Die Tote im Wald
Macy hatte mal wieder Schicht im Paper Moon Café. Es war Unabhängigkeitstag, und eine Flut von Fahnen war über Häuser, Wiesen und Verkehrsinseln geschwemmt. Bevor das Café geöffnet hatte, war die Fahne davor gehisst worden. Dafür war eigens der Inhaber erschienen und hatte das Sternenbanner bedächtig und leise vor sich hinsummend an der Fahnenstange emporgezogen.
Macy hatte den ganzen Vormittag viel zu tun. Als aber Schichtwechsel war und einige Kollegen abgelöst wurden, hatte sie kurz Luft, eine Raucherpause einzulegen. Mit einer hausgemachten Limonade setzte sie sich in den Schatten einer großen Platane. Die feuchte Hitze war kaum zu ertragen. Mit einer Serviette betupfte sie ihren Nacken.
Weißlich wie Schnee bedeckte der Meltau die Kiefern am Waldrand. Macy beobachtete die vorbeifahrenden Autos auf der Interstate, ob ihr ein silberner Dodge mit schwarzen Felgen auffiel – man konnte ja nie wissen.
Aus dem Wald drang Hundegebell. Macy drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf, um nachzusehen, was am Waldrand los war. Ein bellender Greyhound brach aus dem Gebüsch, gefolgt von einem rotgesichtigen Mann, der hohe Gummistiefel und Tarnkleidung trug. Über seiner Schulter hing ein Gewehr mit Zielfernrohr.
»Hilfe«, schrie er keuchend und stolperte über die vertrocknete Wiese. »Polizei!« Er schleppte sich an einen Tisch im Café und klappte auf einem Stuhl zusammen. Macy stürzte zum Wasserhahn, um ihm ein Glas Wasser zu holen.
»Im Wald«, ächzte der Mann, »in einem verdammten Sumpfloch. Da liegt eine Leiche. Eine Frau mit rasiertem Schädel, und sie trägt ein blaues Ballkleid.«
Versteckt unter einem Baldachin aus Brombeerranken, Farnen und Winden, war der Jäger auf eine verweste Frauenleiche gestoßen. An ihren Fußsohlen hatten bereits Tiere genagt, aber ihr Gesicht war erstaunlich gut erhalten. Die Wimperntusche war frisch aufgetragen und noch nicht verschmiert.
Der Jäger hatte die Leiche nur deshalb gefunden, weil sein schlanker Greyhound, der sie gewittert hatte, sich bis ins Unterholz gegraben hatte. Der Hund hatte gebellt und war nicht mehr zu seinem Herrchen zurückgekehrt. Dem Mann war nichts anderes übrig geblieben, als sich zu dem Tier durchzuschlagen. Das hatte sich als schwierig erwiesen, denn er hatte einen Bach überwinden und morastige Wiesen durchqueren müssen. Die Stelle war schwer zugänglich. Der Hund hatte am Fuß des Frauenkörpers gezogen, weswegen einige Zehen am linken Fuß abgefallen waren.
Der Killer hatte seinen Schatz gut verborgen. Er war noch nicht bereit gewesen, die Leiche in einen Straßengraben zu legen und sich damit von ihr zu verabschieden.
Nachdem sie die Polizei informiert hatte, rief Macy beim Columbia Tribune an, um Kevin Bescheid zu geben. Er sollte die Chance für eine Titelstory erhalten.
»Lassen Sie mich durch, ich bin von der Presse«, rief Kevin und kämpfte sich zu der Folie vor, auf der die Leiche lag. Der Korpus war bereits mit einem Leichentuch bedeckt, doch Macy hatte die Frau noch gesehen, die sie aus dem schwer zugänglichen Waldstück geborgen hatten. Obwohl ihm sofort zwei bullige Officer entgegentraten, versuchte Kevin, einige Fotos von der abgedeckten Frau zu schießen.
Macy, deren Schicht gerade zu Ende gegangen war, aß eine Kugel Vanilleeis mit Maraschino-Kirschen und beobachtete Kevin bei seinen Bemühungen, an Informationen zu gelangen.
Verschwitzt setzte er sich an ihren Tisch. Obwohl seine Haut bleich war, glühten seine Backen vor Eifer.
»Großartig, dass du mich informiert hast.« Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. Macy musste sich zusammenreißen, um ihn nicht sofort abzuschütteln.
»Hat man schon einen Namen?« Hastig rollte er eine Zigarette. Ein Tabakkrümel blieb wieder an seiner Unterlippe hängen, als er das Papier ableckte.
»Kevin, an deiner Lippe hängt schon wieder Tabak. Du musst lernen, eine Zigarette zu drehen, ohne dich vollzukrümeln.«
Nachdem die Mentholzigaretten schlecht angekommen waren, rollte er jetzt seine Zigaretten selbst. Kevin gab sich alle Mühe mit einer nervösen James-Dean-Imitation, obwohl offensichtlich war, dass er Zigaretten hasste. Und das alles nur, um lässig zu wirken. Aber rauchend oder nicht – Kevin blieb ein Freak.
»Einen Namen haben sie noch nicht. Die Leiche hatte ein seltsames Kleid an.«
»Warum?«
»Vom Schnitt her würde ich auf die Fünfziger tippen. Es ist ein altmodisches Ballkleid. Und er hat die Frau geschminkt. Waren bei den anderen Opfern auch die Haare abrasiert?«
»Das ist das erste Opfer, dem er die Haare abrasiert hat. Aber wir wissen natürlich nicht, welche Opfer noch auftauchen und wie die aussehen werden. Vielleicht hat er ihr ja eine Perücke aufgesetzt und sie für sich hübsch gemacht?« Kevin klopfte mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Ist dir mal ein silberner Dodge mit schwarzen Felgen aufgefallen? Vielleicht hat der Killer bei euch ein Bier getrunken, bevor er zu seiner Prinzessin in den Wald geschlichen ist. Wem könnte ein silberner Dodge aufgefallen sein?«
»Ich erinnere mich an keinen Dodge, aber ich bin auch nicht jeden Tag hier. Vielleicht kann Nick, unser Barista, weiterhelfen.«
Macy stand auf, um Nick zu fragen, doch auch ihm war kein silberner Dodge aufgefallen. Während er zwei Espressi spendierte, schaltete sich Evy, eine andere Servicekraft, ein. Sie erinnerte sich, dass ein silberner Dodge vor ein paar Wochen in der Nähe liegen geblieben war. Sie hatte dem Fahrer Starthilfe gegeben.
»Wie war er? Wie sah er aus?«, wollte Macy atemlos wissen.
Evy verstand nur langsam, auf was sie hinauswollte.
»Er war sehr freundlich, hübsch, so ein junger Typ. Er hatte Krücken dabei, weil er sich den Fuß gebrochen hatte. Ich sollte ihm auf der Rückbank noch mit einem schweren Koffer helfen, aber ich musste zurück, da so viel im Café los war.«
Nick schnippte mit den Fingern. »War das der Typ, der bei der Jagdhütte liegen geblieben ist, wo du extra mit ihm hingefahren bist? Ich hab dir doch gesagt, dass mit dem was nicht stimmt. Du hast doch Phil mitgenommen, weil du noch nie Starthilfe gegeben hast.«
Evy nickte entsetzt. »Glaubst du, das war der Killer, und Phil hat mir das Leben gerettet? Aber ich bin doch blond!«
Im Übrigen entsprachen ihre Maße aber denen der anderen Opfer. Vielleicht hätte sich der Killer auch in ihrem Fall mit einer Perücke beholfen.
»Ich sollte mit der Polizei reden«, murmelte Evy.
Macy rollte mit ihrer Vespa die Princeton Road hinunter. Vor dem Haus der Erens parkte ein weißer Lieferwagen, auf dem in abblätternden Lettern Lupin Clover from Watsonville stand. Dave und die Hippie-Braut luden gerade ein Motorrad aus dem Laderaum.
Em trug Gummistiefel, Dave weiße Turnschuhe, die mit getrocknetem, rötlichem Schlamm bedeckt waren. Sein Handgelenk war mit einem bräunlich verfärbten Verband verbunden. An seinem Hals waren Kratzer, und auf der Stirn hatte er einen Bluterguss.
»Alles okay?«, fragte Macy schüchtern. »Kann ich euch helfen?«
Dave und Em schraken zusammen, als ob sie gerade bei etwas Verbotenem ertappt worden wären. »Oh Gott, Macy, du darfst dich nicht so anschleichen.«
Macy hatte nicht das Gefühl, dass sie sich angeschlichen hatte. »Brauchst du ein Kühlkissen für deinen Bluterguss?«
»Alles bestens. Em und ich waren bei einem Motocrossrennen. Mich hat’s einmal richtig hingelegt.« Dave lachte laut wie der Weihnachtsmann – nur nicht so herzlich.
Skeptisch betrachtete Macy das Pärchen. Hoffentlich hatten die beiden keinen romantischen Tag zusammen verlebt. Bisher war sie nicht dahintergekommen, ob Dave und Em etwas miteinander hatten oder einfach nur gute Freunde waren. Em suchte zwar immer wieder Körperkontakt zu ihm, er ging aber kaum auf ihre Annäherungsversuche ein.
Dave sprang in den Lieferwagen und schob an dem Motorrad, das sich irgendwie verhakt hatte. Macy konnte einen kurzen Blick ins Wageninnere erhaschen, das mit Matsch und Blut verschmiert war. Ein vollgesogener, blutiger Lappen lag auf einer länglichen Kiste, die fest im Wagen verankert war.
»Woher stammt das Blut?«
»Wir haben jemanden getötet.« Em kicherte wie ein Kobold.
»Das ist nicht witzig, Em«, sagte Dave mit strengem Unterton. »Greg war gestern jagen und hat Wild geschossen. Er hat es gleich im Wagen zerlegt. War eine ziemliche Sauerei. Habt ihr einen Wasserschlauch? Dann könnten wir den Lieferwagen ausspritzen.«
Macy nickte. Bei der Garage gab es einen Wasseranschluss und ein Abflussgitter. »Wenn ihr fertig seid, könnt ihr bei uns reinsetzen. Dann machen wir das Auto sauber.«
»Fantastisch«, rief Em.
Ian saß auf einem der Betonpfeiler ihres Gartentors und erwartete Macy. Er trug eine große Fliegensonnenbrille seiner Mutter. Neben sich hatte er einen roten Ballon gebunden, der mit Gas gefüllt war und in der Luft trudelte.
»Warum sitzt du in der prallen Sonne?«, fragte Macy. »Du holst dir noch einen Sonnenstich.«
Ian zog an dem roten Ballon und sah zu, wie er in der Luft zuckte. »Du, Macy«, meinte er gedehnt. »Ich hab Sehnsucht nach Mommy.«
»Die ist bei Beth.«
»Können wir bei Beth anrufen? Ich vermisse Mommy.«
»Hat Mom noch nicht angerufen, dass sie gut bei Beth angekommen ist?«
Ian schüttelte den Kopf. Er machte sich Sorgen. Es war die Art, wie er seine kleinen Hände in den Hosentaschen vergrub und die Schuhspitze gegen den Betonpfeiler drückte.
»Keine Angst, Kleiner. Wir rufen nachher bei Beth an. Jetzt machen wir zuerst Daves Wagen sauber. Hast du Lust zu helfen?«
Später standen sie zu viert vor dem Lieferwagen. Dave spritzte den Laderaum aus. Eine rot-braune Brühe aus Schlamm und Blut floss in ihren Abfluss. Auch Ian wollte wissen, woher das Blut stammte. Das gefrorene Rehbein, das Dave für ihn aus der Kiste holte, wollte er aber nicht behalten.
Em hatte die ganze Zeit, während sie den Wagen reinigten, einen furchtbaren Lachkrampf. Ian brachte ihr ein Glas Wasser, damit sie sich beruhigte. Aber auch das half nicht wesentlich. Sie kriegte nur einen Schluckauf. Sie machte dann einen Kopfstand gegen die Garagenwand.
Dave nahm Macy zur Seite und flüsterte: »Tut mir leid. Em ist heute total durch. Sie hat so ihre Probleme.« Er tippte gegen seinen Kopf.
Als Dave und Em mit dem Lieferwagen das Grundstück verließen, stand Ian neben Macy, die Arme in die Seite gestemmt. »Diese Em ist eine Hexe«, murmelte er. »Sie ist gefährlich. Nie etwas von der annehmen, Macy, okay?«
»Vielleicht ein vergifteter Apfel? Sollte ich mich vor Äpfeln von Em hüten?«
»Du nimmst mich nicht ernst«, beschwerte sich Ian und schmollte.
Im Wohnzimmer war noch immer der Glastisch verschwunden. Macy fragte sich, ob sie ihren Vater darauf ansprechen sollte, ob er den Tisch weggeräumt hatte.
Er stand in der Küche und kochte Spaghetti, während Will die Soße vorbereitete. Will war damit beschäftigt, Tomaten zu häuten. Die Küche duftete nach Rosmarin und Knoblauch. Im Radio lief What a feeling von Irene Cara, und Ian drehte sich wie ein Kreisel zu dem Song.
»Was habt ihr bei der Garage gemacht?«, wollte ihr Vater wissen.
»Dave geholfen, seinen Wagen zu waschen.«
»Dave Hudgens?«
Macy nickte. »Hat Mom schon angerufen, dass sie gut bei Beth angekommen ist?«
»Nein«, murmelte ihr Vater. »Sie wird sich schon melden. Lasst eurer Mom etwas mehr Freiheit.«
»Ich möchte doch nur wissen, ob alles okay ist. Ist das zu viel verlangt?« Ungeduldig griff Macy zum Telefon und wählte Beths Nummer. Es läutete kurz, dann nahm sie ab.
»Macy, Liebes, wie schön, von dir zu hören«, zwitscherte Beth in den Hörer.
Macy tauschte Höflichkeitsfloskeln mit ihr aus. Dann fragte sie, ob sie ihre Mutter sprechen könne.
»Charlotte? Wie kommst du auf die Idee, dass sie bei mir ist? Ich hab sie seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Macy war so überrascht, dass ihr nicht mehr einfiel, als »Okay und besten Dank« zu murmeln und aufzuhängen.
»Mom ist nicht bei Beth, Dad. Hat sie tatsächlich gesagt, dass sie zu Beth fährt?«
Ihr Vater drehte sich langsam zu ihr um und hüstelte nervös. »Also, vielleicht hab ich sie falsch verstanden.«
»Dad, habt ihr euch mal wieder gestritten, und sie ist einfach abgehauen?«, platzte es aus Macy heraus.
Ihr Vater blickte auf seine Schuhspitzen. »Dann ist eure Mutter eben irgendwo anders. Sie hat zu mir gesagt, sie will zu Beth. Ihr kennt sie doch. Manchmal ändert sie spontan ihre Pläne.«
»Aber Mom ruft immer an, damit wir wissen, wo sie steckt!«
»Aber sie meldet sich nicht immer sofort. Macht euch keine Sorgen. Es gibt keinen Grund, warum sie nicht anrufen sollte. Ich werd jetzt zu Uncle Joe zum Kartenspielen fahren. Er wartet auf mich, bin spät dran.«
Macy schüttelte verständnislos den Kopf. Ihren Vater konnte nichts aus der Ruhe bringen.