So wohl sie sich in dem Keller auch fühlte – nach dem Fund und Marthas merkwürdigem kurzen Besuch konnte sie es nicht abwarten, nach Hause zu kommen. Schon eigenartig, dass es bereits der zweite Tag in Folge war, an dem sie etwas verbotenerweise in ihrem Hosenbund schmuggelte. Aber wenn man so knochig war wie Raven, war das nun mal ein ziemlich sicherer Ort. Dort, wo es auf ihrer Haut lag, verspürte sie ein ungeduldiges Kribbeln, fast so, als würde das Gerät sie rufen und auffordern, doch jetzt schon zu verschwinden – zu schwänzen, sich einfach aus dem Staub zu machen. Ein verlockender Gedanke. Auch war sie gar nicht mehr so richtig bei der Sache, und das, obwohl sie ihre Aufgabe zuvor noch interessant gefunden hatte. Raven war ein Mensch, der sich schon alleine aufgrund ihres »Berufs« sehr für Technik interessierte und eigentlich über alle Neuerungen informiert war. Doch so was wie The Ark hatte sie noch nie gesehen. Oder darüber gelesen, und sei es auch nur in den Ankündigungen irgendwelcher kleinen Nischenfirmen. Raven hatte einen Alert für alle technischen Neuigkeiten, eigentlich entging ihr nichts. Wenn das so war, bedeutete es aber im Umkehrschluss, dass sie einen Prototyp im Hosenbund stecken hatte, und alleine dieser Gedanke elektrisierte sie.
Sie wollte unbedingt dieses Tablet zum Laufen bekommen und herausfinden, was es damit auf sich hatte. Außerdem musste sie dringend die Hand des Kämpfers, die sie in der Nacht eingesteckt hatte, richtig konservieren. Sie lag noch bei Spencer im Kühlschrank, da würde sie sich aber nicht mehr allzu lange halten. Allerdings hatte sie schon jetzt das Gefühl, dass sie sich der Hand heute Nacht nicht widmen würde. Ihre Anspannung war einfach zu groß. Sie schämte sich ein bisschen dafür, aber wenn sie dem Mann noch einmal begegnete, könnte sie ihm auch anbieten, gleich eine richtige Prothese einzusetzen. Die war in vielerlei Hinsicht ohnehin praktischer.
Die Minuten wurden unendlich lang und zäh. Sie war nicht richtig bei der Sache und ertappte sich dabei, längere Zeit vor dem Regal zu stehen und einfach nur hineinzuglotzen, ohne irgendetwas zu sehen, während ihre Gedanken rasten. Als Frau Jacobson endlich nach ihr rief, sprang sie derart enthusiastisch auf, dass sie zwei Kartons mit ihrer Schulter aus dem Regal fegte.
»Was hat denn da hinten so gerumpelt?«, fragte Frau Jacobson, als Raven wie ein Geschoss um die letzte Ecke bog.
»Und warum rennst du so?«
»Ich habe noch einen Termin!«, japste Raven, während sie sich einen Gurt ihres Rucksacks schnappte. Sie spürte den gestrigen Tag in allen Knochen, doch auf der anderen Seite konnte sie es nicht erwarten, nach Hause zu kommen.
Ohne sich von Birol oder Martha zu verabschieden, verließ Raven den Käfig und saß wenige Minuten später in einer Bahn, die sie zumindest recht nah an Alt-Lichtenberg heranbringen würde.
Dafür, dass er mit so schrecklichen Gefühlen angefangen hatte, war der Tag doch gar nicht so schlecht gewesen.
Ihre Bahn war leer, und als sie sich sicher und einigermaßen unbeobachtet fühlte, zog sie The Ark unter ihrem Shirt hervor und schob das Gerät mit einer Handbewegung in ihren Rucksack, da ihr die Kanten doch schon ziemlich in die Bauchdecke geschnitten hatten.
Zwar befanden sich in der Bahn außer ihr nur zwei eher obdachlos aussehende Männer, die ans Fenster gelehnt fest schliefen, doch dafür waren die Kameras umso wachsamer. Und wenn es sich bei dem Ding tatsächlich um das handelte, was sie im Verdacht hatte, dann wollte sie nicht, dass es Aufnahmen von ihr damit gab.
Ihr Leben war in den letzten Tagen deutlich gefährlicher geworden als jemals zuvor, das wurde ihr gerade wieder bewusst. Jemand verfolgte Dark, und jetzt hatten Eugene und Mikael auch noch Raven auf dem Kieker. Und nun schleppte sie zu allem Überfluss noch ein Gerät mit sich herum, das sie in der Asservatenkiste eines toten Polizisten gefunden hatte. War sie eigentlich vollkommen bescheuert?
Gut, das war eine rhetorische Frage.
Eigentlich müsste sie heute dringend die Neurotubes entgraten und säubern, sich um die abgetrennte Hand kümmern, die Drucker reinigen, damit sie nicht anfingen zu stinken – sie erhitzten sich beim Drucken ziemlich, und das Gemisch aus Schweinefleisch und Silikon roch nicht gerade nach Rosen –, und ein neu angefangenes Werkstück stand nun schon seit über einer Woche unberührt auf ihrem Werktisch und setzte Staub an, was die feinen Mechanismen auch nicht gerade besser machte.
Normalerweise war Raven nicht so nachlässig, doch was normalerweise war, zählte nicht mehr.
Zu Hause angekommen, hechtete sie direkt in den Fahrstuhl und fuhr ganz nach oben, ohne ihrem Labor auch nur einen kurzen Besuch abzustatten.
Als die Tür hinter ihr zufiel, bemerkte sie, dass sie schon seit Längerem nicht mehr hier drin gewesen war. Die Luft roch abgestanden und muffig, was kein Wunder war. Seitdem ihre Mutter gestorben war, hatte Raven hier drinnen nichts verändert. Sie wusste selbst nicht, wieso. Bei der Kindheit, die sie durchlebt hatte, hätten andere das ganze Zeug wahrscheinlich nicht schnell genug loswerden können. Aber Raven hatte nicht einmal etwas von dem schrecklichen Nippes weggeworfen, den ihre Mutter angehäuft hatte. Und die hatte die Möbel damals schon gebraucht von ihren Eltern bekommen.
Das Zeug war uralt. Nicht im Sinne von Vintage oder Antik, sondern einfach nur im Sinne von ranzig. Die Couchgarnitur, der Wohnzimmerschrank, die Küchenmöbel. Dazu kam, dass auch hier, wie überall im Haus, Teppich auf dem Fußboden lag. Raven dachte lieber nicht darüber nach, wie viele Mitbewohner sie inzwischen wohl hatte.
Aber dafür wurde Raven selten krank, was sie selbst darauf zurückführte, dass sie, seit sie denken konnte, in einer dermaßen verkeimten Wohnung lebte, dass ihre Abwehrkräfte eine Art Superpower entwickelt hatten. Denn eigentlich waren Menschen mit ihrem seltenen Gendefekt eher anfälliger für Krankheiten. Doch Raven war unkaputtbar.
Noch in ihrer Jacke, mitsamt den Schuhen und dem Rucksack auf dem Rücken, begann Raven, in ein paar Kisten zu kramen, die auf der Fensterbank neben dem Esstisch standen, den sie als Werktisch benutzte. Sie zog ein Knäuel Kabel hervor und fluchte über sich selbst, weil sie es nie schaffte, die Ladestationen ordentlich aufzuwickeln. Zwar gab es mittlerweile natürlich massenhaft komplett kabellose Systeme, doch für deren Benutzung waren die uralten Steckdosen in ihrem Gebäudekomplex vollkommen nutzlos. Sie musste sich hier noch auf kabelbasierte Technik verlassen. Sollte ihre Waschmaschine jemals den Geist aufgeben, wäre sie verloren.
Schließlich hatte sie eine der größeren Aufladestationen aus dem Wirrwarr befreit und steckte sie in die nächstbeste Steckdose. Dann zog sie The Ark hervor und legte das Gerät auf das Kontaktfeld. Schon nach wenigen Sekunden leuchtete der Rand um das Display blau auf. Gut, offensichtlich lud das Ding. Nun hieß es erst einmal abwarten. Wahrscheinlich brauchte es, wie die meisten Geräte, etwas länger, wenn es einmal komplett entladen war.
Raven ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, der mit einem lauten Geräusch zu Boden fiel, und schälte sich in derselben Bewegung aus ihren Schuhen und der Lederjacke. Sie ließ die Arme kreisen und rollte den Kopf im Nacken – selten hatte sie sich so steif und ungelenk gefühlt. Als ihr Magen knurrte, fiel ihr auf, dass sie noch nicht wirklich viel gegessen hatte. Hätte ihr Frau Jacobson nicht mit der Stulle ausgeholfen, hätte Raven noch überhaupt nichts im Bauch.
Also schlurfte sie müde in die Küche, um zu sehen, was sich dort noch Essbares finden ließ.
Viel war es nicht, doch wie immer fand sie hinten im Schrank noch ein paar Proteinriegel. Spencer war verrückt nach den Dingern, und Raven ließ sich von ihm immer mal wieder welche aufschwatzen. Sie mochte das Zeug nicht, es schmeckte wie gepresstes Pulver, das vage an Lebensmittel erinnerte, aber wenigstens waren sie unkompliziert zu essen und machten satt.
Sie hatte gerade in der Hoffnung auf ein Getränk, das nicht Wasser war, ihren Kopf in den alten Kühlschrank gesteckt, als ein Geräusch aus dem Wohnzimmer sie zusammenzucken ließ. Es klang, als wäre etwas umgefallen.
Ravens Muskeln spannten sich an. Hatte sie abgeschlossen? Den Code eingegeben, die Kette vorgelegt? Hatte sie nachgesehen, dass niemand ihr gefolgt war? Natürlich nicht. Sie war viel zu fixiert auf das Gerät gewesen, um an all das zu denken.
So leise sie konnte, schloss sie die Kühlschranktür wieder und schob sich auf Socken über den Küchenfußboden bis zum Messerblock, der auf der Arbeitsfläche stand. Sie hatte die Messer seit Jahren nicht mehr benutzt, sodass sie keine Ahnung hatte, wie scharf sie überhaupt noch waren, aber wenn man mit genug Kraft zustieß, war das eigentlich auch schon egal.
Raven zog das größte Messer aus dem Block und fühlte sich sofort besser, als ihre Finger den Griff fest umschlossen. Sie war nicht wehrlos. Sie war kein Kind mehr. Und sie war kein Opfer.
Mit klopfendem Herzen schob sie sich an der Wand entlang in Richtung Küchentür, die direkt ins Wohnzimmer führte.
»Hallo?«, rief plötzlich eine kräftige Männerstimme in die angespannte Stille hinein.
Raven zuckte zusammen und verfluchte sich im nächsten Augenblick dafür. Sie war doch kein Baby mehr, verdammt!
»Hey, warum ist es hier so dunkel?«, rief der Mann nun, und Raven runzelte die Stirn. Was meinte er denn damit? Und was machte er in ihrer Wohnung?
»Scheiße, wo bin ich?«
Sie betrat das Wohnzimmer in der festen Überzeugung, dort einen Mann stehen zu sehen, doch es war niemand im Raum. Alles sah genauso aus, wie sie es verlassen hatte. Mit dem Unterschied, dass das Tablet mitsamt der Aufladestation von der Tischkante gerutscht war und nun in der Luft baumelte.
Raven ließ das Messer ein Stück weit sinken, trat vor und legte das Tablet zurück auf den Tisch.
»Ist da jemand? Ich hör doch irgendwas!«, sagte die Stimme nun, und zu Ravens größtem Erstaunen hörte sie so was wie Unmut oder Ungeduld heraus.
Dabei vibrierte das Tablet. Sie runzelte die Stirn. Die Stimme kam aus dem Gerät!
»Ich … ich bin hier!«, antwortete sie nach einigem Zögern.
»Aha. Na, da bin ich ja sehr beruhigt. Wenn Sie schon nicht die Höflichkeit haben, sich vorzustellen, könnten Sie dann wenigstens das Licht anmachen? Ich fühle mich nicht sehr wohl im Dunkeln.«
Raven legte das Messer auf die Tischplatte und ließ sich schwer auf einen der Stühle fallen. Was war das denn für ein kranker Mist. Hatte sie am Ende einfach nur eine blöde Spielekonsole mitgehen lassen, mit der sich der Polizist Celik manchmal die Zeit vertrieben hatte? Wahrscheinlicher war allerdings, dass es sich um eine Art Kommunikationsgerät handelte. Ein Spiel hätte wohl kaum hören können, dass Raven den Raum betreten hatte.
»Die Lichter brennen im ganzen Zimmer«, sagte sie erschöpft und rieb sich mit der Hand durchs Gesicht. Der Schreck hatte sie mit einem Schlag erst sehr wach und nun schrecklich müde gemacht. »Sie können durch das Ding nur nicht richtig sehen.«
»Was für ein Ding? Was ist hier los? Bin ich in einem Krankenhaus?«
Raven beugte sich vor und begutachtete das Tablet neugierig. Telefonierte da jemand mit ihr, der nicht wusste, dass er telefonierte? Oder war ein Chatprogramm angesprungen, und der Mann wusste nur nicht, wie man die Kamera einschaltete?
Aber wer wusste denn so was nicht?
Sie nahm das Gerät vorsichtig in die Hand und betrachtete es von allen Seiten auf der Suche nach einer Kamera.
Mitten im Gedanken hielt sie inne. Wollte sie überhaupt gesehen werden? Wäre das nicht ziemlich unklug von ihr? Immerhin hatte sie das Teil einfach so mitgehen lassen, und jetzt sprach ein Wildfremder mit ihr. Selbst wenn sie eine Kamera fand, sollte sie diese besser nicht aktivieren. Überhaupt wäre es wohl klüger, das Tablet komplett auszuschalten und erst mal genauer zu untersuchen.
Doch das Problem war: Sie fand auch keinen Knopf, an dem sie es hätte ausschalten können.
Noch während sie nachdachte, was sie am besten tun sollte, wurde mit einem Mal das Display ganz hell. Im nächsten Augenblick tauchte eine Gestalt darin auf.
Vor Schreck ließ Raven das Gerät zu Boden fallen.