Sie war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass diese Asservatenkammer ihr persönliches kleines Paradies war. Das hier stellte für sie keine Strafe dar, sondern war etwas, das sie den Rest ihres Lebens machen könnte. Jedenfalls fühlte es sich momentan so an.
Raven mochte Ordnung, und diese Arbeit kam ihrem Bedürfnis nach Struktur und ihrer Liebe zum Detail sehr entgegen. Außerdem war es spannend, Kiste für Kiste zu öffnen und den Inhalt vorsichtig durchzusehen. Sich vorzustellen, dass jeder Gegenstand in diesem Archiv Teil eines Verbrechens gewesen war, jagte ihr wohlige Schauer den Rücken herunter und machte die ganze Sache spannend.
Frau Jacobson hatte ihr aufgetragen, erst einmal im laufenden Jahr für Ordnung zu sorgen, weil es bereits in diesen Kisten ziemlich chaotisch zuging. Das zu entdecken war überhaupt der Grund gewesen, dass sie sich beklagt und um Hilfe gebeten hatte.
Die Arbeit war auch nicht ganz so einsam, wie Raven gedacht hätte. Von ferne hörte sie immer wieder das Klappern von Frau Jacobsons Schuhsohlen oder ihre gedämpfte Stimme, wenn sie telefonierte. Manchmal kam sie auch in das Archiv, um ein Asservat herauszusuchen, um das ein Kollege gebeten hatte. Für Ravens Geschmack herrschte hier genau die richtige Mischung aus Ruhe und Betriebsamkeit. Sie war nicht richtig einsam, aber es störte sie auch niemand.
Zwischendurch rief sie Frau Jacobson einmal zu sich nach vorne und teilte ganz selbstverständlich ihr mitgebrachtes Mittagessen mit Raven. Belegte Stullen – es war eine Ewigkeit her, dass Raven belegte Stullen gegessen hatte. Diese Zwischenmahlzeit hatte etwas Heimeliges, sie fühlte sich in der Kammer seltsam geschützt.
Im Keller zu sitzen und an einem belegten Schwarzbrot zu knabbern, während es nach Pappkartons und altem Stoff roch, und von Frau Jacobson immer wieder stumm und unaufdringlich angelächelt zu werden war eine ganz eigene Form von Zufriedenheit. Ein wenig ließ diese Frau Raven das Loch vergessen, das in der vergangenen Nacht in ihr Herz gerissen worden war.
Sie war schon wieder seit mindestens einer Stunde in die Arbeit vertieft, als ihr auf einmal ein Karton in die Hände fiel, der sie überraschte.
Beinahe hätte sie ihn übersehen, weil er nicht wie die anderen in der Reihe stand, sondern nach hinten in die Untiefen des Regals gerutscht war. Die Pappe war an den Seiten ein wenig eingedrückt, und der Deckel war gerissen, als hätte man die Kiste mit Gewalt in die zweite Reihe gestopft. Raven war der Karton nur aufgefallen, weil sie so klein war und sich das Regalbrett direkt auf ihrer Augenhöhe befand. Vorsichtig zog sie die Kiste heraus und blies den Staub vom Deckel. »Celik«, stand mit dickem Filzstift darauf geschrieben, und obwohl Raven die ausdrückliche Aufgabe hatte, in jeden Karton hineinzusehen, blickte sie sich verstohlen um, bevor sie den Deckel öffnete. Sie fühlte sich nicht befugt, diesen speziellen Karton durchzusehen, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Denn »Celik« lautete auch Birols Nachname, und wenn Raven das richtig verstanden hatte, war sein Vater vor Kurzem gestorben. Außerdem hatte sich Martha im Gardens nach einem gewissen Can Celik erkundigt. War das hier etwa seine Kiste? Was sie ebenfalls irritierte, war die Tatsache, dass der Karton auf sie irgendwie versteckt gewirkt hatte. Doch er war sicher einfach nur durch eine Unachtsamkeit dorthin geraten.
Es war zwar irgendwie albern, aber ihr Herz klopfte beim Öffnen des Deckels sehr viel schneller, als hätte sie Angst, beim Schnüffeln erwischt zu werden. Vorsichtig stellte sie die Kiste auf den Boden und kniete sich davor.
Obenauf lag eine Uniform, wie sie alle im Käfig trugen. Schwarz, funktional und mit ein paar Kennzeichen darauf. Dienstnummer, die Kennnummer für die Dienststelle und der Dienstgrad, dann noch der Code mit sämtlichen Informationen zum Abscannen. Ein Gürtel mit diversen Vorrichtungen. Holster für die Dienstwaffe und den Schlagstock, Halterung für das Tablet, Brustgurt für die Einsatzkamera. Erst als Raven das obere Teil der Uniform aus der Kiste zog, bemerkte sie das Loch, das genau in Brusthöhe saß. Auf dem schwarzen Stoff war es vorher nicht zu erkennen gewesen. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern um das Loch herum und fühlte getrocknetes Blut.
Unter dem Hemd lag ein laminierter Dienstausweis, den jeder brauchte, um in den Käfig hineinzukommen, falls das Erkennungssystem, das den Fingerabdruck scannte, ausgefallen war. Was, wie man ihr erzählt hatte, gar nicht so selten vorkam.
Raven musste schlucken, als sie den Mann sah, der ihr ernst und entschlossen vom Foto entgegenblickte. Can Celik, der Mann, zu dem der Ausweis gehört hatte, war eindeutig eng mit Birol verwandt. Die Ähnlichkeit verschlug einem fast den Atem.
Ob Birol diese Kiste schon einmal gesehen hatte? Hatte er, so wie sie jetzt, das Hemd mit dem Einschussloch betrachtet? Bei dem Gedanken übermannte sie eine schwere Traurigkeit, die sie ganz und gar nicht haben wollte. Was war denn nur mit ihr los? Menschen starben nun mal, das war nichts Neues.
Leicht verärgert legte sie den Ausweis zur Seite und nahm die Hose sowie ein verschlossenes Tütchen mit einer Patronenhülse aus der Kiste. Zunächst schien es, als sei darunter nichts mehr zu finden, doch kurz bevor Raven alles wieder zurückräumen wollte, fiel ihr auf, dass die eine Bodenlasche des Pappkartons etwas höher stand als die andere. Da hatte sich wohl etwas verhakt.
Vorsichtig, um den Karton nicht kaputt zu machen, schob sie Daumen und Zeigefinger unter die Lasche und bekam die Kante von etwas Hartem zu greifen.
Zum Glück hatte sie so zarte Finger und noch dazu große Erfahrung mit Feinarbeit. Mit viel Geduld und kleinen Bewegungen gelang es ihr, einen sehr flachen, weißen Gegenstand unter der Lasche hervorzuziehen.
Raven staunte nicht schlecht, als sie feststellte, dass es sich bei dem Ding um eine Art Tablet handelte. Aber ein Tablet, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Es war kleiner als die Geräte, die mittlerweile überall im Einsatz waren. Nur etwas größer als ihre Handfläche. Auch das Design sagte ihr nichts. Um den schwarzen Bildschirm zog sich ein schmaler blauer Rand, der Markenname lautete »The Ark«. Hm. Vielleicht ein ausländisches Produkt?
Doch selbst die Tablets aus Asien oder Lateinamerika waren des Öfteren auf dem Schwarzmarkt des Gardens zu finden. Ausländische Geräte waren unter Händlern und Käufern sogar besonders beliebt, weil sie leichter zu manipulieren waren als die in Europa zugelassenen. Doch so ein Ding hier hatte Raven noch nie gesehen. Und von der Firma hatte sie auch noch nichts gehört.
Sie zog ihr Telefon hervor, um zu schauen, ob sie irgendetwas über das Fabrikat herausfinden konnte, doch das Gerät ließ sie im Stich. Hier unten im Keller gab es keinen Empfang. Sie schnaubte. Dass es überhaupt einen Ort in Altberlin Mitte gab, an dem man keinen Empfang hatte, war ein Skandal für sich.
In Neuberlin gab es vermutlich keine Orte, an denen man keinen Empfang hatte.
Vorsichtig drehte sie das Tablet zwischen ihren Fingern. Es war exzellent verarbeitet, hatte eine Metallhülle, soweit sie das feststellen konnte, und die Bauteile waren allesamt passgenau aufeinander abgestimmt. Das Ding war wirklich hübsch. Schnittig und futuristisch, wie aus einem Film.
Ihre Finger fuhren jede Kante entlang auf der Suche nach einem Knopf zum Anschalten, doch da war nichts.
Eigentlich ging dieses Tablet sie überhaupt nichts an. Sie hatte kein Recht, sich damit zu beschäftigen, doch etwas an dem Gerät verlockte sie.
Raven ließ ihren Blick über die Liste schweifen, die wie bei jeder Kiste an der Innenseite des Deckels angebracht war und den Inhalt aufzählte. Das Gerät war nicht aufgeführt. Entweder es war schon vorher irgendwie unter die Lasche gerutscht und hatte mit den restlichen Asservaten überhaupt nichts zu tun, oder derjenige, der die Kiste eingeräumt hatte, hatte das Gerät bewusst verheimlicht, es aber nicht mitgenommen. Ob das auch der Grund war, warum sie etwas weiter hinten gestanden hatte? Ravens Kopfhaut prickelte. Obwohl sie wusste, dass es besser wäre, sich rauszuhalten aus was auch immer, konnte sie sich nicht dazu bringen, das Gerät zurückzulegen und den Deckel zu schließen. Sie konnte es nicht einfach hierlassen. Wie versteinert saß sie da, starrte The Ark an, während in ihrem Kopf zwei Gedanken miteinander rangen. Hierlassen oder mitnehmen?
Dann erklangen Schritte etwas weiter vorne zwischen den Gängen, und Raven hörte Marthas Stimme.
»Raven?«
Raven schüttelte irritiert den Kopf. Musste Martha ihr eigentlich auf Schritt und Tritt folgen? Hatte die kein eigenes Leben?
Ohne dass sie sich wirklich dazu entschloss, glitt Ravens Hand mit dem Tablet unter ihr T-Shirt. Sie schob sich das Gerät in den Hosenbund und ließ ihr Shirt wieder fallen. Weil sie so schmal und schlaksig war, fiel das Tablet gar nicht auf.
»Ich bin hier!«, rief sie, und kurz darauf bog Martha um die Ecke.