Er bildete sich immer ein, dass er keine Razzien mochte. Dass er nicht so ein Polizist war. Nicht wie seine Kollegen, die bei der Aussicht auf ein bisschen körperliche Gewalt vor Aufregung vibrierten, nicht wie sein Chef, der es liebte, das bisschen Macht, das er hatte, gegen andere Menschen einzusetzen. Weil er sich gerne wichtig fühlte und wichtigmachte.
Doch im Herzen wusste Birol, dass er sich selbst anlog. Er wollte nur einfach nicht so einer sein, es war ihm unangenehm. Er wäre lieber anders. Doch das war er nicht. Seitdem der Kollege in ihr Einsatzzimmer geplatzt war, vibrierte Birols Körper wie eine Bogensehne. Er wusste, dass der Mord als Grund nur vorgeschoben war, dass es eigentlich mal wieder um etwas ganz anderes ging. Etwas, das Hinnerk vermutlich mit den Metzgers ausbaldowert hatte. Oder mit irgendeinem anderen wichtigen Menschen. Vielleicht war das auch der Grund für die nächtliche Anwesenheit des Dezernatschefs im Käfig gewesen. Doch die schreckliche Wahrheit lautete, dass es ihm egal war. Seine Wut jubilierte, sein Kopf fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder klar an. Endlich durfte er seine Energie einsetzen, endlich würde seine Wut ein Ventil finden. Er hoffte, dass sie Leute
verhaften würden, dass ein bisschen Blut fließen würde. Und er schämte sich gleichzeitig dafür.
Doch Birol wusste, dass er längst nicht mehr der Mensch war, der er gerne wäre. Als der er sich darstellte – jemand, auf den man stolz sein konnte. Vielleicht war er auch nicht besser als all seine Cousins. Ein dreckiger Verbrecher mit einem Hang zur Gewalt.
Er hatte sich im Käfig auf einem der abgewetzten Sofas niedergelassen, die im stillgelegten Teil des Gebäudes herumstanden. Der Teil, in dem sich der große Saal des ehemaligen Stadtparlaments befand, wurde von der Polizei nur als Lager genutzt. Hierher kam er gerne, wenn er ein wenig Ruhe brauchte.
Es war ein absurdes Szenario. Alte Möbel standen dicht an dicht unter einer goldverzierten Decke. In die seitlichen Rundbogen waren Decken, alte Zellenliegen und allerlei Krimskrams gestopft worden, gänzlich ohne jeden Respekt vor der historischen Bedeutung des Gebäudes. Jedes einzelne Möbelstück roch nach Alter und Staub, kleine Staubwolken stiegen auf, sobald Birol sich auf einem der Sitzmöbel niederließ. Meist lag er auf einer alten Ottomane, von der er beim besten Willen nicht wusste, was sie im Käfig zu suchen hatte. Solche Möbelstücke waren kein Teil des polizeilichen Inventars, im Gegensatz zum Rest des Zeugs, das hier herumstand. Wahrscheinlich war es noch aus der Zeit davor, als es kein Neuberlin und keinen Käfig gegeben hatte und der Alexanderplatz noch das pulsierende Herz einer aufregenden Metropole gewesen war, nicht der Schandfleck im Zentrum eines Schandflecks.
Manchmal fragte sich Birol, ob er gerne in einer anderen Zeit gelebt hätte. Wahrscheinlich ja, auch wenn er wusste, dass jede Zeit ihre Schattenseiten hatte.
Doch Berlin hatte Glanzzeiten erlebt, die er gerne gesehen hätte. Zeiten, in denen sich die Bürger sicher fühlten und der positive Ruf der Stadt Menschen aus aller Welt angelockt hatte. Aufbruch und
Toleranz sowie Kreativität mussten hier einmal vorgeherrscht haben. Heute war davon nun wirklich nichts mehr zu spüren.
Vielleicht war Birol auch nur so verbittert, weil seine Heimat ein Stück Scheiße war. Wie sollte man auch positiv bleiben, wenn man in solch einem Ort verwurzelt war. Aus fauler Erde wuchs faule Frucht, oder nicht?
Er verschränkte die Arme und versuchte, ein wenig zu schlafen. Sein Handy hatte er als Wecker neben sich gelegt, es würde ihn rechtzeitig aus dem Schlaf holen.
Merkwürdig genug, aber hier im großen Saal zwischen all diesen staubigen Möbeln schlief Birol meist am besten. Er hatte sich schon überlegt, ein paar Sachen herzubringen und öfter hier zu schlafen. Seiner Familie könnte er erzählen, dass er Überstunden machte, und seine Mutter würde ihm nicht glauben und vorwerfen, dass er sich mit irgendeinem Mädchen vergnügte.
Eigentlich sollte es ihm egal sein, was seine Mutter sagte, doch das war es nicht. Birol hatte immer sehr viel Identität aus der Tatsache gezogen, dass er der Gute war. Der gute Sohn, der Gute der Familie. Wie Can.
Doch das Gute war in der Familie Celik nichts weiter als eine Falle. Denn nun erwarteten alle von ihm, dass er sich kümmerte. Dass er da war, der gute Sohn. Birol, das Goldstück.
Wäre er wie alle anderen schon im Alter von elf Jahren mit einer Waffe auf dem Schulhof erwischt worden, hätte er jetzt wenigstens seine Ruhe. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch den falschen Weg eingeschlagen hatte. Doch es half jetzt nichts.
Er versuchte, sich von all den düsteren Gedanken abzulenken, und blieb, wie schon so oft in den letzten Stunden, an Marthas Lächeln hängen. Für sie könnte er vielleicht der Mann sein, den er selbst gerne in sich sehen würde.
Dieser Fantasie folgend, glitt er in einen leichten Schlaf.