Sie kam sich maximal absurd vor. Vielleicht lag das auch daran, dass es keine Einsatzuniformen in ihrer Größe bei der Berliner Polizei gab. Was kein Wunder war – tatsächlich trug sie im Alltag meist Kindergrößen, was sie zu einer beachtlichen Sammlung an Superhelden-Kapuzenpullis gebracht hatte. Ihre einzige modische Schwäche, die sie sich allerdings nur in den eigenen vier Wänden erlaubte. Eigentlich war sie nicht gerne erwachsen.
Kurz hatte sie die Hoffnung gehabt, der Razzia dank ihrer zu geringen Körpergröße entkommen zu können, doch man hatte sie nicht vom Haken gelassen. Nun, Raven war nicht zum Spaß bei der Polizei, sondern zur Strafe, das wusste sie ja – und Birol schien es große Genugtuung zu bereiten, sie daran zu erinnern. Trotzdem wäre sie dankbar gewesen, wenn man sie nicht in drei Lagen Uniformhosen und -hemden gesteckt hätte, damit der Brustpanzer und die Beinschoner einigermaßen hielten. Sie konnte sich kaum bewegen und schwitzte wie verrückt. Vor allem aber konnte sie riechen, dass vor ihr schon jede Menge anderer in exakt diesen Klamotten ebenfalls wie verrückt geschwitzt hatten. Es war widerlich.
Jeder Schritt fiel ihr schwer, sie wollte gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn sie später vielleicht rennen musste. Außerdem war sie noch immer kleiner als der Rest der Polizisten, die sie umgaben, sie sah überhaupt nichts. Und beim Laufen stießen ihre Oberschenkel gegen die Panzerung. Das war doch alles scheiße.
Sie hatte sich die Haare hochgebunden und ein Haarnetz darübergezogen, damit auch keine ihrer weißen Haarsträhnen auf die Idee kam, sich selbstständig zu machen. Gerade überprüfte sie zum dutzendsten Mal, ob sich auch kein Haar gelöst hatte.
»Hey! Hast du etwa Kontaktlinsen an?«
Raven zuckte zusammen, als Martha neben sie trat und sie prüfend musterte.
Raven schnaubte, um ihre Überraschung zu überspielen. »Meine Augen ändern ihre Farbe je nachdem, in welcher Stimmung ich bin. Je düsterer die Stimmung, desto dunkler die Augen.«
Wo war denn das auf einmal hergekommen?
Martha lachte prustend auf. »Soweit ich weiß, gilt das für Ringe aus dem Glücksspielautomaten, aber nicht für Teile des menschlichen Körpers.«
»Ach, und du weißt so gut über die Funktionsweisen des menschlichen Körpers Bescheid?«, gab sie zurück. »Immerhin ist heute sehr vieles möglich, um diese Regeln außer Kraft zu setzen.«
Martha stemmte eine Hand in die Hüfte und legte den Kopf schief. »Das Ändern der Augenfarbe gehört meines Wissens nicht dazu.«
Eigentlich hatte Raven keine Lust, sich jetzt zu unterhalten, auch wenn sie zugeben musste, dass ihr Marthas Gesellschaft lieber war als gar keine. Sie war nervöser, als es ihr lieb war. Aber sie wollte die neue Kollegin auf keinen Fall zu nah an sich heranlassen. Es war besser, sie blieb einfach für sich. Eine vertrackte Situation. »Vielleicht bin ich ja ein Cheater.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du so blöd wärst, etwas Illegales zu tun, um deine Augenfarbe ändern zu können. Wozu sollte das gut sein?«
»So hat man wenigstens immer ein Gesprächsthema«, seufzte Raven. »Und das ist großartig, oder nicht? Vor allem für so gesellige Menschen, wie ich einer bin. Außerdem vergisst du, dass ich hier meinen Strafdienst verrichte. Ich war also schon mal blöd genug, was Illegales zu tun. Mehr als einmal, um genau zu sein.«
Martha lachte erneut, doch sie ließ sich nicht verscheuchen. Überhaupt machte sie Raven einen deutlich tougheren Eindruck als noch am Vortag. Martha trat näher an sie heran. »Du willst nicht erkannt werden, oder?«
Raven schmunzelte. »Im Gegensatz zu dir weiß ich genau, wie man das anstellt, falls du mir also einen Rat geben willst: Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.«
Martha stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn du mir jetzt wieder mit diesem Quatsch kommst von wegen ›du bist nicht die, als die du dich ausgibst …‹«
Raven winkte ab. »Spar dir deinen Atem, das meine ich nicht. Auch wenn ich weiß, dass du nicht diejenige bist, für die du dich ausgibst.«
»Du frustrierst mich irgendwie!« Martha blies sich theatralisch den akkuraten Pony aus der Stirn.
Raven schmunzelte. So war ihr Martha schon viel lieber. Sie erinnerte sie an Nina. Vorlaut und selbstbewusst und nicht so leicht einzuschüchtern. Sie schwieg eine Weile und wartete ab.
»Und was meinst du dann?«, fragte Martha und gab wohl auf.
»Ich meine, dass ich gestern Abend kein Problem damit hatte, dich zu erkennen, auch wenn du dich ganz lächerlich verkleidet hattest.«
Martha hielt in ihren Bewegungen inne.
»Du warst auch dort?«
Nun musste Raven tatsächlich lächeln. »Ah, siehst du? Das meine ich mit: Ich verstehe etwas davon, mich unkenntlich zu machen. Ich habe dich gesehen, du mich aber nicht.«
Martha schob das Kinn vor, und ihre Augen funkelten. Es war offensichtlich, dass Raven sie an einem wunden Punkt erwischt hatte. Sie konnte sogar die Ader ihrer Kollegin an ihrem schlanken Porzellanhals pochen sehen. Ein Vampir wäre entzückt. »Bist du mir etwa gefolgt?«
»Jeder kann im Club gehen, wohin er will. Und was du im Salon Rouge gemacht hast, geht mich überhaupt nichts an.«
Nun röteten sich Marthas Wangen dermaßen grazil und ladylike, dass Raven beinahe lauthals aufgelacht hätte. So perfekte, kirschrote Kreise hatte sie noch nie gesehen. Was war nur mit ihr los? Normalerweise mochte sie andere Leute doch nicht so schnell. Das lag sicherlich an der Aufregung und der kurzen Nacht. Sie war nicht ganz sie selbst.
»Du hast recht, es geht dich überhaupt nichts an. Aber ich war nicht da, um …«
Raven hob die Hand und brachte Martha damit zum Schweigen. »Schätzchen, das ist mir egal. Ich hab schon Dinge gesehen, die würden dir wahrscheinlich vor lauter Schamesröte die Ohren vom Schädel brennen.«
Martha öffnete den Mund, schien es sich dann aber anders zu überlegen und klappte ihn wieder zu. Eine Weile standen sie schweigend in Reih und Glied. Sie warteten darauf, dass der Befehl zum Abmarsch gegeben wurde, und Raven kam sich vor wie in einem Kriegsfilm. Der übergroße Helm klemmte unter ihrem Arm.
»Du kennst die Leute vom Utopia Gardens, richtig? Deshalb willst du nicht erkannt werden«, hakte Martha nach einer Weile nach.
»Der Kandidat hat hundert Punkte«, antwortete Raven und wunderte sich, dass sie das so freimütig zugab. Irgendwie spürte sie, dass Marthas Geheimnis mindestens so groß sein musste wie ihr eigenes. Die andere würde sich hüten, sie zu verpfeifen.
»Du bist eine Verbrecherin!« Nun stand doch so etwas wie Überraschung in Marthas Gesicht, das normalerweise nichts als Gleichgültigkeit zeigte.
Raven seufzte. »Es gibt durchaus Menschen, die behaupten würden, damit sei mein Charakter hinreichend beschrieben.«
»Aber …« Martha suchte nach Worten und blieb ein weiteres Mal erfolglos.
Raven wandte sich ihr zu. »Straf-pro-gramm«, sagte sie so gedehnt und langsam, als spräche sie mit einem sehr alten Menschen. »Kapier das doch endlich!«
Martha sah zwar nicht so aus, als würde es bei ihr klingeln, aber sie nickte.
»Was hast du angestellt?«
Raven zuckte die Schultern. »Geklaut.«
»Geklaut?«, echote Martha verwundert. Offenbar hätte sie nicht mit einer solchen Lappalie gerechnet.
Raven nickte ernst. »’ne ganze Menge. Wertvolles Zeug.« Okay. Letzteres war gelogen.
»Na, das geht ja noch«, sagte Martha und klang dabei so erleichtert, dass Raven nun doch auflachte.
»Finde ich eigentlich auch.«
»Und deine Kontakte – deine Hehler, deine Kunden? – im Utopia Gardens dürfen nicht wissen, dass du Strafdienst leisten musst, weil …«
Raven zwickte sich müde in die Nasenwurzel. Irgendwie wollte sie nicht lügen. Es kam ihr mit jedem Tag anstrengender vor.
»Es sind weder meine Kunden noch meine Hehler, sondern meine Freunde. Und sie haben ihre Gründe, der Polizei nicht zu trauen, weißt du? Du scheinst ja einen Sinn in diesem Beruf zu sehen, sonst hättest du dich nicht freiwillig dafür entschieden. Schon gar nicht hier, von allen Orten auf dieser beschissenen Welt. Und alleine der gottverdammte Glanz deiner Haare sagt mir, dass du in deinem Leben noch nicht viele unangenehme Erfahrungen machen musstest. Mir ist klar, dass jemand wie du noch nie zuvor mit jemandem wie mir zu tun hatte. Höchstens mal auf der Straße, wenn deine Mama dir dann ins Ohr geflüstert hat, dass du dich lieber von ›solchen Leuten‹ fernhalten solltest. Aber ich schwöre dir, die Menschen im Gardens sind nicht durch die Bank weg Schwerverbrecher, die ins Gefängnis gehören. Der Club ist nicht randvoll mit Perversen und Brutalos, mit Drogendealern und Schlägern. Die schlechten Menschen sind vielmehr oft eher diejenigen, die Geld für verschiedene Dienstleistungen bezahlen, nicht das Personal des Gardens. Viele von ihnen sind einfach nur Leute, in deren Leben so einiges schiefgelaufen ist und die versuchen, irgendwie durchzukommen.«
Himmel. So lange am Stück hatte sie ewig nicht gesprochen. Ihr Hals fühlte sich gleich ganz rau an.
Martha legte den Kopf schief und musterte Raven eine Weile.
»So wie du?«, fragte sie schließlich, und Raven wandte sich genervt ab.
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Prinzessin.« Sie setzte sich den Helm auf, obwohl es noch viel zu früh dafür war. Aber im dichten Gedränge der Beamten, die auf den Abmarsch warteten, hatte sie sonst keine Möglichkeit, ihrer Kollegin zu entfliehen. Sie war ja selbst schuld, hatte zu viel preisgegeben, hatte Martha provoziert. Und jetzt fühlte sie sich schwach und verwundbar.
»Weißt du, ich glaube, deine Augen sind gerade tatsächlich noch einmal dunkler geworden«, hörte sie Marthas Stimme erstaunlich sanft neben sich sagen. Dann ging ein Ruck durch die Gruppe, und der Tross setzte sich in Bewegung. Es ging los.