Er wusste nicht genau, warum, aber er erzählte ihr alles. Es war einfach zu viel geworden, um es noch länger alleine zu tragen. Die Bemerkung des Kollegen über seinen Vater hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, und seitdem sprudelte es nur so aus ihm heraus. Und das tat gut.
Birol konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so lange am Stück gesprochen hatte. Oder ob er überhaupt schon einmal die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Vielleicht war es sogar das erste Mal in seinem Leben, dass ihm jemand einfach mal aufmerksam zuhörte. In seiner Familie redeten alle durcheinander, vielleicht bekam man, wenn man Glück hatte, einen zusammenhängenden Satz über die Lippen, bevor jemand anderes über einen drüberschrie. Mit Martha war das ganz anders. Sie war eine sehr aufmerksame Zuhörerin, die ihn selten bis gar nicht unterbrach und nur durch ihre Gestik und Mimik zum Ausdruck brachte, was sie bei seinen Worten empfand. Es machte einfach nur Freude, seine Erzählungen in ihrem Gesicht gespiegelt zu sehen; so wusste er, dass bei ihr auch ankam, was er sagte.
Besonders eindrucksvoll waren hierbei ihre Augenbrauen. Diese perfekten, schwarzen Haarraupen über ihren beinahe schwarzen Augen. Sie konnten sich krümmen und winden, in die Höhe schnellen, sich einander annähern und voneinander wegbewegen. Es war beinahe wie eine Choreografie zur Musik seiner Worte.
Birol musste aufpassen, dass er Martha nicht zu sehr anstarrte. Doch die Art, wie sie ihn ansah, während er sprach, machte ihm das nicht gerade leicht. Mit solch einer Intensität! Das hatte er noch nie erlebt. Er fühlte, wie etwas in ihm verrutschte. Dort, wo die ganze Zeit diese schreckliche Wut gesessen hatte, machte sich gerade etwas anderes breit. Etwas, vor dem er Angst hatte und das er dennoch für immer behalten wollte. Wärme, golden und süß wie Honig.
Nicht nur Marthas Augenbrauen zu beobachten war eine reine Freude, auch, ihr beim Essen zuzusehen. Sie aß aufreizend langsam, was ihn irritierte. In seiner Familie war Schnelligkeit beim Essen Überlebensregel Nummer eins. Doch beim ersten Bissen in ihre Falafel war das Gesichtskino, das folgte, unbezahlbar gewesen. Martha hatte ihm gebeichtet, noch nie zuvor eine Falafel gegessen zu haben. In Neuberlin gab es diese Buden einfach nicht. Kein Wunder. Das Hygieneverständnis der Neuberliner war legendär und grenzte an Paranoia.
Birol hatte sie mitgenommen in seine Stammbude, schräg gegenüber vom Käfig. So konnte er auch sein schlechtes Gewissen darüber im Zaum halten, dass sie noch nicht ins Präsidium zurückgekehrt waren. Sie waren schließlich fast da. Schon quasi vor der Tür. Wenn ihn nachher jemand darauf ansprach, könnte er sagen, er hätte die Auszubildende erst in ein paar Verhörtechniken einweihen wollen. Obwohl er nicht gerade das Gefühl hatte, dass Martha auf dem Gebiet Nachhilfe nötig hatte. Er redete ja selbst in ihrer Gegenwart wie ein Wasserfall. Diese Augen machten etwas mit einem.
Während er bereits sein gesamtes Sandwich verdrückt und sich schon zwei Mal Tee aus dem speckigen Samowar in der Ecke nachgeschenkt hatte, war Martha mit ihrem Sandwich gerade erst zur Hälfte fertig. Und das, obwohl sie die ganze Zeit stillschweigend kaute. Das musste ihr auch erst einmal jemand nachmachen.
»Magst du deine Falafel nicht?«, fragte er irgendwann mit hochgezogenen Brauen, und Martha lächelte.
»Doch, natürlich. Wahnsinnig lecker. Aber mein Gehirn ist zu beschäftigt mit deiner Geschichte!«
»Du kannst also nicht gleichzeitig kauen und denken?«
Martha nahm noch einen kräftigen Bissen und antwortete mit vollem Mund: »Natürlich nicht! Sonst bekommt man doch gar nichts von seinem Essen mit!«
»Hm«, machte Birol. Da war natürlich was dran.
»Wolltest du schon immer Polizist werden?«, fragte sie nun zwischen zwei Bissen.
Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet. Birol hatte mit seinen Gedanken den Ereignissen vor ein paar Monaten nachgehangen, dank denen sich ein dunkler Schleier über sein Leben gelegt hatte. Er zuckte die Schultern. »Solange ich denken kann, ja. Mein Vater war immer mein großes Vorbild.«
Martha nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Einen Polizisten als Papa hätte ich sicher auch ziemlich cool gefunden. Und was ist mit deiner Mutter? Was macht sie beruflich?«
Birol merkte, wie sich seine Wirbelsäule verkrampfte. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand nach seiner Mutter fragte. Die Frau, die ihn wohl den Rest seines Lebens nicht in Ruhe und Frieden lassen würde, die schon nach ihm schrie, wenn er nur zur Tür reinkam und seine Brüder und Cousins über den grünen Klee lobte, weil sie »etwas für die Familie« taten. Elif Celik verschloss gerne die Augen vor den kriminellen Machenschaften der anderen Familienmitglieder. Ihr war es vollkommen egal, woher das Geld für das Essen und die Kleidung, woher die passenden Ehefrauen für die Jungs bzw. die Männer für die Mädchen kamen – solange es alles gläubige Muslime und am liebsten natürlich noch Türken waren, die aus »guten Familien« stammten. Das verstand sich ja wohl von selbst. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was seine Mutter sagen würde, wenn er eines Tages Martha nach Hause brachte. Was nicht passieren würde. Schließlich saßen sie hier nur als zwei Kollegen zusammen nach einem Einsatz und aßen Falafel. Nicht mehr und nicht weniger. Außerdem wollte er sein Zuhause eigentlich niemandem zeigen. Schon gar nicht ihr. Was würde sie nur sagen, wenn sie das Zimmer sehen würde, in dem er bis heute schlief?
»Hey, hab ich was Falsches gefragt?«
Birol schüttelte den Kopf, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. In Wahrheit versuchte er, seine Gedanken damit wieder geradezurücken. Manchmal klappte das sogar – meistens allerdings nicht.
»Nein, es ist nur …« Er räusperte sich und suchte nach den richtigen Worten. »Meine Mutter arbeitet nicht.«
Martha ließ ihr Sandwich sinken. In ihrem Gesicht stand die pure Überraschung. Birol wusste, wieso. Es galt als sehr rückständig in der heutigen Zeit, nicht arbeiten zu gehen. Menschen, die keine Arbeit hatten, aren oft ungebildet oder kriminell. Er wappnete sich gegen das, was nun kommen musste, doch alles, was Martha schließlich sagte, war: »Ach so. Und deine Geschwister? Was machen die so?«
Birol kratzte sich am Kopf. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Wäre es besser, sich jetzt in Ausflüchte zu retten, ein paar Allgemeinplätze von sich zu geben und rüber ins Präsidium zu gehen? Leichter für ihn wäre es auf jeden Fall. Aber dann würde sie ihn vielleicht nie wieder so ansehen …
Er holte tief Luft. »Über meine Familienmitglieder rede ich normalerweise nicht so gerne. Sie sind …« Birol suchte nach den richtigen Worten. Es war so schwer, überhaupt an sein Privatleben zu denken. Manchmal kam es ihm vor wie ein Paralleluniversum.
»… fast alle kriminell«, stieß er schließlich hervor, und Martha rutschte ihr Sandwich aus der Hand und fiel mit einem feuchten, satten Geräusch zurück auf den Teller. Jetzt, da war er ziemlich sicher, war er bei ihr unten durch.
»Ernsthaft?« Ihre Augen wurden immer größer und so rund wie Untertassen.
»Ja, ernsthaft. Also, die Mädchen nicht, die halten nur den Mund. Aber ich habe zwei ältere und zwei jüngere Brüder, acht Cousins und drei Neffen, die von Drogenhandel über Einbruchsdiebstahl, Zuhälterei und Körperverletzung so ziemlich alles auf dem Kerbholz haben, was man sich so vorstellen kann.«
»Wahnsinn!« Gedankenverloren leckte Martha ihre Fingerspitzen ab, und Birol rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Um Martha nicht ansehen zu müssen, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und wurde von Ajub, dem Betreiber der Dönerbude, komplizenhaft angegrinst. Der dachte wohl, sie hätten hier ein richtig vielversprechendes Date. Tja. Hoffentlich verpetzte er Birol nicht bei einem seiner vier Brüder, acht Cousins oder drei Neffen. Er hatte keine Lust, ausgerechnet von denen ausgefragt zu werden. Zum Glück kamen sie, trotz des guten Essens, nur selten hierher. Der Käfig erzeugte eine Art negatives Gravitationsfeld, von dem sich gewöhnliche Verbrecher eher abgestoßen fühlten.
»Das muss ziemlich hart für dich sein«, sagte Martha nun und nahm das Kauen wieder auf.
Birol lachte. »Nun, die anderen finden, dass es eher hart für sie ist, mit einem Polizisten leben zu müssen. Ich bin das schwarze Schaf der Familie.«
Martha zog die Brauen hoch und grinste. »Wohl eher das weiße Schaf!«
Birol nahm kopfschüttelnd noch einen Schluck Tee. »Wenn du es so sagst, klingt es beinahe schon lustig.«
»Manchmal hilft es, Dinge ins Lächerliche zu ziehen, die sonst nicht zu ertragen wären.« Sie zuckte die Schultern.
»Und wie hat dein Vater damit gelebt?«
Hatte diese Frau einen eingebauten Detektor für wunde Punkte?
Er verzog gequält das Gesicht. In dem Moment schob Martha ihre Hand ohne Vorwarnung über den Tisch und ergriff seine. Er hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen worden zu sein.
»Wenn du nicht darüber reden möchtest, ist das okay.« Sie senkte beschämt den Blick. »Manchmal bin ich einfach zu neugierig.«
»Nein, ist schon gut. Ich habe einfach nur bis heute mit niemandem darüber geredet.« Er holte tief Luft. »Als Baba noch am Leben war, haben es meine Brüder nicht ganz so bunt getrieben. Der Respekt vorm Vater ist groß in unserer Kultur. Aber meine Cousins haben natürlich trotzdem dafür gesorgt, dass sie das eine oder andere Ding drehten. Seit er tot ist, sind sie voll im Geschäft. Ich habe keine Ahnung, wie viel mein Vater von den Machenschaften der Jungs mitbekommen hat. In unserer Familie wird über so was nicht gesprochen.«
Martha lächelte. »Familien sind das Komplizierteste auf der Welt, richtig?«
»Richtig. Allerdings finde ich die Arbeit im Käfig auch nicht gerade unkompliziert.« Warum hatte er das gerade gesagt? Birol wurde das Gefühl nicht los, sich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
»Das ist mir auch schon aufgefallen, spätestens heute Nacht. So habe ich mir die Polizei eigentlich gar nicht vorgestellt.«
Birol schnaubte. »Da sind wir schon zwei. Als ich noch nicht im Dienst war, habe ich die Polizei idealisiert. Jetzt wünschte ich manchmal, ich hätte einen anderen Beruf ergriffen.«
Martha nickte. Inzwischen hatte sie doch tatsächlich aufgegessen und pickte mit der angefeuchteten Spitze ihres Zeigefingers die Krümel und Soßenkleckse vom Teller. Könnte sie vielleicht bitte damit aufhören? Wie sollte er sich denn bei dem Anblick konzentrieren?
»Und die Kollegen tun nichts, um herauszufinden, wer deinen Vater wirklich ermordet hat?«
»Ich habe nicht den Eindruck. Sie sagen, es sei einer von den illegalen Cheatern gewesen und Ende. Die sind schwer aufzuspüren, leben im Untergrund. Außerdem sind sie nicht miteinander vernetzt, es gibt kaum eine Szene, in der man ermitteln könnte.« Er schüttelte den Kopf. »Doch sie haben es nicht einmal versucht.«
Martha drückte seine Hand. »Und du? Hast du es denn versucht?«
Birol schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe es mir vorgenommen. Wirklich. Aber ich weiß nicht, wie ich ohne Hilfe der Kollegen irgendwas erreichen soll. Wo ich anfangen soll.«
Martha tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und ließ sie dann elegant auf den Teller fallen. Die Art, wie sie sich bewegte, konnte den Eindruck erwecken, sie befände sich in einem Sternerestaurant und nicht in Birols liebster Imbissbude.
»Weißt du was? Ich helfe dir!«
»Was?« Damit hätte er wohl zuletzt gerechnet. Auch, weil er keine Ahnung hatte, was eine junge Auszubildende, die gerade einmal den dritten Tag bei der Berliner Polizei war, ausrichten konnte. Aber die Geste rührte ihn. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit fühlte er sich nicht mehr so allein.
»Das wäre großartig«, stieß er hervor, nachdem Martha sehr ernst genickt hatte. »Es wäre schön, Hilfe zu haben.«
Sie drückte noch einmal seine Hand, dann ließ sie los.
»Ist doch klar. Dafür sind wir ein Team, oder nicht?« Martha strahlte und entblößte dabei eine Reihe ihrer perfekten weißen, geraden Zähne.
Und da, ganz plötzlich, in diesem Moment, wurde Birol regelrecht leicht ums Herz. Er begann, wieder an eine Zukunft zu glauben, in der er nicht mehr wütend war.