Er fühlte sich, als hätte er Fieber. Seitdem ihm der Mann im Vernehmungsraum eröffnet hatte, dass er wusste, wer seinen Vater auf dem Gewissen hatte, lief Birol auf Autopilot. Tausende Fragen schossen unaufhörlich durch seinen Kopf. Woher hatte der Typ gewusst, wer er war und dass er fieberhaft nach dem Mörder seines Vaters suchte? Hatte er die Wahrheit gesagt oder nur einen Weg gesucht, aus dem Käfig herauszukommen? War es Zufall, dass ausgerechnet er noch einmal zu dem Mann in den Vernehmungsraum geschickt worden war, oder hatte Hinnerk die ganze Sache absichtlich eingefädelt? Steckte etwas völlig anderes dahinter? Was war, wenn es sich bei dem Typ, den der Mann ihm genannt hatte, tatsächlich um den Mörder seines Vaters handelte? Und was, wenn nicht? Wie sollte er es herausfinden und was sollte er dann tun? Ihn verhaften und vor Gericht stellen lassen? Er hatte keine Beweise. Nur die Aussage eines Verbrechers, dessen echten Namen er noch nicht einmal kannte.
Denn natürlich hatte Birol sich auf den Deal eingelassen. Der Mann mit der Lederjacke hatte ihm seinen echten Namen nicht nennen müssen, Birol hatte ihn einfach so laufen lassen. Ein feiner Polizist war er.
Nun erfüllte ihn eine Unruhe, die beinahe unerträglich war. Als hätte er einen bis zum Rand gefüllten Eimer roter Waldameisen im Ganzen heruntergeschluckt. Die schönen Momente mit Martha schienen ihm unendlich weit entfernt, genau wie Martha selbst. Hatte er sie tatsächlich für relevant gehalten? Sie war es nicht. Jedenfalls nicht im Moment.
Was jetzt zählte, war einzig und allein, wofür er sich entschied.
Da Birol bemerkt hatte, dass er überhaupt nicht mehr bei der Sache war, hatte er sich für ein Nickerchen wieder in den großen Saal zurückgezogen. Natürlich hatte er gewusst, dass er nicht würde schlafen können, doch die Einsamkeit war das Einzige, was ihm half, seine Gedanken einigermaßen zu ordnen.
Birol legte sich auf seine Lieblingsliege und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Herauszufinden, wer seinen Vater getötet hatte, war seit Monaten sein Antrieb, der Gedanke an Rache manchmal das Einzige, was ihn morgens hatte aufstehen lassen.
Seit ein paar Tagen, eigentlich seitdem er sein merkwürdiges Team leitete, ging es ihm besser. Eigentlich so gut wie schon lange nicht mehr. Er hatte sich heute Nacht sogar richtig wohlgefühlt. Bis zur Begegnung mit dem Fremden in der Lederjacke. Und jetzt lag er hier und wusste nicht, was er tun sollte.
Der Mann hatte ihm nicht nur einen Namen, sondern auch die Adresse genannt, unter der der Typ zu finden sein sollte. Birol hatte versucht, das zu überprüfen, aber offiziell stand das Gebäude leer. Doch es war nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem sein Vater zu Tode gekommen war.
Gerne hätte er jetzt Martha alles erzählt und sie um Rat gefragt. Doch er konnte niemanden einweihen. Das war einfach zu gefährlich. Denn Birol hatte, indem er den Verdächtigen laufen ließ, eine Grenze überschritten. Keine der Informationen, die er heute erhalten hatte, wären vor Gericht auch nur irgendwie verwertbar. Doch mehr als die
Aussage des Mannes hatte er nicht und würde er wohl auch nicht bekommen. Die Kollegen mauerten. Niemand interessierte sich so recht für den Fall; ihm gegenüber wurde der Tod seines Vaters eher wie ein Unfall behandelt als wie Mord. Wände, überall Wände.
Und dann kam auf einmal dieser Fremde wie aus dem Nichts und bot ihm einen Ausweg. Das alleine sollte Birol schon stutzig machen. Tat es auch, aber das änderte gar nichts. Nicht an der Tatsache, dass er jetzt einen Namen hatte. Endlich, nach so vielen Monaten eine Spur, eine Möglichkeit, Antworten zu bekommen. Und danach vielleicht wieder ruhiger zu schlafen.
Bis vorhin hatte er noch gedacht, vielleicht auch mit der Ungewissheit leben und nach vorne schauen zu können. Doch das konnte er sich jetzt an den Hut stecken.
Eigentlich wusste er jetzt schon, wie er sich entscheiden würde. Es war nur so, dass er sich noch nicht ganz erlauben wollte, diese Entscheidung auch wirklich zuzulassen. Weil er kein Mensch sein wollte, der so etwas tat. Weil es nicht in das Bild passte, das er gerne von sich selbst hätte. Doch eigentlich, tief in seinem Inneren, hatte er sich schon entschieden.
Allein beim Gedanken daran begann es in seinem Inneren zu brodeln. Dunkle, mächtige Wolken türmten sich in seinem Kopf auf, krochen den Rachen hinunter und nisteten sich in seinem Herzen ein. Es war die einzige Gelegenheit, die er bekommen würde, da war er sich sicher. Vielleicht war es sein persönlicher Weg in die Katastrophe, etwas, das er ewig bereuen würde. Doch es war ihm egal.
Birol schloss die Augen und ließ zu, dass sich die dunklen Bilder in seinem Kopf immer weiter ausbreiteten. Damit die Wut zurückkam, um sich an ihnen satt zu fressen. Er wollte sich von innen vergiften, weil es das Einzige war, was sich in diesem Moment wahrhaftig anfühlte. Und es tat gut, sich davon mitreißen zu lassen.
Er würde seinen Vater rächen. Würde den Mann aufsuchen und ihn
zur Rede stellen. Und wenn er alles gestanden hatte, würde er ihn erschießen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Manchmal ging es einfach nicht anders. Doch natürlich durfte er das nicht mit seiner Dienstwaffe tun, das war eine Hürde, die er noch überwinden musste. Er brauchte eine nicht registrierte Schusswaffe. In seiner Familie kein großes Problem, doch er machte sich angreifbar.
Egal.
Ohne weiter darüber nachzudenken, zog Birol sein Telefon hervor und wählte die Nummer seines Cousins.