte nachdenklich. »Darf ich dich was fragen?«
»Du kannst es ja mal versuchen.«
»Wieso war niemand von uns am Tatort, als wir eintrafen? Keine Spurensicherung, kein Rechtsmediziner, auch keine Streife. War einigermaßen unheimlich. Ich war zwar noch nicht an so vielen Tatorten, aber ich habe wie alle anderen auch eine Ausbildung genossen und kann sagen, dass sich hier nicht an die Vorschriften gehalten wurde. Die Wohnung war noch nicht einmal abgesperrt oder versiegelt, alles war vollkommen verlassen. Wie kann das sein?«
Hinnerk runzelte die Stirn. »Nicht abgesperrt sagst du?«
Birol schüttelte den Kopf.
»Tja, das darf natürlich nicht vorkommen und ist völlig inakzeptabel. Ich habe zwar keinen Überblick über die Kollegen von der Streife, werde es aber weitergeben.«
»Gut, danke.«
»Da gibt es nichts zu danken. Das gehört zu meinen Pflichten.«
»Und was ist mit dem Rest?«
»Welchem Rest wovon? Von meinen Pflichten?«
»Na, dass der Fall nicht wie vorgeschrieben behandelt wurde? Ich musste alles selbst in die Wege leiten. Warum haben das die Kollegen nicht gemacht?«
Hinnerk seufzte. »Ach Junge, wann wirst du dich endlich mit der Realität in diesem Amt vertraut machen?«
Birol erwiderte den Blick seines Chefs, sagte aber nichts, sondern begnügte sich mit einem auffordernden Hochziehen der Brauen.
»Wir haben kein Geld. Und nicht genug Leute. Wir müssen Tausende Aufgaben erledigen, mit denen wir eigentlich nichts zu schaffen haben sollten. Das eine ist, was in deinen Lehrbüchern steht, das andere ist, was hier tagtäglich abgeht. Die beiden Dinge unterscheiden sich fundamental voneinander.«
»Aber es handelt sich um brutalen Mord!«
Blume massierte sich die Schläfen. »Ja, brutalen Mord an einem Niemand, den keiner vermisst hat und den wahrscheinlich auch keiner vermissen wird. In dieser Stadt passieren Morde im Sekundentakt.« Er hob die Hand und stach seinen Zeigefinger in Birols Richtung. »Jeden Tag klingelt mein Telefon, und irgendein hohes Tier ist dran, um mich höchstpersönlich mit einer brisanten Aufgabe zu betrauen. Ich muss entscheiden, wo wir ermitteln, wozu ich meine Leute einsetze. Dabei darf ich niemandem auf die Füße treten und muss zusehen, dass die Ordnung in diesem verdammten Stadtteil aufrechterhalten wird. Es ist ein Drahtseilakt, von dem du noch nichts verstehst, weil du noch grün hinter den Ohren bist, Junge! Du kannst froh sein, dass ich dich und die Mädchen einen Mordfall behandeln lasse, der keine Sau interessiert. Die ganze Sache ist für euch mehr als Übung gedacht. Dafür fehlt ihr mir an anderer Stelle. Und der arme Teufel kann auch froh sein, dass es so gekommen ist, ansonsten würde er wahrscheinlich langsam von den Ratten in seinem Apartment aufgefressen. Das ist die Realität in dieser Stadt, und da werden weder du noch ich irgendwas dran ändern.«
Hinnerk stand auf und wandte sich zum Gehen. »Du bist ein guter und fleißiger Polizist, Celik, aber du hinterfragst zu viel. Wenn du es hier wirklich zu etwas bringen willst, dann musst du lernen, auch mal den Mund zu halten.«
Sein Blick fiel auf die Akten, die Birol auf seinem Tisch liegen hatte. Darunter, wie immer, der schmale Ordner, der über den Tod seines Vaters angelegt worden war. Er kannte jedes einzelne Wort auswendig, ließ den Ordner aber auf seinem Schreibtisch liegen, um nicht zu vergessen, dass er geschworen hatte, alles aufzuklären und seinen Vater zu rächen.
»Lass die Vergangenheit ruhen, Birol. Sieh es als gut gemeinten Rat. Denn ich kann dich hier nicht ewig beschützen, weißt du?«
Birol schob die Unterlippe vor. »Aber an dem Fall ist was faul.« Er tippte auf den Aktendeckel. »So, wie es hier drinsteht, kann es sich überhaupt nicht abgespielt haben. Da sind Lücken im Bericht, so groß, dass meine Oma auf einem Elefanten durchreiten könnte. Und die ist blind!«
Hinnerk schüttelte den Kopf. »Ich zweifle nicht an dem, was du sagst, Junge. Aber ich rate dir nochmals, das Kapitel abzuschließen. Es wäre besser für dich und für uns alle.«
Die Wut, die in Birol geschlafen hatte, begann sich in seiner Brust zu regen. Offensichtlich hatte er sich in Hinnerk Blume doch nicht getäuscht. Ganz im Gegenteil. Eigentlich war er noch schlimmer, als Birol gedacht hatte. Es war nicht so, dass Blume zu faul war, um etwas zu unternehmen, er wollte nur einfach nicht. Wie gerne hätte Birol seinem Chef alles, was er gerade dachte, um die Ohren gehauen. Er war sich sicher, dass das Brennen in seiner Brust dann ein wenig nachgelassen hätte, doch er war nicht dumm. Wenn er sich geschickt anstellte, dann würde sein Tag kommen. Der Tag, an dem er mit Hinnerk Blume und den ganzen anderen Männern und Frauen hier im Käfig abrechnen würde, dafür, dass sie seinem Vater nicht geholfen hatten. Und dass sie auch anderen nicht halfen, die in dieser Stadt in Not waren. In Birols Augen waren sie keine echten Polizisten, sondern nichts weiter als eine Schande. Sein Atem ging schwer, doch es gelang ihm, Ruhe zu bewahren. Sein Tag würde kommen, aber er lag noch fern. Deshalb fragte er schlicht: »Warum?«
Hinnerk schüttelte den Kopf. »Vertrau mir einfach.«
Dann öffnete er die Tür.
Birol fühlte sich vorgeführt, wie ein kleines Kind zurechtgewiesen, und er hasste es. Im letzten Moment fiel ihm noch etwas ein.
»Hey, Boss!«, rief er, und Hinnerk hielt im Türrahmen inne. Wortlos drehte er sich noch einmal zu Birol um.
»Wenn der Tote so dermaßen unwichtig war, warum wusstest dann ausgerechnet du von dem Fall, sonst aber keiner?«
Vielleicht lag es am Licht, vielleicht an der Müdigkeit, die sie beide umfing, doch Birol hatte das Gefühl, dass sich in diesem Augenblick das sonst immer freundliche Gesicht von Hinnerk Blume veränderte. Seine Mundwinkel sackten herab, die Augen verengten sich zu Schlitzen, und Schatten krochen durch die tiefen Falten an seinem Mund. Birol kam es so vor, als würde Hinnerk Stück für Stück von der Dunkelheit in Besitz genommen. Im selben Moment bemerkte er, wie ihm kalt wurde.
»Geh nach Hause«, forderte Hinnerk ernst, dann schloss er die Tür.