Er war ja schon müde, aber wenn er sich die beiden Frauen so betrachtete, kam er sich wie das blühende Leben vor. Nach seinem Imbiss war Birol ausnahmsweise durch die nächtlichen Straßen nach Hause gelaufen, hatte sich erlaubt, sich ein wenig treiben zu lassen, und gehofft, die Nachtluft würde seinen Verstand ein wenig auslüften, doch das hatte sie nicht getan. Seit Wochen wurde es tagsüber nicht richtig warm, nachts dafür aber auch nicht richtig kalt. Die Stadt war lauwarm, als wüsste sie nicht so recht, wie sie sich entscheiden sollte.
Birol hasste lauwarme Dinge. Alles in seinem Leben fühlte sich lauwarm an, seit sein Vater tot war. Wie etwas, das schon ein bisschen zu lange außerhalb des Kühlschranks gelegen hatte.
»Okay«, sagte er und rieb sich die Schläfe. »Schauen wir uns den Fall mal genauer an. Ihr habt noch keinerlei Unterricht erhalten, aber ich glaube, ihr könnt mir folgen. Wir haben hier den Bericht der Spurensicherung.« Birol klappte den schmalen Hefter auf, der sich »Fallakte« schimpfte, und überflog noch einmal die Ergebnisse.
»Es gibt einen Haufen Fingerabdrücke und Einbruchsspuren am Türschloss, die Abdrücke überlagern sich und können nicht auseinanderdividiert werden. Außerdem ist es bei so einer Wohnung
keine Überraschung, dass das Schloss manipuliert wurde; das hätte mein fünfjähriger Neffe schon gewusst. Das Opfer selbst hat es mit Sicherheit eigenhändig aufgebrochen. Und falls er es repariert hatte, können wir es nicht mehr nachvollziehen.«
»Hatte er denn einen Schlüssel?«
Birol zuckte zusammen. Seit seiner Ankunft im Raum hatte Raven sich nach seinem Dafürhalten nicht einmal bewegt. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er sogar gemutmaßt, dass sie das Atmen eingestellt hatte.
Er runzelte die Stirn und spähte in den Pappkarton mit den Asservaten.
»Nein.«
»Nun, dann wird er das Schloss auch nicht ausgetauscht haben«, folgerte Raven. Bis auf den Mund bewegte sich nichts an der kleinen Frau.
»Ist jedenfalls nicht wahrscheinlich«, räumte Birol ein.
»Die Fußabdrücke konnten allerdings gesichert werden. Unser Mörder trug ganz normale Arrows, wahrscheinlich die Airbornes, der Kollege prüft das nach. Größe 48.«
»Also ein Mann!«, schaltete sich nun auch Martha ein. Birol konnte sehen, dass es sie einige Mühe kostete, vor Müdigkeit nicht vom Stuhl zu kippen. Unter ihren schönen dunkelbraunen Augen gruben sich tiefe, graue Ringe in die wachsweißen Wangen. Die Haare wirkten stumpf und strähnig. Überhaupt war sie längst nicht mehr so schön, wie sie ihm am Tag zuvor erschienen war. Vielleicht hatte Birol aber auch nur gesehen, was er sehen wollte.
»Ja, davon können wir ausgehen.«
Weil er fand, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, nahm Birol einen Stift zur Hand und schrieb die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen stichpunktartig mit einem Marker ans Whiteboard. Dabei quietschte der Stift für seinen Geschmack viel zu
laut – und seine Schrift war kaum leserlich. Kein Wunder, er hatte das letzte Mal in der Mittelschule regelmäßig mit der Hand geschrieben. Aber in Berlin Mitte hatte natürlich noch nicht jeder Einsatzraum ein anständiges Computersystem, geschweige denn einen großen Screen, auf dem die Ergebnisse gebündelt werden konnten. Selbst die an der Polizeischule waren veraltet gewesen.
Es behagte ihm nicht, von den beiden Frauen beobachtet zu werden, und obwohl er es nicht wollte, waren ihm das Quietschen und seine schreckliche Handschrift unangenehm.
»Die Verteilung der Hirnmasse im Raum könnt ihr euch in der Akte ansehen, falls es euch interessiert. Aber die ist in dem Fall nicht so relevant, wir wissen dank der Schuhabdrücke, dass der Mörder vor dem Opfer stand und von schräg oben geschossen hat. Die Spritzspuren bestätigen aber diese These. Er dürfte ziemlich groß sein, der Winkel ist recht steil.«
»Hat das Opfer gesessen?«, fragte Raven, und nun kam sogar ein wenig Bewegung in die kleine Frau. Sie bemühte sich, sich gerader hinzusetzen.
Birol runzelte die Stirn und studierte die Akten. »Sieht ganz danach aus.«
»Dann müsste er seinen Mörder gekannt haben, oder nicht? Bei einem Fremden wäre er doch eher aufgesprungen.«
»Nicht unbedingt«, warf Martha ein. »Der Mörder könnte ihn mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen haben, sich hinzusetzen. Oder so schnell gewesen sein, dass er gar keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Immerhin hat er sich einen Film angesehen und war … abgelenkt.«
Birol schmunzelte. »Ja, nachdem unsere IT
-Spezialisten den Rechner wieder aufgeladen hatten, wurde das Gerät direkt mit dem Livestream aus dem Utopia Gardens verbunden. Der Kanal aus dem Salon Rouge.«
Die beiden Frauen reagierten nicht, und Birol massierte sich den
Nacken.
»Das ist das Bordell des Clubs.«
»Hm«, machte Martha. Mehr Reaktion schien angesichts dieser Erkenntnis bei den Frauen nicht zu holen zu sein.
»Das überrascht jetzt nicht wirklich«, ergänzte Raven lakonisch.
»Also dürfen wir davon ausgehen, dass er ziemlich abgelenkt war. Kommen wir aber jetzt zum wesentlichen Teil der Ergebnisse.«
Birol nahm die kleinste der Asservatentüten aus der Kiste und hob sie in die Luft, damit die beiden Frauen das winzige Röhrchen, das sich darin befand, auch sehen konnten.
»Das hier hat der Rechtsmediziner in einer Augenhöhle des Toten gefunden. Hat eine von euch vielleicht eine Idee, was das sein könnte?«
Birol hatte die ersten Minuten des Tages damit zugebracht, dieses Teil anzustarren und das Internet auf der Suche nach einer Antwort zu durchforsten. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, was er da vor sich hatte. Die Rechtsmediziner hatten jedenfalls keine Idee geäußert. Birol hatte ein winziges Stück abgeschnitten und zur Analyse ins Labor gegeben, vielleicht konnte man dort wenigstens die Zusammensetzung feststellen.
Er legte die Tüte zwischen den beiden Frauen auf den Tisch. Raven spähte nur kurz drauf und schüttelte dann ebenso knapp den Kopf, doch Martha zog das Tütchen zu sich heran und betrachtete den Inhalt genauer.
Sie befühlte es vorsichtig mit ihren Fingerspitzen durch das dünne Plastik hindurch, drückte darauf und knickte es leicht.
»Erinnert an eine Kabelisolierung«, sagte sie dann. »Aber die Lamellen sind merkwürdig, und es ist dünner. Außerdem weicher und flexibler. Nicht so brüchig. Vielleicht ein Teil des Werkzeugs, mit dem die Augen entfernt wurden?«
Birol gab ein vages Brummen von sich. »Laut Bericht wurden die
Augen eher mit einem scharfen Löffel entfernt, das ist ein chirurgisches Spezialinstrument. Und es funktioniert komplett kabellos.«
Er nahm die Tüte wieder an sich und warf noch einen ratlosen Blick auf das Teil darin. Vielleicht hatte es überhaupt nichts zu bedeuten. Vielleicht hatte der Mörder es irgendwo am Körper gehabt, und es war von dort in die leere Augenhöhle gefallen. Doch das wollte er nicht so recht glauben. Andere Fasern oder Haare hatte der Professor nämlich nicht in den Augenhöhlen gefunden. Nur dieses eine Ding. Als wäre es schon vorher da gewesen. Aber das konnte natürlich nicht sein.
Die Tür flog auf, und Kai Lorenzen stürmte in den Einsatzraum.
»Du kannst zusammenpacken, Celik. Den Fall haben wir in wenigen Stunden gelöst.«
Birol runzelte verwirrt die Stirn. »Was ist los?«
»Ein Kollege hat einen Tipp bekommen. Euer Mörder kommt aus dem Umfeld des Utopia Gardens.«
Lorenzen klatschte zufrieden in die Hände. »Wenn das mal kein perfekter Grund für eine gute alte Razzia ist. Der Chef hat das gerade genehmigt. Heute Abend rücken wir aus. Um halb elf Treffen auf dem Hof in voller Montur. Also erholt euch noch ein bisschen, Mädels!«
Mit diesen Worten verließ Lorenzen auch schon wieder den Raum und ließ Birol und sein Team einigermaßen verdattert zurück.
Raven fing sich als Erste wieder, doch sie sah noch blasser aus, als sie sagte: »Ein Mord und eine Razzia in den ersten zwei Tagen. Hier wird einem ja so einiges geboten.«