Pillen für Charlotte
Macys Nacken schmerzte, als sie auf dem Kellerboden aufwachte. Ihre Glieder knackten wie trockenes Holz im Kamin. Vergangene Nacht hatte sie nicht schlafen können. Zu viel war in ihrem Kopf herumgeschwirrt – der Streit ihrer Mutter mit dem Fremden, Dinge, die aus ihrem Haus verschwunden waren, und dass sich ihre Mutter nicht gemeldet hatte.
Sie war in den Keller gegangen, um Saxofon zu spielen. Die sanften Töne beruhigten sie. Die Musik nahm sie in die Arme und schaukelte sie in den Schlaf.
Macy stolperte die Kellertreppe hinauf, um sich ein Glas Milch aufzuwärmen. Am Frühstückstisch saß Will und blätterte in der neuesten Ausgabe der Sports Illustrated. Ian stand hinter ihm auf Zehenspitzen, biss in ein Honigbrot und versuchte, ebenfalls einen Blick auf die Damen in dem Magazin zu erhaschen.
»Die hat aber einen sehr schönen Bikini an«, piepste Ian mit langen Stielaugen. Er deutete auf eine Frau, die sich halb nackt an einem Strand mit Palmen räkelte.
»Das ist Kim Alexis. Eine sagenhafte Dame«, erklärte Will.
Macy machte in einem Topf Milch warm und rührte einen Löffel Honig unter zur Beruhigung ihrer strapazierten Nerven. »Wo ist Dad?«
»Er hat vorhin angerufen. Ging mit Joe wohl etwas länger. Er hat bei ihm übernachtet und ist von dort heute Morgen ins Büro gefahren.«
Der Columbia Tribune lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Bei der Leiche, die gestern im Wald gefunden worden war, handelte es sich um Melody Cline. Die Polizei hatte die Schlagzeile nicht verhindern können: Columbia ist nicht mehr sicher! Der Kentucky Highway Killer jagt jetzt in South Carolina!
Wie Macy vermutet hatte, hatte das seltsame Ballkleid nicht Melody Cline gehört. Es war ein Modell aus dem Jahr 1946, das aus einem New Yorker Kaufhaus stammte. Es handelte sich um die Hausmarke. Das Kleid musste für den Killer etwas bedeutet haben. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, sich zu melden, wenn sie ein solches Modell schon einmal gesehen hatten.
Das Telefon klingelte, und Macy hob ab.
»Bei Wood.« Das Telefon unter ein Ohr geklemmt, rührte sie in der Milch, damit die nicht überkochte.
»Dr. Siam Paw. Ist Charlotte Wood zu sprechen?«
»Nein, meine Mutter ist für ein paar Tage verreist.«
»Es geht um Medikamente, die ich für Mrs. Wood bestellt habe. Sie können abgeholt werden.«
»Das kann ich erledigen. Wo liegt Ihre Praxis?« Macy überlegte. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter in medizinischer Behandlung war, und von einem Dr. Siam Paw hatte sie auch noch nie etwas gehört.
»Sie finden mich bei den Children of Ra im Sesquicentennial State Park.« Er nannte ihr noch die Öffnungszeiten der Praxis.
Macy kannte die Children of Ra. Das war eine Kommune, ein Relikt aus der Hippiezeit. Hier lebten Althippies, die auf ihrem Blumentrip hängen geblieben waren, lange Haare und Bärte hatten, Jesussandalen trugen, billig Gras vertickten und überzeugt gegen den Bewusstseinsstrom der Gesellschaft paddelten.
Die Kommune war geschäftstüchtig und betrieb ein Yogazentrum, Naturheilkunde, Musikräume und auch Künstlerateliers. Als kleines Mädchen hatte Macy hier Malunterricht genommen. Bei dieser Erinnerung stieg sofort der intensive Geruch nach Pastellkreiden, Ringelblumencreme und Koriander in ihre Nase. Ihr Unterricht hatte darin bestanden, aus Blumen Farben herzustellen und Gefühlsbilder für den Weltfrieden zu malen, die die geschäftstüchtige Hippiefrau in einer Galerie in New York wahrscheinlich für einen sehr guten Preis vertickt hatte. Irgendwann war Macy das Gekleckse und esoterische Gemurmel zu viel geworden. Und da ihre Mutter sie ohnehin nur zu der Malerin gesteckt hatte, um ihre Tochter für einige Zeit aus dem Haus zu haben, war es für Macy ein Leichtes gewesen, die Malerei gegen Saxofonunterricht einzutauschen.
»Wer war das?«, fragte Will.
»Ein Dr. Siam Paw. Mom ist bei ihm in Behandlung. Kennst du ihn?«
Will sah sie entgeistert an und zuckte mit den Schultern. Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde sie die Medikamente ihrer Mutter abholen.
Macy nahm die Milch vom Herd und goss sie in einen Keramikbecher. Beim ersten Schluck verbrannte sie sich die Zunge. Ihr Blick schweifte aus dem Küchenfenster. Der Thymian in dem Terrakotta-Topf auf der Fensterbank war mit Spinnweben überzogen. Sie fragte sich, wie lange er dort schon mumifiziert stand. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Haushälterin Christine dort hingestellt, und seitdem sie beurlaubt war, hatte sich niemand mehr um die Pflanze gekümmert.
Macy wollte bei den Erens klingeln und Dave fragen, ob er mit ihr ins Kino gehen oder vielleicht einen Milchshake trinken wollte. Oder nur eine Coke bei der Rollschuhbahn. Das war vielleicht doch zu kindlich. Hunderte Male hatte sie vor dem Badezimmerspiegel geübt, aber vorbereitet fühlte sie sich noch immer nicht. Wahrscheinlich würde sie eine jämmerliche Figur abgeben.
Sie stand hinter einem Liguster versteckt und spielte die unterschiedlichen Fragen durch, als sich die Haustür des Bungalows der Erens öffnete und Dave mit Em herauskam. Instinktiv duckte sich Macy noch tiefer in den Liguster hinein.
Dave trug einen Leinensack, Em nahm den Spaten, der neben der Tür lehnte.
Jetzt passte es natürlich nicht, Dave nach einem Date zu fragen. Sie war aber zu neugierig, um die beiden einfach weglaufen zu lassen. Sie diskutierten kurz. Dann setzten sie sich auf Daves Rikuo und fuhren davon. Macy beeilte sich, ihnen auf ihrer Vespa zu folgen. Wenn nicht die Ampel an der Harbour Street auf Rot geschaltet hätte, hätte sie die zwei nicht mehr eingeholt.
Dave und Em machten halt zum Tanken und kauften Softeis. Erleichtert stellte Macy fest, dass sie sich weder berührten noch küssten. Dave schien eher genervt von Em zu sein.
Als Low Arcadia in Sichtweite kam, vermutete Macy, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Wahrscheinlich planten Dave und Em, ihren Leinensack dort zu vergraben. Sie fragte sich nur, warum. Sie wollte ihnen folgen und später den Sack wieder ausgraben, um zu erfahren, was die beiden versteckt hatten. Macy dachte an Drogen, oder sie erpressten jemanden, oder es war für jemanden gedacht, der den Sack erwartete – ein toter Briefkasten.
Low Arcadia war brachliegendes Bauland, bei dem sich ein Spekulant verhoben hatte. Da es sich um sumpfiges Land handelte, waren alle Bauvorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Vereinzelte Bauruinen zeugten noch davon. Das Gebiet war an die zehn Morgen groß, verwildert und unübersichtlich.
Dave und Em nahmen einen schmalen Trampelpfad, der zwischen verbogenem Maschendrahtzaun direkt ins Herz von Low Arcadia führte.
Es war ein seltsames Paradies, das mehr als nur einen Sündenfall erlebt hatte. Nachts war das Gebüsch von Junkies verseucht, und auch am Tag war es hier nicht unbedingt sicher. Manchmal jagten Rabauken Frettchen durchs Unterholz. Ein Irrer hatte mal Dosen gesprengt, aber der war in einer Nervenklinik, und die dunklen Flecken, die er bei einem Eibengehölz hinterlassen hatte, waren in kürzester Zeit zugewuchert.
Macy liebte den Duft des verwilderten Brachlands. Eine üppige Vielfalt an Blumen wuchs zwischen Kiefern und Ahornbäumen. Gartenabfälle hatten Nutzpflanzen in die Wildnis getragen. Zwischen Palmennestern, Brombeerranken und Brennnesseln wuchsen Pfefferminze, kleine Pfirsichbäume mit knubbeligen Früchten, Tomaten, Glockenblumen und violett blühende Lilien.
Dave und Em brachen schnell durch das Gestrüpp. Sie waren einsilbig, ihre Anspannung wuchs merklich, und wenn sie mal etwas sagten, gifteten sie sich an.
Macy musste Abstand halten, damit sie nicht auffiel. Bei jedem Schritt konnte sie ein Knacken verraten. Als sie etwas zu lange hinter Fliedersträuchern gewartet hatte, hatte sie Daves und Ems Spur verloren. Der Vorhang aus Eschen, Jasmin- und Hartriegelsträuchern hatte sich zu schnell geschlossen. Es lag nur noch ein feiner Zigarettenrauch in der Luft. Die beiden würde sie nicht mehr wiederfinden.
Macy stieg auf einen Felsbrocken, um sich einen Überblick zu verschaffen, wo sie war. Am Horizont stand ein alter Wasserturm, an dem sie sich orientieren konnte. Sie wusste ungefähr, wo sie dann rauskommen würde. Sie musste nur den Entwässerungsgraben finden, der noch aus der Urbanisierung von Low Arcadia stammte. Die Entwässerungsgräben führten alle zum Wasserturm.
Bevor Macy ihren Weg fortsetzte, lauschte sie, ob irgendwo etwas verdächtig raschelte. Sie hatte keine Lust, einem Junkie in die Arme zu laufen. Die Einsamkeit dieser unheimlichen Wildnis brannte in ihrem Rücken. Sie fühlte sich beobachtet, auch wenn das nur ein Streifenhörnchen in einem Haselnussstrauch oder ein großer Mistkäfer war.
Macy folgte einem ausgetrockneten Trampelpfad, der sie zwar zu keinem Entwässerungsgraben, aber einer großen Buche führte, deren Rinde von Liebesschwüren zerkratzt war. Macy ging um den gewaltigen Baum herum. Es juckte in ihren Fingern. Sie suchte einen spitzen Stein und begann, an einer Stelle die Rinde des Baums abzuschaben, um ein Herz mit einem D + M hineinzuritzen. Wenn es an diesem Baum stand, würde es irgendwann wahr werden. Sie und Dave gehörten zusammen.
»Rescue me take me in your arms. Rescue me I want your tender charm«, summte Macy. Ein fabelhafter Song von Fontella Bass. Klebriges Harz quoll aus der verletzten Rinde.
Unter einem bemoosten Steinhaufen gegenüber der Buche raschelte es auffällig. Das Moos war hellgrün, was auf Wasser hindeutete.
Mokassinschlangen liebten Feuchtigkeit.
Ihre Hände klebten vom Baumharz. Immer wieder rutschte sie mit der Spitze des Steins ab. Harz vermischte sich mit Blut, als sie ihren Daumen mit dem Stein traf und Blut unter dem gesplitterten Nagel hervorquoll.
Dave. Sie wollte so gerne seine Freundin sein. Sie wollte seine Zunge in ihrem Mund spüren und von seinen großen Händen angefasst werden. Seufzend saugte Macy an ihrem ramponierten Daumen. Das Harz schmeckte bitter, und die Schleimhaut in ihrem Mund zog sich zusammen.
Sie saß noch immer gedankenversunken unter dem Baum, als sich das Gebüsch bewegte. Jemand näherte sich. Macy sprang auf, um vorbereitet zu sein. Panisch stellte sie sich einen ausgemergelten Junkie, Halbstarke, die sie vergewaltigen würden, oder sogar den Killer vor – für sie war er noch immer ein schwitzender Perversling und kein charmanter Typ, wie ihn Evy beschrieben hatte. Aber es war nur Greg, Daves Bekannter, der in hohen Gummistiefeln durchs Gras pflügte. Überrascht hob er die Augenbrauen, als er Macy bemerkte.
Greg hatte einen Schlangenstab, einen Ast mit Gabelung, in der Hand und einen Leinensack geschultert, aus dem es bösartig zischte. Der Stoffbeutel war sehr lebendig.
»Die Kleine mit dem Albino-Frettchen im Garten!«, rief Greg. »Bist du mit Dave und Em gekommen? Die wollte ich hier treffen.«
Der Sack, den er auf den Boden gestellt hatte, machte fast einen Sprung. Fluchend trat Greg nach ihm. »Elendes Gewürm. Was machst du hier?«
Macy begann zu schwitzen. Auf die Schnelle fiel ihr keine glaubwürdige Ausrede ein. Daher zuckte sie harmlos grinsend mit den Schultern. »Und du?«
»Ich fange Schlangen für die Pfingstkirche. Miles Johnson hat Klapperschlangen bei mir bestellt. Der will es wieder wissen.« Greg kratzte sich an der Brust. Er schwitzte stark. »Du musst vorsichtig sein. Ist dir bewusst, dass du neben einem Mokassinschlangennest sitzt?« Greg deutete mit seinem Stock auf den bemoosten Stein. Panisch sprang Macy auf. »Der Biss einer Mokassinschlange ist wie Lepra. Das Gift frisst dein Gewebe auf. Kann ich nicht empfehlen.«
Greg zog sein T-Shirt hoch, und zum Vorschein kam eine unschöne Narbe. Das Gewebe um den Biss war gräulich verfärbt.
»Ich hätte Lust, ein paar Schlangen zu erschlagen. Johnson hat keine Mokassinottern bestellt, aber die Stadtverwaltung zahlt fünf Dollar pro erlegter Schlange. Könntest du etwas zur Seite gehen?«
Zögernd entfernte sich Macy ein paar Schritte. Greg rieb sich die Hände, dann rollte er einige Steine weg. Darunter befand sich ein Schlangenknäuel. Macy unterdrückte einen panischen Aufschrei.
»Kommt, ihr Süßen«, lockte Greg und hieb mit seinem Stock in den Haufen. Ein böses Zischen erhob sich, Blut quoll aus sich windenden Schlangenleibern, die Greg erwischt hatte. Plötzlich fuhr ein riesiger Schlangenkopf in seine Richtung. Das Maul der Schlange war geöffnet, und die Giftzähne glänzten im Sonnenschein. Greg hieb der Schlange zwischen die schwarzen Augen. Ein weiteres Tier tanzte unter dem Stein hervor.
Auf Gregs Stirn schimmerte bald Schweiß, und er hatte Mühe, der Überzahl an Schlangen Herr zu werden. Ein dickes Exemplar war ihm entglitten und bewegte sich nun auf Macy zu.
»Greg«, schrie sie ängstlich, aber er war damit beschäftigt, sich selbst die Reptilien vom Leib zu halten.
»Nimm einen verdammten Stock und schlag nach dem Viehzeug«, schrie er.
»Scheiße, was ist denn das für ein Chaos?« Dave und Em tauchten auf. Dave entriss Em den Spaten und begann wie ein Berserker, auf die Schlangen einzudreschen. Blut spritzte nach allen Seiten. Ein beißender Geruch breitete sich aus.
Als Macy die Augen wieder öffnete, lag vor ihr ein unübersichtliches, blutüberströmtes, teils noch zuckendes Gewirr an Schuppen und Gedärm. Greg klaubte aus dem Matsch Schlangenleiber, die man noch als ein Exemplar erkennen konnte.
»Dave, das nächste Mal nicht so heftig prügeln. Für Schlangenmatsch zahlt die Stadtverwaltung keine fünf Dollar«, brummte er. »Könnte ja alles Mögliche sein.«
»Dave hat dich gerettet, Greg. Du wärst nie mit all diesen Schlangen fertiggeworden«, fauchte Em.
»Verrätst du mir, was das soll? Wie kommt Macy hierher?« Dave warf ihr einen durchdringenden Blick zu.
Er und Em waren den Leinensack losgeworden.
»Macy war vor mir hier«, verteidigte sich Greg.
»Ich wollte Himbeeren pflücken.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
»Ihr spinnt doch alle.« Dave schüttelte den Kopf.
Um acht sollte Macy bei Shailene sein. Sie wollten ins Mickey’s zum Tanzen gehen. Nach langem Überlegen entschied sie sich für ein violettes Kleid mit Blumenmuster. Sie suchte nach dem Ring ihrer Großmutter, fand ihn aber nicht. Nachdem sie hektisch die Schale auf der Kommode mit ihrem Schmuck durchsucht und auch unter der Kommode nachgesehen hatte, wo nur eine vertrocknete Mandarine und eines von Ians Matchbox-Autos gelegen hatten, gab sie frustriert auf. Macy hoffte, dass sich ihr Ring nicht zu den in ihrem Haus verschwundenen Dingen einreihen würde.
Kurz durchwühlte sie auch die Schmuckschatulle ihrer Mutter. Sie suchte nach den goldenen indischen Ohrgehängen, die sie schon immer hatte tragen wollen. Ihre Mutter hatte ihr die Ohrringe aber nicht geliehen, dieses raffgierige, alte Weib. Da sie nicht da war, schien die Situation günstig. Aber auch die Ohrgehänge entdeckte sie nicht. Ihre Mutter trug sie wahrscheinlich gerade selbst.
»Was hast du denn an?«, rief Shailene entsetzt, als sie ihrer Freundin die Tür öffnete. Dabei hatte sich Macy so viel Mühe gegeben. War das Kleid nicht vintage?
Shailene hingegen sah mal wieder spitze aus. Sie trug ein eng anliegendes, goldenes Kleid und hatte ihre Haare hochgesteckt.
»Das müssen wir ändern.« Shailene zerrte Macy in ihr Zimmer. »Runter mit diesem Scheusal!«, kommandierte sie und öffnete den Reißverschluss des Kleides.
Bevor Macy sich wehren konnte, war das Kleid auch schon unten. Sie konnte gerade noch ihren Schlüpfer festhalten, damit der nicht auch zu Boden segelte. Dabei kam das Dave auf ihrem Unterleib zum Vorschein. Shailene kannte die Tätowierung nicht und machte ein dementsprechend schockiertes Gesicht. Macy hatte sie all die Monate vor ihr verbergen können. Eigentlich schämte sie sich mittlerweile selbst für das Gekrakel.
»Bist du übergeschnappt?« Fassungslos starrte Shailene das verrutschte Dave an. »Das hast du dir nicht selbst gestochen?« Ruppig riss sie ihren Kleiderschrank auf. »Ich bin deine Freundin!«, schnaubte sie vorwurfsvoll in den Schrank hinein.
Macy fand, dass sich Shailene nicht so anstellen sollte. Auch sie hatte mittlerweile ihre Geheimnisse, die sie nicht mehr mit Macy teilen wollte.
Shailene zerrte einen kurzen, lachsfarbenen Rock und ein schwarzes T-Shirt heraus. »Zieh das an, damit ich mich nicht für dich schämen muss.«
Nachdem Shailene Screwdrivers mit klebrigen Maraschino-Kirschen gemixt hatte, hob sich ihre Laune wieder. Kichernd saßen sie im Wohnzimmer und hofften, dass Shailenes Vater nicht zu früh nach Hause kommen und entdecken würde, dass sie sich an seinem Alkoholvorrat bedient hatten.
Im Mickey’s herrschte eine Bombenstimmung, und Macy und Shailene tanzten, als gäbe es kein Morgen. Ihre Körper zuckten spastisch durch den vom Stroboskoplicht zerschnittenen Raum. Es roch nach Schweiß, aber auch süßlich nach den Mimosen, die vor dem Club blühten und deren Duft durch die Klimaanlage ins Clubinnere geschaufelt wurde. Die Musik wechselte von peitschenden Beats zu gluckernden Vibes, unterlegt von gedämpften Dschungellauten.
Nachdem sie schon einige Stunden getanzt hatten, brauchte Macy eine Pause. Shailene war da anders. Sie konnte die Nächte durchtanzen. Die Menge hatte ihre Freundin von ihr weggeschwemmt. Hin und wieder sah Macy das goldene Kleid unter den Tanzenden aufblitzen.
Macy verließ den Club, um eine Zigarette zu rauchen. Immer wieder musste sie an die zermatschten Schlangenleiber denken.
Die Nachtluft war schwül und voller aufdringlicher Gerüche. In ihrem Rücken wummerte der Club. Sie stupste einen Falter an, dessen Flügel verklebt auf einem Mauervorsprung lagen. Es sah aus, als ob der Flattermann verschluckt und dann wieder ausgespuckt worden war. Macy starrte den Falter an – genau so fühlte sie sich.
Gegenüber dem Club lag das Hotel La Stanza. Es war ein Grandhotel aus der Jahrhundertwende, das nur noch einen Hauch von mondänem Luxus verströmte. Ein silberner Jaguar E-Typ fuhr vor. Ein Mann stieg aus.
Er drehte sich in Richtung des Clubs. Aufgeregt stellte Macy fest, dass gerade der narbengesichtige Fremde zu ihr sah, mit dem ihre Mutter vor ein paar Tagen gestritten hatte. Er konnte sie aber unmöglich gesehen haben, da sie im Schatten einer Seitenstraße stand.
Sie wartete, bis er im Hotel verschwunden war. Dann zählte sie von zehn runter und hastete über die Straße.
Ein ausladender Kronleuchter erhellte die angenehm klimatisierte Lobby, die mit einem roten Teppich ausgelegt war, der alle Geräusche schluckte und zu spiegelnden Aufzügen führte. Üppige Blumengestecke verströmten einen verführerischen Duft – Sandjasmin, gefüllte Rosenköpfe, weißer Flieder und Schopflavendel.
Macy ging zum Empfang, wo ein gelangweilter Portier eine Tageszeitung durchblätterte. Skeptisch musterte er sie von Kopf bis Fuß. Natürlich machte sie keinen guten Eindruck, verschwitzt, wie sie war. Shailene würde eine solche Situation mit ihrem bezaubernden Lächeln retten, doch Macy musste feststellen, dass ihr die Gesichtszüge clownesk entglitten, als sie zu lächeln versuchte. Sie war einfach nicht entspannt.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte der Portier ungehalten.
»Welche Zimmernummer hat der Herr, dessen Wagen vor dem Hotel parkt? Er ist ein Freund meiner Mutter, und ich würde ihn gerne besuchen.«
Der Portier sah zuerst vorwurfsvoll auf seine Armbanduhr, bevor er Macy antwortete. »Sie meinen Mr. Gennarone? Der ist gerade auf sein Zimmer und möchte nicht gestört werden. Ich bin untröstlich, aber Sie müssen morgen wiederkommen. Mr. Gennarone nimmt gewöhnlich sein Frühstück gegen neun Uhr im großen Salon ein. Da werden Sie ihn erreichen.«
Gennarone. Jetzt hatte sie einen Namen. Triumphierend ballte sie ihre Faust. Da würde ihre Mutter ein überraschtes Gesicht machen, wenn Macy ihr diesen Namen an den Kopf werfen würde. Gut möglich, dass sie Charlotte damit unter Druck setzen konnte.
Erschöpft vom Mickey’s, stolperte Macy nach Hause. Shailene tanzte noch immer, aber ihr waren die Beine schwer geworden.
Quietschend schwang das Gartentor auf. Mehr schlafend als wach ging sie den Kiesweg entlang, der zum Haus führte. Nacktschnecken krochen über den Kies. Sie musste aufpassen, dass sie nicht auf einer ausrutschte.
Ein Kratzen bei der Garage machte sie stutzig. Sie überlegte, ob eine Katze ihre Krallen an dem Tor wetzte, doch sie konnte kein struppiges Tier im Halbschatten erkennen, sondern nur eine kleine Gestalt, die vor dem Tor stand und mit den Fingernägeln über das Holz fuhr. Das schabende Geräusch jagte ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Es war kein Tier, sondern ein Kind. Macy erschrak so sehr, dass sie sich erst nicht zu der Gestalt traute, bis sie erkannte, dass es ihr Bruder Ian war.
»Ian?«, rief sie entsetzt. »Du tust dir weh.« Sämtliche Fingernägel würden ihm abbrechen, ganz zu schweigen von den Spreißeln, die er sich ins Nagelbett ziehen würde.
Doch Ian reagierte nicht. Er war wie in Trance. Er schlafwandelte. Sein Kopf war eigenartig zur Seite geneigt, als ob er nur noch an einem Fädchen hing und jeden Moment abreißen konnte.
Erst als Macy ihn in die Seite zwickte, wachte er auf und sah sie benommen an. »Warum bin ich nicht in meinem Bett?« Sein Blick war verständnislos.
»Du bist schlafgewandelt. Was hast du geträumt?«
Ian sah zuerst seine Hände, dann sie seltsam an. Sein Blick ging an Macy vorbei, als er murmelte: »Ich erinnere mich nicht mehr. Ich will zurück in mein Bett.«