Birol zog sie am Arm hinter sich her, als hätte er Angst, sie könnte ihm abhandenkommen. Doch Raven war zu benommen und zu überwältigt, um sich großartig zur Wehr zu setzen. Warum sollte sie auch? Der Typ war immerhin ihr Vorgesetzter.
Etwas an seiner Körperhaltung machte sie nervös. Er stapfte so entschlossen voran, als hätte er ein eigenes Ziel.
In den Fluren des Clubs war es mittlerweile gespenstisch ruhig. Von überall her drangen Gezeter und gedämpfte Stimmen an ihr Ohr, doch je weiter sie sich vom Dancefloor entfernten, desto leiser wurde alles.
Ihr Tross bestand aus knapp fünfzig Mann, die Birol – und mit ihm notgedrungen auch Raven – anführte. Raven fragte sich, was Birol antrieb. Denn dass er gerade von deutlich mehr als nur von Pflichtbewusstsein erfüllt war, konnte sie schon alleine an seiner Körperhaltung sehen.
Raven war ein Mensch, der hauptsächlich beobachtete. Sie sagte nicht viel, und das veranlasste Menschen oft genug dazu, sie geradezu zu ignorieren und sich recht natürlich zu verhalten. Das hatte sie von Cristobal gelernt – und sie sah so einiges. Birol hatte ein Ziel, eine Mission. Er focht hier in den Mauern des Gardens seinen ganz eigenen
Krieg. Das, was sie da gerade sah, hatte mit Berufsethos nicht mehr viel zu tun. Ihr Vorgesetzter war ein ziemlich merkwürdiger Typ.
»Wo gehen wir denn hin?«, fragte Raven nach einer Weile, als sie durch das enge Treppenhaus liefen, das normalerweise nur von Angestellten benutzt wurde.
Sie waren weder ins Casino noch in den Salon Rouge gegangen, und obwohl Raven darüber eigentlich recht froh war, behagte ihr gar nicht, was als Option noch übrig blieb. Das letzte Stockwerk. Das Allerletzte.
»Das wirst du gleich sehen«, knurrte Birol nur und zog sie weiter.
Raven kannte jeden Winkel dieses Clubs, aber das dritte Untergeschoss hatte sie bei Nacht noch nie betreten. Sie kam nur tagsüber hierher, wenn die Matratzen im Angestelltenbereich an den Rand geschoben und in der Mitte des Raumes die Waren für den Schwarzmarkt ausgebreitet wurden. In den anderen Teil des dritten Untergeschosses ging sie überhaupt nicht, weder bei Tag noch bei Nacht.
Aus tausend unterschiedlichen Gründen nicht. Oder auch nur aus einem. Sie wollte nicht sehen, was da unten abging. Solange sie die Wahrheit des Fightfloors weit genug von sich fernhielt, konnte sie sich einbilden, er existiere nicht. Sie hatte Angst vor dem, was sie gleich sehen würde.
Auch fragte sie sich, ob die Leute, die sich heute Nacht auf dem Floor vergnügt hatten, überhaupt schon wussten, was oben im Erdgeschoss abging. Oder ob sie durch ihr Eintreffen gleich vollkommen überrascht wurden.
Wenige Sekunden später, als Birol die Tür zum untersten Stockwerk des Gardens aufstieß, bekam Raven ihre Antwort.
Der Kampf war in vollem Gange. Raven konnte den Ring nicht sehen, aber der Raum war brechend voll mit Menschen, die wild
durcheinanderbrüllten und die Fäuste reckten. Das Barpersonal am Tresen direkt neben ihr wirkte entspannt – die Männer und Frauen in ihren hautengen Anzügen schenkten gut gelaunt Drinks aus und nahmen üppige Trinkgelder entgegen. Hier unten, so hieß es, machten die Barkeeper den besten Schnitt. Wenn die Leute aufgepeitscht waren von der Aufregung, die das Wetten mit sich brachte. Oder, wenn sie gerade gewonnen hatten. Dann floss der Champagner in Strömen. Hier unten, so hatte ihr Nina einmal verraten, wurden die meisten Magnum-Flaschen verkauft. Dort, wo Menschen hingemetzelt wurden. Was genau sagte das eigentlich über ihre Spezies aus?
Die Luft im Raum stand förmlich und war zum Schneiden dick. Rauchschwaden waberten über den Fightfloor, als würden an allen Ecken Zigaretten und Zigarren brennen. Raven wusste, dass das sicher nicht der Fall war, denn Mikael und Eugene hassten Rauchwerk aller Art, aber offenbar wurde hier unten diese Illusion heraufbeschworen.
Als die Polizisten eintraten, reckten ein paar der Mitarbeiter besorgt die Köpfe zur Tür, und Raven hoffte im Stillen, dass sie sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen würden. Die Flure waren leer, sie könnten es schaffen. Außerdem wusste sie ohnehin nicht, worauf die Beamten und speziell Birol es hier unten abgesehen hatten. Natürlich waren die Kämpfe hochgradig illegal, strengstens verboten, doch das war heute überhaupt nicht ihre Baustelle. Offiziell wusste niemand etwas von den Kämpfen im dritten Untergeschoss. Auch der Bürgermeister von Altberlin nicht, der angeblich einmal die Woche in Mikaels Loge rechts über dem Ring zu Gast war.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge. Jeder, der sie erblickte, sah zu, dass er so schnell wie möglich den Raum verließ. Gut so.
Hier unten trug das gesamte Publikum Masken. Das diente weniger der Kommunikation bestimmter Vorlieben, sondern vielmehr dem Identitätsschutz. Gerade die besonders reichen Bürger Berlins hielten
sich gar nicht erst beim Glücksspiel oder im Bordell auf, sondern suchten den richtig harten Kick. Deshalb waren die Kämpfe ja auch so erfolgreich. Niemals würde Mikael zulassen, dass sie gefährdet wurden. Machte Birol hier gerade einen Alleingang?
Als sie sich umsah, konnte sie feststellen, dass ihnen nicht mehr fünfzig Mann, sondern nur noch eine Handvoll Leute folgten, die weniger entschlossen wirkten als ihr Vorgesetzter. Verdammt. Musste sie von allen Orten auf der Welt ausgerechnet hier sein?
Birol hatte sie noch immer am Arm gepackt – zum Glück am linken – und war in einer Stimmung, in der man ihn besser nicht ansprach. Raven hatte leider mehr als genug Erfahrung damit. So sanftmütig, wie er ihr noch am Anfang erschienen war – ein wenig unsicher und leicht um den Finger zu wickeln –, kam er ihr nun überhaupt nicht mehr vor.
Je näher sie dem Ring kamen, desto deutlicher stieg Raven ein altbekannter Geruch in die Nase. Hier floss eindeutig sehr viel Blut. Es roch süß, klebrig und metallisch und im Zusammenspiel mit menschlichem Schweiß und dem künstlichen Zigarettenrauch drehte sich ihr der Magen um. Eigentlich war sie schlechte Gerüche gewohnt, aber in Spencers Atelier sorgten sie immer dafür, dass gut gelüftet wurde.
Als sie den Ring erreichten, blieb Raven abrupt stehen. Sie konnte keinen Schritt weitergehen. Nicht einen einzigen. Birol bemerkte ihr Zögern und wollte sie weiterziehen, bis auch er entdeckte, was sie so verstörte. Auf dem Boden des Rings lag eine abgetrennte Hand.
Sie war nicht sauber amputiert oder abgeschnitten worden, das war deutlich zu sehen. Vielmehr hatte der eine Kämpfer dem anderen die Hand aus der Gelenkwurzel gerissen und sie dann achtlos zu Boden geschleudert. Doch das war offenbar noch nicht genug gewesen, um das Duell zu beenden. Der verwundete Mann lag am Boden des Rings, von einem Kerl mit offensichtlich gemoddeten Armen fest im
Schwitzkasten gehalten. Die Wunde war von jemandem mehr oder weniger fachmännisch abgebunden worden. Immerhin, aber wieso kämpften die beiden noch weiter?
Sie konnte von Glück sagen, dass sie keinen der beiden Kämpfer kannte, keiner von ihnen war jemals ihr Kunde gewesen. Der komplett künstliche Arm des einen sah ihr auch eher plump gemacht aus. Als hätte jemand eine offizielle Prothese des Gesundheitsministeriums ein wenig manipuliert. Was auch erklären würde, warum er sie offen trug. Solche Konstruktionen waren sehr wartungsanfällig. Raven bezweifelte allerdings, dass diese Anfälligkeit besser wurde, wenn sich ständig Kleidungspartikel oder Teile des Gegners darin verfingen.
Beim anderen Kämpfer tippte sie auf Mikaels Klassiker: die Kniegelenke. Der junge Mann hatte feine rote Narben unter den Knien, mit denen er verzweifelt über den blutigen Boden rutschte, während sein Gesicht sämtliche Farbe verlor. Wahrscheinlich durfte er nicht aufhören zu kämpfen. Das war eine von Mikaels Bedingungen. Er stattete seine Schuldner mit Prothesen aus, damit sie im Ring kämpfen und so schneller ihre Schulden abzahlen konnten – die Kosten für die Operation und das Material wurden dabei natürlich auf die Rechnung mit draufgeschlagen. Bedingung hierfür waren eine bestimmte Anzahl Kämpfe in der Woche, bei denen der Kämpfende sich nicht geschlagen geben durfte. Gab einer früher auf, brachte das sicher deutlich weniger Geld in die Kasse. Und der Ringrichter entschied, wann er abpfiff.
Ravens Blick wanderte durch den Raum. Obwohl sich der Fightfloor merklich geleert hatte, standen vor allem auf der anderen Seite des Rings noch immer zahllose Menschen, die wie gebannt auf die beiden Kontrahenten starrten und nichts anderes wahrzunehmen schienen. Doch Ravens Blick blieb an einer ganz anderen Sache hängen. In der linken hinteren Ringecke stand ein schwarzer Gummiabzieher an einem Besenstiel bereit. Nun bemerkte sie auch die roten Schlieren,
die sich die gesamte Umrandung des Rings entlang nach unten zogen. Hier floss offenbar so viel Blut, dass es in den Pausen immer wieder mit dem Abzieher vom Ringboden geschoben wurde, damit es für die Kämpfer nicht zu glitschig wurde. Das bedeutete allerdings …
Prüfend hob sie einen Fuß in die Höhe. Er klebte am Boden des Fightfloors fest. Na wunderbar. Offenbar war heute eine ganz besonders ereignisreiche Nacht gewesen.
In Ravens Kopf drehte sich alles. Nicht weil ihr aufgrund des vielen Blutes schlecht geworden war – damit kam sie klar –, sondern weil ihr hier gerade auf die brutalste Art vor Augen geführt wurde, woran sie sich da eigentlich beteiligte.
Ganz bewusst hatte sie diesen Teil des Gardens immer gemieden und insgeheim gewusst, dass sie einfach nur vor der Wahrheit davonlief. Sie wollte nicht sehen, in welches schmutzige Geschäft Dark verwickelt war, woran er sich bereicherte. Wollte nicht sehen, wozu ihre Kunden die Prothesen einsetzten, die sie mit so viel Liebe zum Detail, mit so viel Arbeit und Hingabe herstellte.
Die Wahrheit war, dass Raven ihre Prothesen wirklich liebte. Und sie liebte ihre Arbeit. Es faszinierte sie zu wissen, dass sie mit dem, was sie tat, den Körper eines anderen Menschen verändern und verbessern konnte. Ein bisschen gefielt ihr wahrscheinlich auch die Machtposition, in die sie dadurch geriet. Sie fühlte sich fast schon wie ein Schöpfer. Indem sie einen Teil des menschlichen Körpers abschnitt und durch eine ihrer Kreationen ersetzte, drückte sie einem anderen Menschen unweigerlich ihren eigenen Stempel auf. Sie war dann ein bisschen wie Gott. Das kleine, dünne Mädchen, das gerade einmal Schuhgröße fünfunddreißig hatte, erschuf völlig neue Menschen.
Obwohl sie gewusst hatte, dass viele ihrer Kunden nicht freiwillig zu ihr kamen, hatte sie die Augen lieber verschlossen. Schließlich kam niemand gegen Eugene und Mikael an, richtig? Außerdem waren die
Spinner doch selbst schuld, wenn sie nicht in der Lage waren, Mikael oder Eugene das geliehene Geld zurückzuzahlen. Doch sie wusste, dass sie sich damit selbst belog. Es war schließlich so, wie sie Martha vorhin noch gesagt hatte. Die meisten im Gardens waren arme Teufel, die in etwas Schlimmes hineingeraten waren und einfach nur versuchten zu überleben. Die Kontrolle über sein eigenes Leben hatte hier drin so gut wie niemand mehr. Und am wenigsten hatte sie der Typ, der auf dem Boden lag und dessen Gesicht gerade blau anlief. Seine Füße begannen bereits zu zucken.
Raven sah zu Birol hinüber, der wie gebannt auf das Spektakel starrte. Zwar trug er seinen Helm, und Raven konnte ihm deshalb nicht ins Gesicht sehen, aber es kam ihr fast so vor, als wartete Birol darauf, dass der junge Mann am Boden erstickte.
Sie riss am Ärmel seiner Uniform, und langsam drehte er sich zu ihr um.
»Tu was, verdammt!!«
Birol zuckte zusammen und schüttelte sich kurz, und es schien, als hätte Raven ihn aus einer tiefen Trance geholt. Er griff nach dem untersten Seil und zog sich daran hinauf. Wenige Augenblicke später stand er mitten im Ring, und es wurde merklich stiller im Raum. Ein paar besaßen allerdings die Kühnheit, ihn auszubuhen. Was hatten die denn genommen?
Der Kämpfer, der die Oberhand gehabt hatte, bewies allerdings so viel Geist, lockerzulassen, sodass sein Opfer wieder richtig atmen konnte. Offenbar war er klug genug, einen anderen Menschen wenigstens nicht vor den Augen eines Polizisten zu erwürgen.
»Das Spektakel ist zu Ende!«, schrie Birol. »Alle raus hier, aber ein bisschen plötzlich. Oben stehen Beamte bereit, um Ihre Personalien aufzunehmen.«
Dann sah er zu den beiden Kämpfern auf dem Boden.
»Und ihr beide seid verhaftet.«
Im Raum brach Chaos unter den restlichen Gästen aus, und die Kollegen, die noch unentschlossen am Rande des Rings gestanden hatten, setzten sich in Bewegung.
Und auch Raven erlangte allmählich wieder die Kontrolle über ihren Körper und ihren Geist zurück. Das schlechte Gewissen, das sie zuvor so sehr beherrscht hatte, lähmte sie nicht mehr. Was für ein Glück! Denn eigentlich war das, was vor ihr lag, viel zu verlockend, um ignoriert zu werden.
Sie flitzte zur nächsten Bar, die mittlerweile verlassen und sehr ungeschützt dastand, und schwang sich über den Tresen. Raven schnappte sich zwei Plastikbeutel und füllte einen davon mit Eis.
Dann rannte sie zurück zum Ring, in dem Birol noch vollauf damit beschäftigt war, die beiden Kämpfer mit der Hilfe von ein paar Kollegen unschädlich zu machen. Normale Kabelbinder, wie sie die Berliner Polizei benutzte, würden bei dem Kerl mit der Armprothese wohl wenig helfen. Dieses Rätsel schien auch Ravens Kollegen gerade zu beschäftigen. Gut.
Vorsichtig nahm sie die abgetrennte Hand mit der leeren Plastiktüte auf und ließ sie hineingleiten. Dann verschloss sie diese mit einem festen Knoten sorgfältig und ließ sie in den Beutel mit Eiswürfeln rutschen. Zum Schluss schob sie das gesamte Ding umständlich und leicht zitternd unter ihre unterste Uniformschicht.
Die meisten Menschen machen bei abgetrennten Gliedmaßen den Fehler, dass sie sie direkt auf Eis legten. Dann konnte man sie vergessen. Das Gewebe wurde aufgeschwemmt, und Gefrierbrand konnte entstehen. Auf die Weise, wie Raven sie nun verpackt hatte, würden die Eiswürfel schmelzen, aber genügend Kälte abgeben, um die Hand vor Verwesung zu schützen. Wenn sie sie unbemerkt bis nach Hause bringen konnte, könnte sie dem jungen Kämpfer eine passgenaue Prothese in seine alte Hand einbauen und diese wieder ansetzen. So was hatte sie noch nie gemacht. Alleine beim Gedanken
daran schlug ihr Herz schneller. Hoffentlich kam sie bald nach Hause.