Er saß auf dem Logenplatz, und seine Vorfreude stieg. Die wenigsten Unterweltbosse konnten wohl von sich behaupten, ein Freund von Razzien zu sein, doch Mikael liebte das Spektakel, das sie boten.
Kaum jemand wusste, dass er von seinem Wohnzimmer aus direkt in den Club schauen konnte. Er hatte noch eine Loge über dem Fightfloor, doch die war eher dafür da, gesehen zu werden. Dass sich alle da unten benahmen, daran dachten, warum sie dort waren. Diese Loge hier war nur für ihn. Von außen nicht zu sehen dank der schwarz verspiegelten Fläche, die aussah wie alle Paneele über den Theken.
So konnte er unbemerkt das fröhliche Treiben dort unten beobachten. Er selbst hatte noch nie in seinem Leben getanzt. Auch, weil seine körperliche Verfassung es nicht zugelassen hätte; doch er konnte nicht einmal sagen, ob er tanzen würde, wenn er könnte. Es hatte etwas Fremdes, Unwürdiges an sich, dieses Gezappel. Was auch daran liegen mochte, dass seine Fenster absolut schalldicht waren. Er wollte den Club sehen, keinesfalls aber hören. So zuckten und zappelten die Füße, Arme und Köpfe, die von seiner Position aus zu einem Gewimmel verschmolzen, einfach durcheinander. Egal, was die
Leute dort unten dachten, elegant waren sie sicher nicht. Eher sahen sie aus wie eine Horde zuckender Aale. Ohnehin war der Vergleich mit Fischen gar nicht so übel. Wenn die Polizei gleich eintraf, würden sie in die Menge stoßen wie ein Hai in einen Schwarm. Alle würden auseinanderstieben, scheinbar ziellos, doch Mikael konnte von hier oben Muster erkennen. Das war es, was er an diesem Anblick immer so genoss. Chaos, das zu Ordnung wurde. Wunderschönes Entsetzen.
Neben sich auf dem Tisch stand Scotch on the Rocks, er wartete noch auf eines der jungen Dinger, die ihm besonders gefielen. Sie hatte streng genommen keine sauberen Papiere. Da sie auch keine sauberen Gedanken hatte, kratzten Mikael ihre Papiere nicht, doch er wollte nicht riskieren, dass sich einer der Cops aufspielte und die Kleine mitnahm. Wäre zu schade, er hatte sich gerade an sie und ihre Künste gewöhnt.
Früher hatte Eugene auch noch gerne zugeschaut, wenn die Polizei kam. Wenn die tanzende, wogende Menge dort unten in Schlieren auseinanderstob, die Musik abbrach und die Leute kopflos versuchten, sich vor den Beamten in Sicherheit zu bringen. Ganz gleich, ob sie überhaupt etwas verbrochen hatten oder nicht.
Doch in letzter Zeit war sein Bruder nicht mehr er selbst. Der Tod der kleinen Hure heute hatte da auch nicht geholfen, aber gerade jetzt wäre doch ein bisschen Ablenkung nicht schlecht, sollte man meinen. Oder?
Ungehalten schnalzte er mit der Zunge. Eugene war der Jüngere von ihnen, und vielleicht hatte er ihn zu sehr verwöhnt. Hatte ihm zu viel durchgehen lassen. Wahrscheinlich war die Reise nach Indien ein Fehler gewesen. Eugene hatte behauptet, dass er dort Kraft tanken würde, sich selbst finden. Bla, bla, bla. Wenn du von hier kamst, wusstest du eigentlich sowieso schon, wo du hingehörst. Da brauchte es keinen Guru, um dir das zu erklären.
Er knirschte schon wieder mit den Zähnen. Diese Gedanken
brachten ihn immer zum Knirschen. Wenn er so weitermachte, bekam er noch eine Plastikschiene; sein Physiotherapeut hatte ihm mehr als einmal damit gedroht.
Mikael wollte keine beschissene Beißschiene, er wollte seinen Bruder zurück, verdammt! Ihm war jetzt nicht danach, mit Mandy oder Sandy oder Candy oder wie sie noch mal hieß, hier zu sitzen, auch wenn es sich gut anfühlte, wie sie sich auf ihm bewegte, er wollte mit Eugene zusammen trinken und das Treiben beobachten. Doch der zog es neuerdings vor, wie ein Mönch in seinem spartanischen Schlafzimmer zu hocken und nur noch für wirklich wichtige Geschäftstermine rauszukriechen. Und seit wann erlaubten sie eigentlich Huren in ihren Schlafzimmern? Noch dazu blutende Huren. Sie hatten es so viele Jahre doch sehr gut und gemütlich gehabt, verflucht noch mal.
Es klopfte leise an der Tür.
»Ja!«, brummte er missmutig, und einer seiner neuen Sicherheitsleute, ein junger Kerl mit roten Haaren und viel zu guter Laune, steckte den Kopf zur Tür herein.
»Verzeihung, Chef. Hier draußen steht ein Mädchen, das sagt, es würde von Ihnen erwartet.«
Er nickte schroff und machte eine auffordernde Handbewegung. Eine Mischung aus Prügelandrohen und Königin-von-England-Winken.
Candymandysandy betrat das Zimmer und sah sich angemessen beeindruckt um.
»Wow. Ich wollte schon immer wissen, wie es hier oben aussieht. Das ist ja wie in einem Schloss.«
»Schätzchen«, sagte Mikael und massierte sich die Schläfen. »Du bist erst seit vier Wochen hier. Wie kannst du dich das schon immer
gefragt haben?«
Keck lächelnd trat sie zu ihm und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
»Vielleicht hat mein Leben vor vier Wochen erst richtig begonnen?«
Gute Antwort. Das Mädchen wusste zumindest, was von ihm erwartet wurde. Mikael brummte zufrieden. Trotzdem wusste er schon nicht mehr, was er sich dabei gedacht hatte, sie einzuladen. Er wollte nicht, dass sie hier war.
Erst jetzt schien sie zu registrieren, dass die Scheibe hinaus auf die Tanzfläche zeigte und Mikael so saß, dass er alles überblicken konnte.
»Wow«, stieß sie erneut aus und trat mit offenem Mund an die Scheibe.
»Dein Vokabular ist wirklich erstaunlich«, gab Mikael zurück und nahm einen kräftigen Schluck.
Das Mädchen drehte sich um und strahlte ihn an. »Danke!«
Gott, manchmal wünschte er sich, die Mädchen wären alle mehr wie Nina. Er konnte Nina nicht ausstehen, aber was er auch nicht mochte, war die Tatsache, dass sich alle anderen Mädchen benahmen, als wären Männer so was wie Götter. Er wusste, dass den meisten ein solches Verhalten gefiel, er selbst fand es affig. Er wollte doch eine Frau vögeln und keine sprechende Puppe.
»Warum sitzt du so da?«, wollte sie nun wissen.
»Damit ich alles im Blick habe.« Mikael klopfte mit der flachen Hand auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des kleinen Beistelltischchens neben seinem stand. Wenn er Glück hatte, dann setzte sich Mandysandywendy auf ihren winzigen Hintern und sagte so wenig wie möglich.
»Was passiert denn da unten?«, fragte sie, während sie sich niederließ und wie selbstverständlich die hohen Schuhe von den Füßen streifte.
»Wag es ja nicht, deine Füße auf das Polster zu legen. Die Stühle sind aus den 1780er-Jahren.«
Das Mädchen biss sich auf die Lippe und setzte einen ertappten
Gesichtsausdruck auf. Ein bisschen zu viel, ein bisschen zu doll. Wenigstens fing sie nicht an zu heulen. Manche von denen machten das besonders gern.
»Und was passiert nun da unten?«
Mikael schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas.
»Es wird gleich eine Razzia geben.«
Das Mädchen riss die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war sicher auch eine von denen, die heimlich von einer Karriere als Schauspielerin träumten. »Eine Razzia?!«, flüsterte sie entsetzt, und Mikael nickte ruhig.
»Aber …«
»Du bist hier«, schnitt er ihr das Wort ab, »damit dich keiner entdeckt. Damit niemand nach Papieren fragen kann, die du nicht hast, okay?«
»Da…danke!«, stammelte sie, offensichtlich noch damit beschäftigt, die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen.
»Und was ist mit den anderen?«, fragte sie nach einer Weile vorsichtig.
»Ich führe hier oben kein Hotel. Wenn du wieder runterwillst, sag Bescheid.«
Sie presste die Lippen zusammen und starrte auf die Karaffe mit dem Whisky. Offenbar wünschte sie sich gerade, ebenfalls etwas zu trinken, doch ihm war nicht nach Großzügigkeit zumute. Seiner Auffassung nach war er schon großzügig genug. Und es verschaffte ihm eine grimmige Befriedigung zu wissen, dass sie unter seiner Gesellschaft ebenso litt wie er unter ihrer.
Er wusste nicht genau, wann sie kamen. Das war eine lästige Eigenschaft der Polizei. Egal, wie korrupt sie auch waren, sie behielten immer noch etwas für sich. Um gefühlt die Oberhand zu behalten. Vielleicht auch, um sich selbst damit zu beruhigen, dass sie ja nicht alles an ihn verrieten. Wahrscheinlicher war, dass sie diesen
Schwanzvergleich für ihr Ego brauchten. Mikael kratzte das nicht, er fand es lediglich unpraktisch.
Es war kurz nach Mitternacht; erst gegen zwei würde die Nacht ihren Höhepunkt erreichen. Normalerweise kamen die Beamten früher. Um den laufenden Betrieb so wenig wie möglich zu stören. Dein Freund und Helfer.
»Sollte eine Razzia nicht unangekündigt sein?«
Mikael schloss kurz die Augen und seufzte. Wusste sie denn nicht, wie unattraktiv solche Fragen waren? Er wäre jetzt wirklich gerne allein. Doch wenn er sie nach unten schickte und sie es rumerzählte, gab es wieder schlechte Stimmung unter den Mädchen. Und das war etwas, das noch geschäftsschädigender war als Läuse oder eine Muschelvergiftung. Wenn die Huren schlechte Laune hatten, dann wuchs im Club kein Gras mehr. Da hielt er sie doch besser noch ein bisschen aus.
»Ich schätze, das ist die Grundidee dahinter«, bestätigte er müde.
»Aber warum weißt du dann davon?«
»Weil ich Mikael Metzger bin, verdammt. Deshalb weiß ich davon.«
Ein Lächeln schob sich über sein Gesicht. Gerade war ihm ein amüsanter Gedanke gekommen. Er drehte sich zu dem Mädchen um und schaute ihr geradewegs in die hübschen, leicht mandelförmigen Augen.
»Und wenn du einmal auch nur auf die Idee kommen solltest, mich zu verarschen, dann bekomme ich das auch mit. Merk dir das. Versuchst du, mich zu beklauen, werde ich es erfahren. Versuchst du davonzulaufen, werde ich es erfahren. Du solltest dir hinter die Ohren schreiben, dass man besser nicht versuchen sollte, mich zu hintergehen.« Er setzte sein boshaftestes Grinsen auf. »Ich schätze, du bist schon lange genug hier, um zu wissen, was Leuten blüht, die mich verarschen wollen?«
Das Mädchen schluckte und nickte mit großen Augen. »Ich werde
nichts dergleichen versuchen, das schwöre ich.«
»Gut. Und jetzt sei so lieb, bleib einfach da sitzen und halt die Klappe. Ich bin heute nicht in Stimmung.«
Sie nickte und schaute auf ihre Knie.
»Wie heißt du noch mal?«, fragte Mikael nach einer Weile, als es ihm doch zu still geworden war.
»Masha«, antwortete sie kleinlaut.
Masha. Mikael nahm noch einen Schluck. Na so was.