»Das ist jetzt schon das zweite Mal in diesem Monat!«
Raven presste langsam Luft zwischen ihren Zähnen hindurch und begutachtete nachdenklich den Schaden. Schlimm war es nicht, aber nervtötend. Ares’ Prothese klemmte in letzter Zeit häufiger, und Raven konnte verstehen, dass es ihn ärgerte.
Ganz im Gegensatz zu Spencer. »Heul dich nicht bei uns aus, Mann«, erwiderte ihr Freund lakonisch. »Das ist keine von Darks Prothesen. Und eigentlich betreiben wir hier auch keinen Wartungsservice für alte Implantate. Das ist ein Freundschaftsdienst, comprende?«
»Ist ja schon gut, ist ja schon gut«, gab Ares brummend zurück. »Diese Dinger sind meine Lebensgrundlage. Und meine Versicherung. Alles, was zwischen mir und meinem Gegner steht, da kann man schon mal ein bisschen dünnhäutig werden. Wenn ich im Ring verrecke, kümmert das doch keinen.«
Raven verdrehte die Augen, während sie sich an den Federmechanismen der unteren Messerschächte zu schaffen machte.
Ares galt als einer der ersten und erfahrensten Kämpfer des Utopia Gardens und war angeblich und der Legende nach, die er über sich selbst verbreitete, auch einer der ersten Cheater überhaupt gewesen. Er wollte nicht verraten, welcher Modder ihm damals an Ellbogen und den Fersen Sprungmesser eingesetzt hatte, die er im Kampf für den Gegner überraschend ausfahren konnte. Offenbar war derjenige nicht mehr aktiv, sonst würde Ares wohl eher zu ihm gehen, um sich die Blutklumpen aus dem Mechanismus putzen zu lassen, die alles verklebten. Eine Aufgabe, die Raven nicht sonderlich gern übernahm – sie kam sich dann immer vor wie eine Fachkraft für Zahnreinigungen. Oder wie eine Putzfrau. Normalerweise nervte es sie, dass er ständig vorbeikam, aber heute war es ihr ganz recht. Es lenkte sie von der Razzia ab, die sie in dieser Nacht noch vor sich hatte.
Jedenfalls war Ares nicht nur einer der ältesten Kämpfer, sondern auch einer der beliebtesten. Was natürlich in seinem Fall Hand in Hand ging. Sein Ringname war »Abuelo« – Großvater –, und nach allem, was Raven so hörte, liebten die Leute ihn. Sie selbst hatte sich noch keinen der Kämpfe angeschaut. So genau konnte sie gar nicht sagen, warum. Sie wollte einfach nicht. Wollte nicht sehen, wie zwei Menschen aufeinander losgingen wie wilde Tiere, nur um sich gegenseitig in Stücke zu reißen. Niemand sprach darüber, aber natürlich wussten alle, dass es bei den Kämpfen auch Tote gab. An einem Tag waren sie noch da, spazierten durch das Gardens und gingen ihren Geschäften nach, am anderen Tag verschwanden sie und kamen nicht mehr zurück. Sie waren die modernen Gladiatoren und ihr möglicher Tod Teil des Deals.
Wenn Ares im Ring starb, so war sie sich jedenfalls sicher, würde sich ein ganzer Haufen Leute darum scheren. Und in Windeseile würden wahrscheinlich T-Shirts mit seinem Gesicht vorne drauf überall auftauchen. Genauso sicher, wie sie war, dass Ares nicht sein Geburtsname war. Es wäre doch schon ein saftiger Zufall, wenn ausgerechnet einer der erfolgreichsten Kämpfer des Gardens den Namen eines Kriegsgottes trüge. Nein, er hatte bestimmt einen total altmodischen Namen. So was wie Kevin oder Levi oder Jonas. Irgendwas, das zu einem Opa passte.
»Ach was. Du hättest doch sicherlich ein paar Leute, die um dich weinen«, sagte Spencer freundlich und tätschelte dem älteren Mann die Schulter. Sowohl Spencer als auch Raven hatten sich an den vorlauten, meist etwas übellaunigen Mann gewöhnt, mehr noch, hatten ihn im Laufe der Zeit sogar irgendwie ins Herz geschlossen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Zeit überwiegend mit sehr jungen Menschen verbrachten, aber beide fühlten sich in seiner Gegenwart merkwürdig wohl. Obwohl er beinahe nur herumpöbelte. Das war schon einigermaßen erstaunlich.
»Schon, aber die müsste ich vorher dafür bezahlen!« Ares stieß ein bellendes Lachen aus, das wenig später in ein lautes Husten überging. Es klang schrecklich und jagte Raven einen altbekannten Schauer über den Rücken.
Sie winkte Spencer zu sich heran, und beide gingen zum großen Küchenbuffet, auf dem ein Computer stand, den sie in der Anwesenheit eines Kunden zur Kommunikation nutzten.
Raven tippte etwas, und Spencer nickte.
»Dark hat die Vermutung, dass es daran liegt, dass du in letzter Zeit mehr Alkohol getrunken und mehr Schmerzmittel genommen hast. Das lässt dein Blut erst dünner und bei abklingender Wirkung wieder dicker werden – deine Prothesen kommen mit dem Wechsel des Gerinnungsgrads nicht klar.«
Ares kniff die Augen zusammen und musterte Raven von oben bis unten. »Woher will er das wissen?«
Raven deutete ein Husten an, und Ares nickte, dann schaute er schnell in eine andere Richtung.
Sie ahnte, warum. Das, was sie da gerade gehört hatte, war ein Lungenkarzinom. Raven kannte diesen Sound. Und nun begriff sie.
Mehr als einmal hatte sie Ares angeboten, seine alten Prothesen gegen neuere, bessere auszutauschen. Wenn es um solche Waffen ging, waren die Preise auch vergleichsweise moderat, und der Einbau war schnell gemacht, die Slots waren ja schon da. Doch er hatte immer abgelehnt, und nun kannte Raven auch den Grund. Es lohnte sich schlicht und ergreifend nicht mehr.
Im Vorbeigehen drückte Raven sanft Ares’ Schulter. Dark tat so was normalerweise nicht, und Raven konnte sich schon denken, wie Spencer unter seiner Affenmaske gerade dreinschaute. Doch es war ihr egal. Sie war viel zu müde und emotional aufgewühlt, um es bleiben zu lassen. Raven fühlte auf eine merkwürdige Art Trotz dem gesamten Leben gegenüber.
»Du sag mal, was war das denn eben?«
Ares war gegangen, und Spencer half Raven dabei, die Instrumente zu säubern. Viel zu tun war nicht, hauptsächlich brauchte sie bei diesen Behandlungen eine Schüssel mit lauwarmem Wasser, Olivenöl und eine Unmenge Watte. Es ging nicht viel daneben.
»Was meinst du genau?«, fragte Raven betont beiläufig, während sie das hellrosa Wasser aus der Schüssel in ihr rissiges Spülbecken kippte. Die Sprünge im Porzellan hatten sich mit der Zeit rot verfärbt, so viel Blut floss in diesen einen Ausguss. Raven stellte sich manchmal den Weg vor, den es nahm. Durch die Rohre des Hauses bis hinunter in die Kanalisation der Stadt.
»Na dieses merkwürdige Gespräch zwischen Ares und dir? Wieso hast du gehustet und all das?«
Raven seufzte. Manchmal wünschte sie sich, ihr Leben wäre bis zu diesem Punkt auch so ruhig verlaufen, dass sie sich eine Unbedarftheit leisten konnte, wie Spencer sie zu eigen war.
Sie holte tief Luft. »Ares hat Lungenkrebs, Spencer. Er lebt nicht mehr lange. Seine Angst betäubt er mit Alkohol, die Schmerzen mit ASS . Deshalb klumpen ja auch die Mechanismen die ganze Zeit zusammen, wie schon gesagt.«
Spencer bedachte Raven mit einem seltsamen Blick. So als wüsste er nicht genau, was er mit ihr anfangen oder was er von ihr halten sollte.
»Ich schließe mich da mal Ares an: Und woher weißt du so was?«
Nun war es an Raven, an einen Punkt an der Wand zu starren.
Normalerweise hätte sie bei dieser Frage einfach gelogen. Aber ihr war nicht danach. Genauso, wie ihr eben danach gewesen war, Ares’ Schulter zu drücken.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten sie verwundbarer gemacht, durchlässiger. Weniger stählern. Es war gefährlich, aber sie haderte nicht damit. Auf eine merkwürdige Art fühlte sie sich wieder mehr wie ein Mensch. Sie fühlte, dass sie ein Herz hatte, das gebrochen werden konnte. Und es ächzte unter der Last.
»Meine Mutter hatte Lungenkrebs«, antwortete sie schließlich und wunderte sich selbst darüber, wie klein und leise ihre Stimme klang. Es war doch schon so lange her.
Spencer hielt mitten in seinen Bewegungen inne.
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich weiß.« Raven seufzte. »Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich es dir jetzt erzähle.«
Spencer stemmte eine Hand in die Hüfte. »Hm. Vielleicht weil wir seit über einem Jahr zusammen sind? Weil ich dein Freund bin, das Licht deiner Tage und die Sonne, um die du kreist?«
Das entlockte Raven ein Lächeln. Er war nichts von alledem, aber er brachte sie immer wieder zum Lachen.
»Das wird es vermutlich sein«, gab sie zurück.
Spencer trat an sie heran und nahm sie in die Arme. Raven fühlte zwar, wie sie sich versteifte, doch sie ließ es zu. Normalerweise ließ sie Spencer nur für Sex so nah an sich heran oder wenn er ihr zur Begrüßung oder zum Abschied einen Kuss irgendwohin drücken wollte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er in ihr Ohr.
Mir nicht, dachte Raven bitter.
»Ist sie daran gestorben?«
»Nein«, Raven machte sich los und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht ausschließlich. Aber ich schätze, es hat eine Rolle gespielt.«
Es war Spencer anzusehen, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Mit seinen zu langen Armen stand er mitten im Raum herum und suchte nach einer passenden Reaktion, die nicht existierte.
»Es tut mir leid«, wiederholte er schließlich hilflos, und Raven schloss die Augen.
»Das muss es nicht«, sagte sie ruhig, und ihre Stimme war einige Oktaven tiefer gerutscht, als sie hinzufügte: »Sie war ein Monster.«