Hinnerks merkwürdiges Verhalten hatte ihn dazu veranlasst, die Akte seines Vaters an sich zu nehmen. Was streng verboten war – ohne Hinnerks Erlaubnis war Birol nicht befugt, Akten aus dem Gebäude zu entfernen. Doch er hatte zu große Angst, dass sie sonst auf mysteriöse Weise von seinem Schreibtisch verschwand. Und der Pförtner hatte zu so später Stunde keine Fragen mehr gestellt. Auch war er in seiner Abteilung niemandem mehr begegnet. Hinnerks Büro war leer und dunkel gewesen, als er daran vorbeigegangen war. Fast so, als hätte er die seltsame Begegnung nur geträumt. Oder der Chef hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und war ebenfalls nach Hause gegangen. Vielleicht war Hinnerk aber auch nur beim KDD auf der Rückseite des Gebäudes – oder etwas völlig anderes hatte ihn in dieser Nacht in den Käfig gebracht. Wie dem auch sei, die Begegnung hatte bei Birol ein merkwürdiges Gefühl hinterlassen.
Normalerweise verfluchte er die Tatsache, dass die digitalen Akten nicht richtig gepflegt wurden, doch jetzt war es ihm ganz recht. So hatte alleine er Zugriff auf alle Informationen zum Mord an seinem Vater.
Anfangs hatte er noch geglaubt, Cans Kollegen würden alles daransetzen, den Verantwortlichen zu finden. Immerhin war Birols Vater schon lange dabei gewesen, immer im Käfig, immer mit derselben Mannschaft. Außerdem sagte man doch, die Polizei arbeite am gründlichsten und besten, wenn es um jemanden aus den eigenen Reihen ging. Dass sie besonders in so einem Fall nicht lockerließen, keine Ruhe gaben, bis der Täter hinter Gittern oder tot war.
Alles nur Gewäsch.
Nach Birols Dafürhalten war überhaupt nichts passiert, um den Mord aufzuklären. Alle sagten ihm in einer Tour, er solle es gut sein lassen und die Dinge so akzeptieren, wie sie waren. Sicher hatte Hinnerk ihm auch das neue »Team« gegeben, um ihn ruhigzustellen. Damit er beschäftigt war und nicht mehr rumnervte. Doch Birol konnte das nicht akzeptieren.
Wie so oft saß er in einer Vierundzwanzig-Stunden-Imbissbude unweit des Käfigs, weil er keine Lust hatte, nach Hause zu gehen. In seiner großen Familie war beinahe immer jemand wach, bereit, ihn mit Bedürfnissen zu überschütten oder anzuschreien.
Die Tische klebten, und die Anzahl der Neonreklamen konnte nur als grenzwertig beschrieben werden, doch Birol mochte es hier. Er aß immer einen Falafelteller, der so schmeckte wie in seiner Kindheit, und trank dazu starken schwarzen Tee, der so süß war, dass der Löffel beinahe darin stehen blieb.
»Zucker im Tee ist das einzige Mittel gegen die Bitterkeit des Lebens«, hatte seine Großmutter immer gesagt.
Gegen Birols Bitterkeit war kein Kraut gewachsen, doch der Tee war ihm zur Angewohnheit geworden. Obwohl er wusste, dass das Zeug nicht gut für seinen Schlaf, seine allgemeine Gesundheit oder seinen Body-Mass-Index war.
Er hatte die schmale Akte studiert, kannte alles in- und auswendig. Doch egal, wie oft er noch die Protokolle und Berichte las, die es zum Tod seines Vaters gab – die Fragen, die er hierzu hatte, konnte ihm einfach niemand beantworten. Am wenigsten die mittlerweile fettig gewordenen Seiten zwischen seinen Fingern.
Er ertappte sich dabei, dass seine Gedanken weg von den Akten und hin zu Martha wanderten. Zu ihrem schmalen, blassen Hals, der elegant unter den gerade geschnittenen, glänzend schwarzen Haaren zu sehen war. Den verletzlich wirkenden Nacken, der daran anschloss. Ihre wachsamen Augen, ihr abwartendes Schweigen. Auch sie umgab eine Traurigkeit, genau wie ihn. Das hatte er gespürt. Raven umgab ebenfalls etwas, doch das war etwas völlig anderes. Nein, Birol hatte gespürt, dass Martha und er durch eine bestimmte Form von Trauer und Einsamkeit miteinander verbunden waren. Man konnte es in ihren Augen sehen. In der Art, wie sie die Welt wahrnahm. Raven war angriffslustig, Martha hingegen wirkte auf eine Art permanent enttäuscht, die er von sich selbst nur allzu gut kannte. Birol fragte sich, ob sie auch an ihn gedacht hatte, seitdem sie sich heute Abend getrennt hatten. Und er konnte es kaum erwarten, sie am nächsten Morgen wiederzusehen. Er rieb sich mit der flachen Hand durchs Gesicht. Das brachte doch jetzt nichts. Energisch zog er den Ordner wieder zu sich heran und nahm einen Schluck Tee. Normalerweise machte ihn das Zeug einigermaßen wach, doch auch das brachte an diesem Tag wohl nicht mehr viel. Er musste sich konzentrieren. Irgendwo hier war ein Fehler versteckt. Etwas, das er bisher übersehen hatte.
Die Ermittlungen waren zum Ergebnis gekommen, dass Can von einem Cheater ermordet worden sein musste. Doch dafür gab es keinerlei Beweise. Nur weil er zu einem Einsatz in einem besetzten Haus gerufen worden war, in dem sich nach Kenntnissen der Polizei einige Cheater versteckt hielten? Das reichte noch lange nicht. Das Einzige, was dieses Ergebnis bewirkt hatte, war, dass Birol diese Menschen hasste, die das System der Prothesenvergabe umgingen, um sich selbst zu optimieren – um dann noch besser Verbrechen begehen zu können. Schon vor dem Mord an seinem Vater hatte er keinerlei Sympathie für diese spezielle Gruppe aufbringen können, doch in den letzten Monaten war diese Antipathie zu einem regelrechten Hass geworden. Und Hass machte bekanntlich blind. Birol Celik wollte nicht blind sein, ganz im Gegenteil, er wollte ganz genau hinsehen.
Hinnerks Verhalten hatte ihn aufgescheucht. Seine Finger fuhren über die Seiten.
Angeblich waren mit Can an jenem Abend noch elf andere Beamte ausgerückt. Zwei ganze Einsatzteams. Aber niemand wollte etwas von dem Mord gesehen haben. In so einem Fall gingen die Polizisten doch immer zu zweit. Der eine deckte den anderen. Oder war das auch nur wieder so eine fromme Vorstellung, die Birol aus einem seiner Lehrbücher hatte und die in der »Berliner Realität« einfach nicht umzusetzen war? Und der Täter war ihnen auch noch entwischt. Wie konnte das sein? Das Haus war angeblich voll mit Beamten, außerdem gab es, wie in jedem Berliner Altbau, nur eine Treppe nach unten. Hatte sich der Mörder etwa in Luft aufgelöst?
Oder hatten die Polizisten behauptet, ein Cheater hätte auf Can Celik geschossen, weil es ihnen zu peinlich gewesen wäre zuzugeben, dass ihnen ein »ganz normaler Mensch« durch die Lappen gegangen war? Immerhin könnte der Cheater ja auch leistungsstarke Sprunggelenke getragen haben, diese waren derzeit in der Szene schwer in Mode. Doch davon stand natürlich nichts im Bericht. Oder es war schlicht und ergreifend eine günstige Gelegenheit für irgendjemanden gewesen, Can Celik aus dem Weg zu räumen. Aber warum? Can war Polizist und Familienvater gewesen, ein ganz normaler Typ, der versucht hatte, sein Leben zu leben. Für Birol ergab das alles keinen Sinn.
Die Patrone, die seinen Vater getötet hatte, stammte aus einer Remington R 51, ein 9 mm Parabellum Geschoss. Die Munition war nicht ungewöhnlich, doch die Waffe war ziemlich alt und schon damals, als sie noch neu auf dem Markt gewesen war, eher in den USA als in Europa gebräuchlich. Jedenfalls keine Waffe der deutschen Polizei.
Doch auch das ballistische Gutachten könnte fehlerhaft sein. Bewusst oder aus Ahnungslosigkeit. Birol war kein Ballistiker. Woher sollte er wissen, dass das Geschoss nicht aus einer stinknormalen Polizei-Walther abgefeuert worden war? Die Geschosse selbst wurden von ihnen auch nicht gerade selten eingesetzt. 9 mm Parabellum hatte sich mittlerweile eigentlich überall durchgesetzt.
Er schob sich eine kalte Falafel in den Mund und starrte aus dem Fenster. Es nieselte ein wenig, und die bunten Lichter des Imbisses spiegelten sich vielfach auf dem schwarzen Asphalt. Ab und zu eilte jemand mit hochgezogenen Schultern durch die Nacht. Birol hatte das Gefühl, als würde er in einer teerschwarzen Suppe schwimmen. Er ruderte und strampelte, kam aber weder voran, noch fand er Halt.
Er wünschte, er könnte mit jemandem über den Tod seines Vaters reden, der ihn ernst nahm. Der ihm zuhörte, die Fakten aber auch fachlich einordnen konnte. Jemand mit einem offenen Geist und scharfem Blick. Sofort kehrten seine Gedanken zurück zu Martha. Was würde sie wohl sagen, wenn er ihr die ganze Geschichte erzählte? Manchmal, so wie jetzt, kam es ihm so vor, als könne er die Last der Geschichte nicht ganz alleine tragen. Er sehnte sich nach jemandem, der ihm zur Seite stand. So, wie sein Vater es immer getan hatte.
Hinnerk wusste etwas. Er hatte sich auf gewisse Weise heute Nacht selbst verraten. Nur dass ihm das nicht schaden dürfte. Wahrscheinlich war es ihm sogar egal. Hinnerk Blume war der Boss des Käfigs, der König der Polizisten von Berlin Mitte. Birol würde sich entscheiden müssen, ob er bereit war, für die Rache, nach der er sich sehnte, seinen Traum vom Leben als Polizist zu zerschlagen, vielleicht sogar ins Gefängnis zu gehen. Sich mit Hinnerk und den anderen anzulegen war kein Spaß – und würde sicher deutlich weniger toleriert werden als ein toter Kollege. Das wusste Birol jetzt.
Doch er konnte nicht aufhören. Konnte nicht einfach nach Hause gehen und es gut sein lassen. Denn dann würde das Tier in seiner Brust niemals Ruhe geben. Irgendwann würde es aus ihm herausbrechen, wütend und entsetzlich. Wenn es so weit war, dann sollten wenigstens die richtigen Leute Schaden nehmen.