Scherben und Splitter und Schmerz. Krach überall. Blut an ihren Händen und auf dem Fußboden.
Ophelia wusste nicht, wie lange sie schon hier in diesem Raum war, und es war ihr auch egal. Der Schmerz war alles, was jetzt für sie zählte. Irgendwie hatte sie es geschafft, vom Labortrakt zurück ins Haupthaus zu gelangen und sich dort in Königs Fitnessraum zu verbarrikadieren. Sie wollte niemanden sehen, wollte mit niemandem reden. Sich selbst in den vielen Spiegeln anstarren, bis sie vielleicht eine Antwort fand.
Gerade war ihr alles gleichgültig. Die Firma, eventuelle Termine, ihr großer Traum, ihr Projekt, ihr Ziel. Alles verschwamm vor ihren Augen zu einer blutroten Masse aus Schmerz und dem Wunsch nach Rache.
Wie in Trance tigerte sie durch den Raum – sie hatte keine Kraft mehr, und das fühlte sich irgendwie gut an. Ihre Muskeln zitterten, die Beine hielten sie kaum noch. Zuvor hatte sie wahllos Hanteln auf den großen Spiegel geworfen, hatte sie mit bloßen Händen wieder aufgehoben, wieder und wieder gegen das verspiegelte Glas geschmettert, bis es geborsten war. Es war das einzige Glas in diesem Gebäude, das überhaupt bersten konnte – die Fensterscheiben waren alle gepanzert, und die Schwachköpfe von Innenarchitekten hatten die hochmodernen Bäder spiegellos geplant. Als sich die Risse laut knackend ausgebreitet hatten, hatte sie sich kurz gewünscht, es könnte doch ihre Wirbelsäule sein, die da knackend zerbrach. Wie dickes Geäst. Ein letzter, satter Klang und dann wäre endlich Ruhe. Sie hob eine Hantelstange auf und drosch damit auf die Bank aus Metall ein, die sie gegen die Tür geschoben hatte. Der Krach wurde zu einem Beat in ihrem Kopf, der nur ein Wort begleitete: Othello. Othello Othello Othello. Wieder und wieder hieb sie mit letzter Kraft – Metall auf Metall klang fürchterlich in ihren Ohren, doch das war ihr nur recht. Tinnitus, Kopfschmerz, ein paar ausgeschlagene Zähne.
Die Hantelbank rutschte ihr entgegen, und Ophelia sprang erschrocken zurück. Sie landete zum wiederholten Mal auf dem Scherbenteppich, der den Fußboden bedeckte. Es knirschte, und sie biss die Zähne zusammen. Der Schmerz stach fürchterlich, ein gleißend heller Blitz zuckte durch ihr Blickfeld, die Füße pochten. Gut so. Sie hinterließ blutige Fußspuren auf dem hellen Parkettboden. Der Anblick verschaffte ihr grimmige Befriedigung.
Die Tür wurde aufgeschoben, und die Hantelbank fräste tiefe Kratzer ins Holz. Der Parkettleger wäre sicher tief betrübt.
Ronny Könighaus stand im Türrahmen. Er sah ein wenig derangiert aus. Wenn er Haare hätte, so dachte Ophelia, stünden sie ihm nun in alle Richtungen vom Kopf ab. Er atmete schwer und sah sie mit einer Mischung aus Strenge und Resignation an. Kurz schoss Ophelia durch den Kopf, dass er nun sicher mit ihr schimpfen würde. Sie hatte vergessen, wer sie war und wer er war.
Ronny seufzte lediglich, und in seinen Augen lag eine Schwermut, die sie sonst nicht von ihm kannte.
»Es ist gut jetzt. Meinen Sie nicht auch?«, fragte er, kam zu ihr und hob sie, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Arme.
Nein, es war nicht gut. Es würde niemals wieder gut sein. Ein Teil von ihr wollte nach ihm schlagen, wollte ihn kratzen und beißen und schreien und so lange Theater machen, bis er sie wieder runterließ. Doch sie ließ es geschehen. Ließ zu, dass sich seine starken Arme wie Schraubzwingen um ihren Körper schlossen, legte ihren Kopf sogar an sein Schlüsselbein.
»Ich habe diesen Bereich des Gebäudes abgesperrt«, raunte König in ihr Ohr. »Niemand wird Sie sehen.«
Der gute Lude vom Kiez. Hatte alles im Griff, dachte an alles. Er wusste, was zu tun war. Schön, denn sie wusste es nicht mehr.
Er trug sie hoch in ihr Büro und bettete sie behutsam dort auf die Couch. Ophelia fühlte sich müde und betrunken, dabei hatte sie heute noch keinen Tropfen Alkohol angerührt. Leider. Doch das würde sich jetzt ändern. Auf ihrer Couch lagen Handtücher ausgebreitet, auf dem niedrigen Tisch daneben stand eine Flasche ihres liebsten Bardolino. Sie hätte jetzt lieber etwas Stärkeres gehabt, aber gut. Nicht so wichtig.
Neben der Couch standen ein Verbandskasten und ein niedriger Hocker bereit. Ihr Sicherheitschef hatte gewusst, was er hinter der Tür vorfinden würde. Offenbar kannte er sie besser, als sie vermutet hätte. König schenkte ihr zu viel Rotwein in ein Glas. Es war ein Weißweinglas, und er hatte die Flasche vorher nicht geöffnet, damit der Wein atmen konnte, doch ausnahmsweise sagte sie nichts. Er hatte versucht, alles aufzutreiben, was sie brauchte. Und Ophelia hatte keine Ahnung, ob sie in der Konzernzentrale überhaupt Rotweingläser hatten. Im Moment hätte sie sogar aus der Flasche getrunken.
Sie nahm das Glas und beobachtete König, der begann, behutsam ihre Füße abzutupfen. Es tat erstaunlich weh. Auf dem Weg hierher hatte es doch noch nicht sonderlich wehgetan.
»Trinken Sie«, forderte er sie auf, als sie scharf Luft durch die Zähne zog. »Manchmal ist es das Einzige, was uns noch hilft.«
»Haben Sie das auf dem Kiez gelernt?«, fragte Ophelia. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass sie sprach. Vorher hatte sie nur geschrien. Ihr Hals fühlte sich rau an.
»Ich habe das vom Leben gelernt, Sanderin. Und da ich mein halbes Leben auf dem Kiez verbracht habe, schätze ich mal, dass ich es dort irgendwie aufgeschnappt habe. Das wird jetzt gleich ein bisschen wehtun.«
König balancierte eine silberne Schale auf seinen Knien und begann, mit einer Pinzette die Splitter aus ihren Füßen zu ziehen.
»Das brennt«, knurrte Ophelia und nahm noch einen großen Schluck Wein. Ihr fiel auf, dass es geschmacklich überhaupt keinen Unterschied machte, ob man den Wein nun atmen ließ oder nicht, und verstand mit einem Mal nicht mehr, warum alle Leute so ein Gewese darum machten. Kaviar schmeckte einfach nur salzig, Austern einfach nur fischig und von der vielen Kohlensäure im Champagner fingen die Männer immer an zu rülpsen. Reiche Menschen waren doch Idioten.
»Natürlich brennt es. Und es wird auch noch eine ganze Weile wehtun. Schnitte an den Fußsohlen sind keine Kleinigkeit. Nicht umsonst ist das Verletzen der Sohlen überall auf der Welt eine beliebte Foltermethode. Pumps sind erst mal keine Option.«
Er sprach ganz ruhig. Sachlich. Er verurteilte sie nicht, und das war gut so. Sie selbst verurteilte sich auch nicht. Sie bereute nichts. Schließlich war das alles nicht ihre Schuld. Sondern die eines ganz anderen.
»Ich will ihn tot sehen.«
Ronny seufzte.
»Ich will ihn tot sehen. Ich will, dass Sie mir seinen Kopf in einem Samtbeutel bringen, damit ich darauf spucken kann. Ich will …«
Ronny schüttelte halb amüsiert, halb besorgt den Kopf. »Wir sind hier doch nicht im Märchen, Sanderin«, sagte er unerwartet sanft.
»Ich will ihn tot sehen.« Sie klang wie ein trotziges Kind an der Supermarktkasse. Ich will den Lutscher. Ich will Eis. Ich will ihn tot sehen. Doch tatsächlich war es das Einzige, was sie gerade wollte.
»Wir wissen doch gar nicht, ob er etwas mit der Sache zu tun hat!«
Ophelia prustete in ihren Wein. »Wollen Sie mich verarschen?«
»Es leben über sechs Millionen Menschen in dieser Stadt. Woher sollen wir wissen, dass ausgerechnet er dahintersteckt? Außerdem ist die Kriminalitätsrate da sehr hoch, das Publikum ist international, die Leute kommen und gehen. Es muss nichts mit Ihrem Bruder zu tun haben.«
»Träumen Sie weiter. Mein Bruder ist der Einzige, der das Ganze hätte organisieren und finanzieren können. Und er hasst mich mindestens genauso sehr wie ich ihn.«
Ronny seufzte tief. »Ich will mich ja auch gar nicht einmischen. Familie ist immer ’ne komplizierte Sache. Ich versteh das. Aber Familie is eben auch Familie.«
Er zog ein besonders großes Stück Spiegelscherbe aus ihrer Ferse und tupfte danach Desinfektionsmittel auf die Wunde. Es brannte so stark, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Willst du mich umbringen?« Normalerweise verließ sie ihm gegenüber nie die förmliche Ebene. Das war bestimmt der Wein.
»Ich hab drei Frauen zu ernähren. Wie käme ich dazu? Außerdem hab ich Sie nicht dazu aufgefordert, mein Studio zu ruinieren und mit nackten Füßen durch die Trümmer zu tanzen.«
»Glauben Sie mir«, gab Ophelia zurück. »Tanzen ist das Letzte, was ich da drin getan hätte.«
Sie schwiegen eine Weile. Ihr zu volles Glas war bereits leer, und sie goss sich nach. In ihrem Kopf breitete sich die wohlbekannte Leichtigkeit aus, ihre Glieder begannen im Gegenzug schwer zu werden.
»Ich meine ja nur. Familie kann einen in den Wahnsinn treiben, das ist richtig. Und ich bin der letzte Mensch, der einem anderen moralisch den Spiegel vorhalten sollte, das ist mir auch klar. Aber ich hab Sie noch nie so austicken sehen, Sanderin. Noch nie haben Sie die Nerven verloren, egal, was passiert ist. Selbst als Sky verschwunden ist, waren Sie nicht so durch.«
Als sie den Namen ihres Geliebten hörte, grub sie die Fingernägel tief in ihre Handfläche.
»Kommen Sie zum Punkt.«
Ronny hielt in seinen Bewegungen inne und sah sie an. »Ich meine ja nur, dass es etwas völlig anderes ist, jemanden aus der Familie zu töten. Ganz egal, wie sehr man ihn hasst. Er ist der Letzte, der Ihnen geblieben ist, oder?«
Ophelia presste die Lippen aufeinander, doch sie nickte.
»Vielleicht werden Sie es bereuen, wenn er tot ist. Und dann können wir es nicht mehr ändern. Egal, wie ergeben ich Ihnen bin, wenn er tot ist, kann ich ihn nicht wieder zurückbringen. Ich will nicht, dass Sie es bereuen.«
»Es ist ja nett, dass Sie sich um mein Seelenheil sorgen. Ganz ehrlich. Aber ich denke eher, wenn er endlich tot ist, werde ich meinen Frieden finden. Doch nicht, bevor wir Sky nicht gefunden haben. Ich möchte seine Sicherheit nicht gefährden.«
König nickte. »Sie entscheiden. Aber es dürfte so oder so nicht einfach werden. Ihr Bruder ist nicht irgendwer. Das bedarf einiges an Recherche, Schmiergeld und Vorbereitung. Und ist trotzdem noch ziemlich riskant.«
»Sie werden sich selbst drum kümmern müssen. Stellen Sie alles andere hintenan. Ich bin zuversichtlich, dass Sie das hinbekommen.«
»Das kann ich nicht selbst tun. Und Sie wissen das eigentlich auch. Es gibt Hunderte Zeitungsfotos, auf denen wir beide zusammen drauf sind. Die halbe Welt weiß, dass ich Ihr Sicherheitschef bin. Selbst dieser kleine Hacker wusste es. Das ist also keine Option.«
»Ich vertraue aber keinem anderen.«
König zuckte die Schultern. »Wenn Sie das Risiko eingehen wollen, bitte sehr. Aber ich schätze, wenn ich auch nur in der Nähe Ihres Bruders auftauche, riecht der Lunte.«
Er hatte recht. Ophelia wusste, dass er recht hatte, doch sie wollte es nicht einsehen. Es gab niemanden sonst, den sie mit diesem Job betrauen konnte. Oder wollte.
»Ich kann mich mal umhören. Vielleicht finde ich ja einen zuverlässigen Profi.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das kommt nicht infrage.«
Pling. Eine weitere Scherbe fiel in die Metallschüssel. »Wieso nicht?«
»Das hier ist was Persönliches«, knurrte Ophelia. »Und ich will, dass es auch was Persönliches bleibt.«
Ronny lächelte leicht. »Dann müssen Sie es vielleicht ausnahmsweise selbst tun.«
Sie dachte nach. Ihr rechter Zeigefinger strich langsam über den Rand des Glases und erzeugte dabei einen leisen Ton. Ihre Füße brannten wie Feuer, doch mittlerweile nahm sie es kaum mehr wahr. Die Worte ihres Sicherheitschefs hatten eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte. Nie zuvor hatte sie daran gedacht, einen anderen Menschen selbst zu töten. Dafür hatte sie Geld und ihre Leute, sie musste sich nicht die Finger schmutzig machen. Doch wenn sie ganz, ganz ehrlich zu sich selbst war, wusste sie, dass sie schon oft daran gedacht hatte.
»Ja«, sagte sie nachdenklich und lächelte. »Ja, vielleicht muss ich das.«