Irgendwann hatte sie nicht mehr gewusst, wohin mit sich, und war Raven in die Asservatenkammer gefolgt. Birol war seit einer halben Ewigkeit verschwunden, und davor hatte er sich sehr merkwürdig benommen. Fahrig, nicht ganz bei sich. Als wäre irgendwas passiert. Laura machte sich Sorgen. Hatte es vielleicht etwas mit ihr zu tun? Zog er sich zurück, weil er sich von ihr bedrängt fühlte?
Wie auch immer, es war zu früh, um schon nach Hause gehen zu können, und irgendwie war sie noch immer zu aufgepeitscht, um sich überhaupt vorzustellen, alleine in der kleinen Wohnung in Pankow zu hocken. Außerdem hoffte sie, in der Asservatenkammer vielleicht irgendeinen Hinweis darauf finden zu können, was mit Birols Vater geschehen war.
Zu ihrer großen Überraschung war sie offenbar nicht die Einzige, der dieser Gedanke gekommen war. Als sie zu Raven stieß, hockte diese über einer geöffneten Kiste, auf der der Name »Celik« stand. Was interessierte sie das denn jetzt auf einmal?
»Hey!«, begrüßte Laura sie, und Raven blickte hoch. Wieder fiel es Laura schwer, bei dem Anblick nicht zusammenzuzucken. Raven war ganz schön zugerichtet, ihr Gesicht glich einer Landkarte in Rot, Grün
und Blau. In den paar Stunden, die sie hier unten war, war alles noch mal ordentlich nachgedunkelt. Vielleicht war das aber auch nur das Licht, das im Keller herrschte. Raven lächelte schief.
»Hey!«
»Was machst du denn da?«
Raven zuckte die Schultern und deutete auf die Kiste.
»Ich soll die Asservate durchsehen und schauen, ob alle Tüten und Kisten richtig beschriftet und verschlossen sind. Da bin ich auf das hier gestoßen.« Sie fischte in der Kiste herum und zog einen Polizeiausweis hervor. »Schau mal, der sieht doch aus wie Birol!«
Laura kniete sich neben Raven und nahm das Dokument vorsichtig in die Finger. Das war er also, der Mann, den zu suchen sie nach Berlin gekommen war. Dessen Geschichte irgendwie mit Fennes und ihrer verwoben war, ohne dass sie wusste, wie und weshalb.
Sie schluckte trocken, dann nickte sie. »Ja, er wurde auf einem Einsatz erschossen. Birol hat es mir erzählt.«
Ein leichtes Lächeln huschte über Ravens Gesicht. »Ihr beide also, ja?«
Laura fühlte, wie sie rot wurde. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
Raven schüttelte amüsiert den Kopf. »Du bist eine schreckliche Lügnerin.«
Warum sagte sie das nur immer? Laura kniff die Lippen zusammen. Ob Raven recht hatte und man ihr immer alles ansah? Fenne hatte auch immer gewusst, wenn Laura log, doch das war etwas anderes. Die beiden hatten sich von Kindheit an gekannt.
»Vielleicht bist du ja auch nur so gut darin, Lügen zu erkennen, weil du mit so vielen Lügnern zu tun hast«, schoss Laura zurück, und Raven lachte auf.
»Also gibst du es zu?«, fragte sie neckisch.
»Was?«
»Dass da was läuft zwischen Birol und dir!«
Mist.
»Das werde ich ganz sicher nicht.«
Raven zuckte die Schultern. »Ist mir auch eigentlich egal. Fangt nur nicht an, vor mir herumzuturteln.«
Sie begann, die Kleidung von Can Celik vorsichtig wieder zurück in die Kiste zu räumen. Laura reckte den Kopf, um vorher hineinzuschauen, doch der Karton war ansonsten leer. Sie zeigte auf die Uniform, den Ausweis und die Patronenhülse.
»Sonst ist da nichts drin?«
Raven schüttelte den Kopf und hielt ihr den Pappdeckel hin, auf dessen Innenseite die Inhaltsliste klebte. Tatsächlich. »Keine Fasern. Gar nichts sonst«, murmelte sie nachdenklich. »Hat denn da keiner ermittelt?«
Raven zuckte die Schultern. »Schräg, oder? Bei einem Kollegen sollte man doch meinen, dass die gründlicher wären als bei irgendeinem Dahergelaufenen mit einem Designersofa, aber ohne Augen.«
Laura nickte nachdenklich. »Sollte man meinen.«
Ihr gefiel das alles nicht. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Nacken aus, als stünde jemand hinter ihr.
Raven hob die Kiste zurück ins Regal und schaute sie dann fragend an.
»Was machst du eigentlich hier unten? Sollst du mich holen kommen?«
Laura schüttelte den Kopf. Mit einem Mal kam sie sich vollkommen blöd vor. Sie hatte sich nicht abgemeldet und niemanden um Erlaubnis gefragt. Wenn Birol wieder auftauchte, würde er sie sicher suchen.
»Nein, ich … ich wollte nur mal nach dir sehen.« Sie lächelte leicht. »Hab mir ein bisschen Sorgen gemacht.«
Raven runzelte skeptisch die Stirn. »Um mich?«
»Natürlich, um wen denn sonst? Du warst gestern ganz schön fertig und außerdem …« Laura gestikulierte hilflos in Richtung Ravens Körper. »Außerdem hat jemand mit einem Schlagstock auf dich eingedroschen.«
Die zarte Frau zuckte wieder die Schultern. Was Laura betraf, so war das Ravens Signature Move.
»Ich bin eine Verbrecherin, schon vergessen? Ich habe nichts anderes verdient. Und wie heißt es außerdem? Unkraut vergeht nicht!«
Sie lächelte freudlos, und das erste Mal, seitdem sie einander begegnet waren, hatte Laura das Gefühl, dass Raven einsam war. Diese unglaublich hellen Augen konnten auch dunkel werden, wenn sie etwas bedrückte.
»Ich halte dich nicht für Unkraut«, sagte Laura leise, und Raven lächelte. Es sah echt aus.
»Das ist gut zu wissen«, antwortete sie.