Die Hamburger Nacht war neblig und unwirtlich, der Nieselregen fiel beinahe horizontal auf die verlassenen Straßen und Plätze.
Das Wetter spielte ihm in die Hände, die Leute waren offener für sein Anliegen, wenn es draußen ungemütlich war. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit. Obwohl es streng genommen eigentlich keinen Teil daran gab, den er mochte. Professor Silbermann hatte sich an einen Punkt in seinem Leben und seiner Karriere manövriert, von dem er nicht mehr wegkam. Und an dem er sich niemals gesehen hätte, als er noch ein junger, idealistischer Student gewesen war. Schon oft hatte er sich gefragt, an welchem Punkt er falsch abgebogen war, doch er konnte sich nicht entscheiden. Als er Kannenbergs Angebot für das Forschungsprojekt angenommen hatte? Als er seinen ersten Freiwilligen angesprochen hatte? Oder als er sich bereit erklärt hatte, nach Kannenbergs Tod die Leitung des Projekts zu übernehmen?
Wahrscheinlich aber, als er begriffen hatte, wie viel sie alle zahlen würden. Dass es nicht so einfach durchführbar war, wie sie gedacht und gehofft hatten. Dass sich der menschliche Körper nun einmal nicht an ihre Berechnungen hielt.
Das Problem war, dass die Körper von Menschen, die lange auf der
Straße gelebt hatten, anders reagierten als die von normalen Menschen. Sie waren extremere Zustände gewohnt, waren unempfindlicher gegenüber Schmerz, aber durch die jahrelangen Strapazen kollabierten sie auch schneller. Silbermann war, wie seine Kollegen auch, überzeugt davon, dass es gelingen konnte, wenn sie nur einen Probanden fänden, der körperlich fit genug war. Einmal war es ihnen schließlich schon gelungen. Doch das war etwas anderes.
Fakt war: Er war zu weit gegangen, um jetzt noch umkehren zu können. Und er hatte viel zu viel Angst, um auszusteigen. Könighaus machte ihm da noch die wenigsten Sorgen.
Mittlerweile hasste er sich beinahe so sehr wie den Rest der Welt. Doch es half ja nichts.
Die Männer und Frauen hatten sich in Gruppen zusammengefunden. Im gedämpften Licht der Laternen sah man eigentlich nur unförmige Haufen aus Schlafsäcken.
Er war vorsichtig und ging jedes Mal in einen anderen Stadtteil. Silbermann wollte nicht erkannt werden, wollte nicht, dass die Leute misstrauisch wurden und Fragen stellten.
Er schlenderte durch St. Georg und sah sich wiederholt scheinbar flüchtig um. Zwischendurch prüfte er immer wieder, ob sein Handy seinen Standort noch sendete, um sicher zu sein, dass der Wagen in der Nähe war. Schließlich fand er, was er suchte. Ein Mann mittleren Alters saß im Eingangsbereich eines Discounters. Dem Zustand seiner Habseligkeiten nach zu urteilen, lebte er schon ziemlich lange ohne festen Wohnsitz. Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen. Gut. Ein weiterer Vorteil war, dass der Mann wach war und nicht betrunken schien. Silbermann hasste es, diese Menschen aus dem Delirium rütteln zu müssen. Trotzdem streifte er sich die dünnen Latexhandschuhe über. Bevor sie geduscht waren, fasste er sie nicht sonderlich gerne an.
Irgendwann in seinen ersten Jahren als praktizierender Arzt hatte
er sich eingestehen müssen, dass er den Beruf völlig verfehlt hatte. Arthur Silbermann war alles andere als ein Menschenfreund. Die meisten widerten ihn eher an.
Er setzte ein strahlendes Lächeln auf und näherte sich dem Mann, der ihm misstrauisch entgegensah. Zuerst guckten die alle so. Jeder von ihnen rechnete mit der Polizei oder sonst jemandem, der sie von ihrem relativ geschützten Schlafplatz vertreiben konnte.
»Guten Abend«, sagte Silbermann freundlich. »Haben Sie vielleicht ein paar Minuten für mich?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Worum geht’s? Ich hab nichts verbrochen.«
»Das habe ich auch gar nicht unterstellen wollen«, versicherte Silbermann. »Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen.«
Der Blick des Mannes wanderte an Silbermanns Körper hinab wie ein Röntgenscanner. Wach und aufmerksam. Keine Drogen, kein Alkohol. Das war gut. Vielleicht war es diesmal der Richtige.
»Und wieso sollten Sie das tun?«
»Nun«, Silbermann ging in die Hocke und schenkte dem Mann einen, so hoffte er, beinahe väterlichen Blick. »Sie erfüllen all unsere Kriterien.«
»Hm. Na dann lassen Sie mal hören. Schaden kann es ja wohl nicht.«
Silbermann strahlte. »Ganz im Gegenteil. Es kann für Sie sogar von großem Nutzen sein!«