An Schlaf war nicht zu denken in dieser Scheißstadt, vor allem nicht, nachdem sie sich von ihren Erinnerungen hatte mitreißen lassen. Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, sie war immer und immer wieder im Kreis durch das große, leere Wohnzimmer getigert. Auf der Suche nach etwas, das sie hier oben in Pankow ganz sicher nicht finden würde. Laura brauchte Antworten. Also hatte sie beschlossen, genau das zu tun, was Fenne getan hätte.
Es fiel ihr schwer genug. Sie war nicht »so ein Mensch«. Allerdings hatte sie auch gedacht, dass sie kein Mensch war, der sich unter einer falschen Identität Zugang zu einer fremden Polizei verschaffen würde. Dass sie überhaupt jemand war, der etwas Illegales tat. Vielleicht musste sie sich einfach davon verabschieden, so oder so zu sein, und einfach tun, was nötig war.
Laut Internet war heute Nacht Zwanzigerjahre-Party, und ihre Garderobe gab leider nichts her, was zum Motto passte. Laura war nur mit einem großen Rucksack voller funktionaler Kleidung nach Berlin aufgebrochen, ihre schönen Kleider, die Röcke und Blusen, alles, was sie zum Ausgehen so gerne getragen hatte, war in Hamburg zurückgeblieben. Ihre Wohnung zahlte sie weiter, von ihrer Hamburger Bank aus. Es tat ihr gut zu wissen, dass dieser Kokon noch existierte und bewies, dass sie einmal glücklich und in Sicherheit gewesen war. Noch auf der Autobahn nach Berlin hatte sie sich eingeredet, jederzeit in ihr altes Leben in Hamburg zurückkehren zu können. Doch schon jetzt wusste sie, dass das eine Lüge war. Laura konnte nicht mehr zurück. Aus tausend Gründen. Sie zog eine schwarze Jeans und einen Rollkragenpullover aus dem Stapel Klamotten neben der Eingangstür. Wenn ihr blasses Gesicht nicht wäre, könnte sie glatt mit der Dunkelheit verschmelzen. So wirkte es im Zwielicht, das vom hereinsickernden Laternenlicht erzeugt wurde, als schwebe ihr Gesicht im luftleeren Raum.
Sie konnte nur hoffen, dass sie so, wie sie aussah, in den Club gelassen wurde. Allerdings war es auf der anderen Seite besser, dass sie nur Hosen und Pullover eingepackt hatte, schließlich wusste sie nicht, wie sie sich mit einem passenden Kleidchen auf ihr Motorrad hätte schwingen sollen.
So fuhr sie sich nur mit den Fingern durch die Haare, die ohnehin gut zum Motto passten, und legte roten Lippenstift auf. Während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, den sie am Abend noch in einem heruntergekommenen Shop gekauft hatte, schoss ihr durch den Kopf, dass die junge Frau, die sie da gerade ansah, in ein anderes Leben gehörte. Nach Hamburg Winterhude in eine kleine Dachgeschosswohnung. Nicht hierher. Der Lippenstift fühlte sich vollkommen falsch an. Als wäre sie aus ihm herausgewachsen, was bei einem Lippenstift streng genommen gar nicht möglich war. Laura wusste nicht, wer oder was sie jetzt war. Und das machte ihr Angst. Ihr ganzes Leben lang war sie eine gewesen, die es wusste. Stabil, selbstsicher, sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst. Keine, die zweifelte.
Nicht zu lange darüber nachdenken. Sie würde da hinfahren und sich einfach ein bisschen umschauen. Taten jede Nacht doch Tausende andere Menschen in dieser Stadt. Nichts Besonderes. Solange sie selbst nicht wusste, wer sie war und was genau sie tun sollte, konnte sie ebenso gut auch Fennes Bauchgefühl folgen. Keine Angst haben. Was konnte schon groß passieren?
Schließlich hatte sie kein Interesse daran, hier in Berlin tatsächlich die Polizeischule ein weiteres Mal zu durchlaufen. Und je älter ein Fall wurde, desto kälter wurde die Spur.
Zum Glück hatte das Utopia Gardens einen Parkservice. Laura hatte sich eine beachtliche Menge Bargeld eingesteckt und das unbestimmte Gefühl, dass sie nichts davon wieder mit zurücknehmen würde. Mit Karte konnte und wollte sie nicht zahlen, da sie so wenig digitale Spuren wie möglich hinterlassen wollte. Natürlich stand es ihr frei, von Hamburg nach Berlin zu fahren und dort einen Club zu besuchen, aber sie war ihrem Dienst nun schon eine ganze Weile ferngeblieben und wurde sicher gesucht.
Sie hob immer an kleinen, privat betriebenen Automaten Geld ab, die sie hinterher mit einem zuverlässigen Trick lahmlegte. Sie wusste genau, dass die letzten Transaktionen nach dem Reset nicht mehr angezeigt wurden, und wenn sie schnell war, auch nicht an die Zentrale übermittelt wurden. Ein Gauner war in Hamburg mit diesem Trick recht lange erfolgreich gewesen. Sie selbst hatte mit dem Betreiber der Automaten gesprochen und hatte dabei in Erfahrung gebracht, dass die Firma dieses finanzielle Risiko bewusst in Kauf nahm. Es war ihr unangenehm, ihr Wissen derart auszunutzen, aber es musste sein. Immerhin hob sie ja nur ihr eigenes Geld ab und bestahl niemanden. Außerdem war der Firmenchef ein arrogantes Arschloch, das seine Mitarbeiter nicht anständig bezahlte. Jedenfalls versuchte sie, sich damit vor sich selbst zu rechtfertigen.
Sie drückte dem Portier einen Schein in die Hand, der sie sofort freundlich grinsend durchwinkte, an den riesigen Türstehern vorbei, die mit Knöpfen im Ohr und grimmigen Mienen an den Eingängen standen. Die Kerle sahen gar nicht aus wie echte Menschen.
Weshalb sie fürchterlich erschrak, als einer der beiden Männer sie ansprach, kaum dass sie durch die Tür getreten war.
»Nach links!«
Laura zuckte zusammen und drehte sich um.
»Wie bitte?«
»Sie müssen nach links zur Garderobe.«
»Aber ich möchte nichts abgeben.«
Nun grinste der Türsteher breit und warf seinem Kollegen einen belustigten Blick zu.
»Ein Frischling also.«
Laura fühlte, wie ihr Röte ins Gesicht kroch.
»Und wenn?«, gab sie keck zurück und klang dabei deutlich mutiger, als sie sich fühlte.
Der Mann beugte sich zu ihr hinab, wobei das Leder seiner Jacke knarzte und sein starkes, aufdringliches Rasierwasser Laura in die Nase stieg. Das, und ein Hauch von Cannabis.
»Du hast unserem Hotte ein ordentliches Trinkgeld gegeben, also lassen wir dich rein. Aber wenn du nicht richtig für die Party gekleidet bist, lassen sie dich nicht durch die zweite Tür, und dann lernst du nur unseren schicken Flur kennen, sonst aber nüscht. Also geh zur Garderobe und lass dir da was Passendes geben. Ist nur ein gut gemeinter Rat. Der Flur ist aber auch sehr hübsch. Deine Entscheidung.«
Laura nickte. »Schön. Danke.«
Sie drehte sich auf den Hacken um und schlug die Richtung ein, in die der Mann gezeigt hatte. Dabei fühlte sie die Hitze im Gesicht wie ein Brandzeichen. Sie war ein Frischling, und jeder konnte es sehen.
Schon von Weitem bemerkte sie die Leuchtpfeile, die auf die Garderobe hinwiesen.
Wobei Garderobe eigentlich das falsche Wort war für das, was sie vorfand. Auf ungefähr einem Viertel der Länge des gesamten Gebäudes befand sich etwas, das eher an eine Boutique erinnerte. Laura war aufgefallen, dass sie zuvor an einem verschlossenen Abschnitt vorbeigekommen war. Offenbar hatte das Gardens für jeden Mottoabend der Woche die passende »Garderobe«. Laura wurde beinahe geblendet von der Menge an Pailletten, in denen sich das Licht der Scheinwerfer brach. Außerdem sah sie tonnenweise Federboas, Stirnbänder, Glitzerkappen, Tanzschuhe, Federkleider und was man in der Zeit, die heute Abend gefeiert wurde, noch so alles getragen hatte. An der hinteren Wand befanden sich mehrere Garderoben, außerdem standen in gläsernen Auslagen Unmengen an Schmuck zur Verfügung. Sogar ein Frisiertisch und mehrere Schminkspiegel waren vorhanden. Aber allein die Menge an Kleidungsstücken überforderte sie beinahe sofort. Wie sollte sich ein Mensch da schon entscheiden?
Kaum hatte sie den Bereich mit den Klamotten betreten, rauschte auch schon eine Gestalt in rosa Seide auf sie zu.
»Wat solls denn sein? Kurz, lang, Kleid, Hose, Anzug, Mütze, Jacke, Schuhe?«
»Ähm.«
Laura konnte kaum einen geraden Gedanken fassen, so sehr war sie vom Erscheinungsbild der Person vereinnahmt, die vor ihr stand.
Es war ein Mann, dessen war sie sich nach kürzerer Überlegung einigermaßen sicher, auch wenn sie nichts darauf verwetten würde. Seine langen Haare hatte er zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur aufgetürmt, in die ein schwarzes Seidenband gewickelt war. Der sehr dicke Körper steckte in einem rosa Ungetüm, das ihn mehr wie ein sehr kalorienreiches Gebäckstück als irgendwas anderes wirken ließ, und an seinen Ohren sowie um den Hals schillerten dicke Perlen. Als Krönung des grotesken Ensembles trug er eine riesige, mit glitzernden Steinen besetzte Brille, in der sich keine Gläser befanden, durch die er Laura aber gleichwohl kurzsichtig blinzelnd musterte.
Er seufzte theatralisch. »Dein erstes Mal?«
Laura nickte.
»Okay. Dann lass mich einfach machen.«
Eine Hand wanderte in eine winzige Handtasche, die er über der Schulter trug, und förderte eine kleine Phiole zutage, die er kurzerhand aufdrehte. Mit einem winzigen Löffel, der im Deckel integriert war, bugsierte er etwas weißes Pulver direkt in jedes seiner Nasenlöcher und atmete anschließend tief und zufrieden lächelnd durch.
»Aaaah, schon besser.« Er fing Lauras Blick auf, deutete ihn aber fehl. Stolz hielt er ihr die kleine Phiole unter die Nase.
»Hübsch, nicht? Original Zwanzigerjahre. Hat mir ein reicher Geschäftsmann geschenkt. Für meine gute Beratung.« Bei den letzten beiden Worten malte er kichernd mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und klimperte mit seinen langen angeklebten Wimpern.
»Ja, sehr hübsch«, brachte Laura irritiert hervor, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen. Hübsch war das Ding ja tatsächlich. Was es beinhaltete, stand auf einem ganz anderen Blatt.
»Gut, jetzt bin ich bereit, dich einzukleiden, Püppi. ’ne 34?«
»36«, antwortete Laura mechanisch.
»Weeß ick doch. Es zieht nur immer so gut, wenn man die Leute schlanker schätzt. Ich erzähle auch gerne, dass die Sachen bei uns oft klein ausfallen. Schließlich will hier ja niemand mit schlechter Laune starten, wa?« Er fuhr sich mit der flachen Hand über die diversen Rundungen an seinem Körper. »Kann ja nicht jeder mit so viel Eleganz ’ne sechsundfuffzig tragen.«
Der Kerl lächelte so verschmitzt, dass Laura gegen ihren Willen mitlachen musste. Irgendwie gefiel er ihr, auch wenn sie das eigentlich nicht wollte.
»Ich heiße übrigens Papageno. Wie der Vogelfänger.«
»Martha«, erwiderte Laura und lächelte den Mann, der ganz sicher nicht Papageno hieß, freundlich an.
»Angenehm, angenehm.« Er wirbelte durch den Laden wie eine Naturgewalt und warf immer wieder Kleidungsstücke, die seinem strengen Blick standhielten, über die Umrandung einer schmalen Umkleidekabine.
»Na, wat stehst du denn hier wie eine Salzsäule, Kindchen. Ab mit dir da rin! Wenn du noch länger brauchst, ist die Nacht vorbei!«
Laura gab sich einen Ruck und betrat die Kabine. Sie mochte es gar nicht, ihre praktische Alltagskleidung ablegen zu müssen. Irgendwie fühlte es sich an, als würde sie einen Teil ihrer Tarnung aufgeben. Was natürlich Blödsinn war. In diesen Klamotten war sie deutlich verkleideter als sonst.
Sie entschied sich schließlich für einen zweireihigen Anzug mit hoch sitzender Hose, weit ausgeschnittener Bluse, Gehrock und Spazierstock.
»Wenn du mir gleich gesagt hättest, dass du ’ne Lesbe bist, hätte das uns beiden das Leben deutlich erleichtert«, schimpfte Papageno, als sie wieder aus der Kabine trat.
Laura lief rot an, sagte aber nichts dazu. Sollte er sie doch halten, wofür er wollte. Vielleicht war es sogar gut so, dass sie so ein Bild vermittelte. Dann hatte sie wenigstens vor betrunkenen Männern Ruhe.
Papageno kassierte eine Summe, bei der Laura kräftig schlucken musste, und schloss ihre Straßenklamotten mitsamt dem Motorradhelm in einen Spind.
»Willst du noch eine Maske?«, fragte er und deutete auf das Regal hinter sich. Dort reihten sich venezianische Masken in verschiedenen Farben aneinander. Laura hatte schon davon gehört, dass viele Menschen sich nur maskiert im Club bewegten. Vielleicht wäre das auch für sie klüger, nur hatte Laura ebenfalls gelesen, dass man mit der Farbe der Maske eine bestimmte sexuelle Vorliebe kommunizieren konnte, und das wollte sie dann lieber doch nicht riskieren. Immerhin hatte sie schon in ihren ersten dreißig Minuten hier bewiesen, wie wenig sie mit den Gepflogenheiten des Gardens vertraut war. Es war nicht nötig, sich noch lächerlicher zu machen. Also schüttelte sie den Kopf.
»Nur gucken, wa?«
Zu ihrer Überraschung zog Papageno sie an sich und hauchte ihr zwei Küsse auf die Wangen.
»Na dann viel Spaß, Kleines. Pass auf, dass de nicht verloren gehst!«
»Danke!«, erwiderte Laura und meinte es ernst. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie in ihren etwas zu großen Männerschuhen in Richtung der Flügeltüren stakste, durch die sie den Bass bereits dröhnen hörte.
Zwei junge Frauen, die ähnlich gekleidet waren wie sie, dabei aber betörend schön aussahen, schenkten ihr ein sehr synchrones Lächeln, bevor sie die Türen einen Spaltbreit öffneten und Laura hindurchließen.
Der Bass nahm ihr den Atem. Nicht sprichwörtlich, sondern tatsächlich. Laura schlug beim Betreten des Raumes ein Druck entgegen, mit dem sie niemals gerechnet hätte. Ihr Brustkorb wurde zusammengepresst, und ihre Ohren verschlossen sich automatisch.
Offenbar war sie mitten in einen Höhepunkt der Party gestolpert. Tausende Hände reckten sich verzückt in Richtung Himmel, die Leute auf der Tanzfläche, aber auch rundherum jauchzten und lachten. Viele hatten ihre Masken auf die Stirn geschoben, andere trugen sie noch im Gesicht. Laura sah schwarz, gold, rot und blau. Sah unzählige Bautas, aber auch Fuchsmasken, Bärenmasken und Theatermasken, die das gesamte Gesicht bedeckten. Mit einem Mal kam sie sich nackt vor. Und sie bekam noch immer kaum Luft. Flach atmend, schaute Laura sich um und entdeckte ein DJ -Pult, über dem ein Countdown lief, der die Sekunden rückwärts zählte. Auch die DJs hatten ihre Hände in die Höhe gereckt und grinsten.
Alles dröhnte und vibrierte, die Gläser und Flaschen hinter den diversen Bars, die den runden Raum säumten, mussten allesamt klirren, nur dass Laura es nicht hören konnte. Doch sie sah, dass das Getränk im Glas ihres Nachbarn deutliche Wellen schlug.
Auf einmal fingen alle rund um sie herum an runterzuzählen. »Fünf, vier, drei, zwei, eins, whooooooooooohoooooo!«
Mit dem Verstreichen der letzten Sekunde setzte die Musik des Orchesters ein, und das Dröhnen hörte auf. Laura atmete einmal tief durch. Die Leute, es mussten Tausende sein, die sich in dem riesigen Saal verteilten, fingen gleichzeitig an zu tanzen.
Der Druck auf Lauras Brust löste sich, und ein lautes Lachen blubberte ihr über die Lippen. Der junge Mann, der neben ihr stand, grinste sie an und zog die Augenbrauen hoch. Und zu ihrem Erstaunen grinste sie zurück. Sie fühlte, wie das Adrenalin durch ihr Blut rauschte, als hätte sie gerade einen Bungee-Sprung überlebt. Es war einfach nur herrlich. Seit ihrer Ankunft in Berlin – ach was, seit dem Abend vor Fennes Tod – hatte sie sich nicht mehr so frei und gut gefühlt. Vielleicht war es sogar das erste Mal überhaupt. Nie hätte sie gedacht, dass lautes Dröhnen sie derart in Verzückung versetzen könnte. Es war, als hätte sie jemand durchgekitzelt. Sie fühlte sich seltsam geliebt und hatte keine Ahnung, woher dieses Gefühl wohl stammen konnte.
Laura ging ein Stück in den Raum hinein und auf die Tanzfläche zu, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen euphorischen Schrei aus. Sie schrie, so laut sie konnte, und liebte die Tatsache, dass sie niemand hörte, obwohl ihre Lunge zu schmerzen begann.
Die Musik war etwas ganz Besonderes. Eine Mischung aus Trompeten, Klavier und Bässen, Bässen, Bässen. Die Frauen schwangen elegant ihre Hüften, Pailletten und Perlen flogen durch die Luft und tupften gemeinsam mit den sich drehenden Discokugeln helle Punkte in den Raum. Gut gekleidete Herren drehten die Damen im Kreis, führten sie an zarten Handgelenken und küssten sie auf rote, lachende Lippen.
Laura war von dem Anblick wie gefangen. Sie konnte nicht wegsehen, wollte sich nicht bewegen, sondern nur diese Fülle in sich aufsaugen, wie ein Schwamm. Warum war ihr vorher nicht aufgefallen, wie viel Leere sie in sich trug? Und nun war ihr, als hätte jemand warmen Honig in das schwarze Loch ihres Herzens gegossen.
Ihre Beine wippten, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Die Musik war übermächtig, und auch ihre Mundwinkel machten, was sie wollten.
Sie hatte sich vorgenommen, sich einfach nur mal umzusehen, am Rand zu bleiben, vielleicht ein paar Informationen zu sammeln, falls sich die Gelegenheit ergab. Doch was machte es schon, ob sie das früher oder später tat? Jetzt konnte sie doch auch erst mal eine Runde tanzen, oder nicht?
Irgendwie hatten ihre Füße sie zur nächsten Treppe getragen, die auf die höher gelegene Tanzfläche führte. Wie auf Kommando reichte ihr eine schöne blonde Frau mit wilden Locken und einem roten Kleid, das ihren Lippen Konkurrenz machte, die Hand, um Laura nach oben zu helfen. Sie ergriff die Hand und ließ sich einfach mitziehen.
Nur der Durst war dafür verantwortlich, dass sie überhaupt aufhörte zu tanzen. Ihre Vernunft hatte Laura davor bewahrt, sich die diversen Dinge in den Mund zu stecken, die ihr auf der Tanzfläche angeboten worden waren. Die erste Pille ist immer gratis, das wusste sie, aber es blieb nicht lange so. Also war sie immer nur kopfschüttelnd in der Menge untergetaucht und hatte woanders weitergetanzt. Überhaupt hatte sie gedacht, die Menschen hier wären vielleicht einer alleine tanzenden Frau gegenüber viel aufdringlicher, aber das Gegenteil war der Fall. Es gab viele, die alleine tanzten. Man ließ einander in Frieden.
An der Bar angekommen, ließ sie sich auf einen der plüschigen Hocker fallen und strich sich den klatschnassen Pony aus dem Gesicht. Ob sie Papageno wohl einen Aufschlag dafür würde zahlen müssen, dass der Anzug komplett schweißgetränkt war?
Es war ihr irgendwie egal. Alles war ihr irgendwie egal. Sie bestellte einen Gin Tonic mit viel Eis, den sie in kleinen Schlucken trank, während sie darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte. Laura fühlte sich lebendig, wie ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut und nicht diese billige Kopie ihrer selbst, die in letzter Zeit durch die Welt gestolpert war. Vielleicht hätte sie das hier viel früher machen sollen?
Laura wusste nicht, wie spät es war. Im gesamten Club gab es keine Uhren, was sicherlich zur Strategie gehörte. Es war hinderlich, sich auf die Uhrzeit zu konzentrieren; dann gab man weniger Geld aus. Spätestens wenn sich das Gardens auf die Zirkusvorstellungen am Nachmittag vorbereiten musste, wurden die Letzten rausgeworfen.
Hier, am Rand der Tanzfläche und, merkwürdig genug, dank des Alkohols, klärten sich ihre Gedanken. Sie erinnerte sich wieder daran, warum sie eigentlich hierhergekommen war. Fenne. Fenne hätte das alles so geliebt. Was wäre gewesen, wenn sie beide einfach aus Hamburg abgehauen wären? Wenn sie in jener Nacht beschlossen hätten, den Dienst zu schwänzen und einfach loszufahren, Laura am Lenker, Fenne gut gelaunt auf dem Sozius. Sich aufgemacht hätten nach Berlin, das eindeutig auch seine guten Seiten hatte.
Kurz gab sie sich der Fantasie hin, sie hätte mit Fenne gemeinsam auf der Tanzfläche gestanden, hätte ihrer Freundin die Arme um die Schultern gelegt und sich mit ihr gedreht. Wilder und wilder.
Doch natürlich wäre ihnen nach kürzester Zeit das Geld ausgegangen und sie wären, wie schon so viele vor ihnen und viele Menschen in diesem Raum, am Utopia Gardens kleben geblieben, hätten sich in seinem Netz verfangen und wären verschlungen worden.
Plötzlich hielt Laura das auch für sich selbst für möglich. Das hier war ein wundervoller Ort. Viel zu wundervoll. Sie spürte mit einem Mal die Gefahr, die von allem in diesem Club ausging. Das Gardens war hungrig und sein Schlund gewaltig.
Sie ließ den sündhaft teuren Longdrink stehen und verabschiedete sich mit einem Nicken vom Barkeeper. Laura hatte jetzt zu tun.