Donnerstag, 7. Juli 1983

Verräterische Blutspritzer

»Sie wollten es leider nicht anders, Mr. Wood. Jetzt sind wir mit der ganzen Mannschaft hier.« Detective Clay hielt ihrem Vater einen Durchsuchungsbefehl unter die Nase. Er hatte die Spurensicherung mitgebracht. Hinter ihm stand eine Gruppe Männer, die in weißes Plastik gehüllt waren. Ohne weiteren Kommentar betrat der Detective das Haus, gefolgt von der Truppe Gespenster.

»Die Spurensicherung?«, stotterte ihr Vater. »Das ist doch kein Tatort!«

»Lesen Sie selbst, vom Richter persönlich angeordnet. Wir werden das Haus auf Blut überprüfen müssen.«

»Aber hier kann überall Blut sein! Ian hat sich bestimmt mal das Knie irgendwo gestoßen.«

»Seien Sie unbesorgt, Mr. Wood. Wir erkennen kritische Blutspuren.«

Akribisch arbeiteten sich die Polizisten durchs Haus.

Macy saß mit Ian in seinem Fort im Garten, während es im Haus rumorte. Heute roch der Komposthaufen besonders intensiv, aber sie hatte keine Lust, die Polizei dabei zu beobachten, wie sie ihr Haus auf den Kopf stellte. Dann hockte sie doch lieber in einem windschiefen Bretterverschlag neben dem stinkenden Misthaufen.

»Du verbringst viel mehr Zeit mit Mommy als ich, Ian. Ist dir in letzter Zeit etwas an ihr aufgefallen? Was kann mit Mommy passiert sein? Gab es jemanden, der sie bedroht hat?« Sie musste an Gennarone denken, den Mann mit der vernarbten Gesichtshälfte.

Ian kaute auf einem Grashalm und spielte mit Steinen, die er in einer Metallschüssel gesammelt hatte. »Mom und Dad streiten viel miteinander.« Er überlegte. »Mommy hatte in den letzten Monaten Angst. Ich weiß nicht, warum, aber sie hatte Angst. Und einmal, als wir bei Marina waren und Panettone und Blutorangen gekauft haben, hat uns jemand in einem silbernen Ford, nein, warte, es war ein Dodge, verfolgt. Ganz bestimmt. Modell Dart Sport – das hab ich in meinem Autoquartett. Der hat 172 PS.«

»Ein silberner Dodge? Hatte er schwarze Felgen?« Macys Herz verkrampfte sich.

Ian zuckte mit den Schultern. »Ist schon länger her. So genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Der Dodge ist ein Stückchen neben uns hergefahren. Dann hat er vor dem Café geparkt, in das ich mit Mommy gegangen bin. Der Fahrer hat uns beobachtet, aber er hat bestimmt nicht geahnt, dass mir das aufgefallen ist. Ich bin nämlich ein gerissener Beobachter.«

»Wer war der Fahrer? Kanntest du ihn?«

»Keine Ahnung. Ich hab sein Gesicht nicht sehen können. Vielleicht kannte sie ihn von diesem Doktor.«

»Welcher Doktor? Meinst du Dr. Siam Paw?«

Ian nickte. »Mommy ist manchmal zu diesen komischen Leuten gefahren, weil sie so traurig war und Angst hatte. Während sie bei dem Doktor war, hatte ich Malunterricht bei einer alten, stinkenden Hexe.«

»Du warst auch bei Miss May?«

Ian nickte. »Total doofe Frau. Nur ihre Tauben waren lustig. Die waren immer ineinander verliebt.«

Gerade wollte Macy fragen, ob Ian einen Mann mit vernarbter Gesichtshälfte in der Nähe ihrer Mutter gesehen hatte, doch in diesem Moment zog jemand die löchrigen Vorhänge zur Seite. Im Eingang erschien das Gesicht von Detective Clay. Eine blonde Strähne hatte sich aus seinem zurückgegelten Haar gelöst und hing ihm nun in die Stirn.

»Wir sollten uns unterhalten. Es sieht so aus, als ob euer Daddy eurer Mom etwas angetan hat. Wir müssen ihn daher verhaften. Euer Bruder Will hat versichert, dass er sich um euch kümmern wird.«

*

In ihrem Wohnzimmer stand ein Mann mit einer flackernden Neonröhre. Unter dem Sessel, der erst vor Kurzem verschoben worden war, leuchtete ein großer bläulicher Fleck, der verwischt war.

»Was ist das?«, fragte Ian. »Blauer Schneckenschleim?« Fasziniert wollte er bereits in eine der Spuren fassen, als Detective Clay ihn zurückhielt.

»Das ist Blut, kleiner Mann, das wir wieder sichtbar gemacht haben. Kein Geheimnis bleibt der Polizei verborgen. Das solltest du dir merken. Kannst du uns sagen, ob in letzter Zeit in diesem Zimmer Möbel verschoben worden sind?«

Hilfe suchend sah Ian seinen Vater an, aber der hatte seinen Blick frustriert zu Boden gerichtet.

»Macy, willst du helfen?« Der Detective deutete auf Druckstellen im Teppich, die nur ein schweres Möbelstück hinterlassen haben konnte. Es war der Glastisch gewesen, der seit ein paar Tagen verschwunden war. »Was hat hier vorher gestanden? Wir haben Glassplitter in den Parkettfugen entdeckt.«

»Es gab einen Einbruch. Eine Scheibe ist kaputtgegangen.«

»Hat dein Vater auch schon behauptet. Nur warum habt ihr den Einbruch nicht gemeldet?«

»Es ist nichts weggekommen. Meine Eltern haben den Sessel verschoben. Ist das ein Verbrechen?« Trotzig sah sie den Detective an. Ihre Wangen glühten.

»Das Blut wurde aufgewischt, und niemand erwähnt es. Von wem stammt es? Im Kofferraum des Wagens deiner Mutter haben wir ebenfalls Blut entdeckt. Übrigens, wir haben einen zerbrochenen Glastisch in eurem Keller gefunden – daran klebt auch Blut. Stand der hier?«

»Meine Mutter hat getrunken. Dann muss sie gestürzt sein. Das ist schon mal passiert. Sie können die Geschichte überprüfen. Sie wurde damals im St. …?«

»Junge Dame. Es ist sehr nett, dass du deinem Vater helfen willst, aber auch Mittäterschaft oder Beihilfe ist strafbar. Das solltest du bedenken.«

»Macy, das hab ich der Polizei auch schon geschildert. Es war das St. Vincent. Sie sollen mich nur verhaften. Ich bin unschuldig. Die Justiz wird für diesen Irrtum teuer bezahlen müssen.« Das schrie ihr Vater fast.

»Genau, unschuldig«, krähte Ian.

Streng sah der Detective Macy und Ian an, als ob sie ihrer Mutter höchstpersönlich ein Messer in den Rücken gerammt hätten.

»Ich war in einem Diner in der Pendleton Street«, versuchte es Macy weiter. »Meine Mutter ist Sonntagmorgen dort gesehen worden. Sie hat sich mit jemandem getroffen, der einen silbernen Dodge fuhr.«

Clay sah Macy lange an. »Ich sagte doch, deine Mutter passt nicht ins Profil des Kentucky Highway Killers, aber ich werde der Spur nachgehen.« Er reichte ihr einen Block, auf den sie die Adresse des Diners notieren konnte. »Um das klarzustellen. Ich bin die Polizei und ermittele. Du bist ein kleines Mädchen, das sich nicht einzumischen hat. Keine Hobbyermittlerin, verstanden?«

Macy hielt die Luft an, um den Detective nicht anzufahren. Es war sinnlos. Die Polizei hatte bereits einen Schuldigen gefunden – ihren Vater. Jetzt brauchten sie nur noch die Leiche ihrer Mutter, und alles wäre aufgeklärt. Sie musste dringend herausfinden, wer in dem silbernen Dodge gesessen hatte und wer dieser Gennarone war. Vielleicht besaß er neben seinem Jaguar auch einen Dodge.

»Noch weitere Bekenntnisse? Dann werden wir euren Vater wegen Mordverdacht vorläufig festnehmen. Falls euch doch noch einfallen sollte, wo eure Mutter steckt – tot oder lebendig –, habe ich ein offenes Ohr für euch.«

Es klang, als hätten sie sich alle gemeinsam ihrer Mutter entledigt.

Als die Tür hinter den Polizisten und der Spurensicherung ins Schloss fiel, brach Ian in Tränen aus.

»Dad war es nicht«, versuchte Will, seinen kleinen Bruder zu beruhigen.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir müssen Mom finden. Das ist unsere einzige Chance.«

*

»Das ist doch total krank«, sagte Shailene und klopfte nervös aufs Lenkrad, während sie fuhr. »Dein Vater? Der kann doch noch nicht mal eine Fliege erschlagen.«

Macy saß neben Shailene im Auto, um mit ihr zum Sesquicentennial State Park zur Praxis von Dr. Siam Paw zu fahren.

»Schon komisch, dass deine Mutter zu diesem sonderbaren Psycho-Doc gepilgert ist.«

»Ich hoffe, er kann uns weiterhelfen. Ian meinte, dass meine Mutter einmal verfolgt worden ist, vielleicht von einer Person, die sie bei diesem Doktor kennengelernt hat.«

»Wir sollten die Augen offen halten. Es könnte sein, dass wir einen silbernen Dodge mit schwarzen Felgen entdecken.«

Es wäre absurd, wenn der Kentucky Highway Killer sich auch bei Dr. Siam Paw hatte behandeln lassen und ihm so Charlotte Wood aufgefallen war.

*

Die Kommune der Children of Ra bestand aus gedrungenen Baracken und einfachen Ziegelsteinbauten, die sich unter weit ausladenden, bemoosten Kiefern verbargen. Der Ort hatte etwas Mystisches. Ein würziger Duft nach Kiefernzapfen, Lavendel und blühenden Gräsern lag in der Luft. Die Bewohner dieses Ortes verströmten eine Zeitlosigkeit, als wäre das Ticken des Sekundenzeigers bedeutungslos für sie.

Dr. Siam Paw residierte in einem Bungalow mit großen Fenstern. Die Räume waren lichtdurchflutet. Während Shailene im Wartezimmer Platz genommen hatte, wurde Macy zum Doktor hereingebeten. Dr. Siam Paw war eine Art indischer Medizinmann und Fakir, der einen roten Punkt auf der Stirn hatte und einen grauen Ziegenbart trug. Der weiße Kittel und das Stethoskop um seinen Hals ließen ihn ein wenig nach einem Doktor aussehen. In einem Regal hinter seinem wuchtigen Schreibtisch standen Gläser mit roten, braunen und gelben Kugeln; außerdem mit getrockneten Blättern und schwarzen Tinkturen, die mit haarigem Flaum überzogen waren, der sich bei jeder leichten Erschütterung bewegte.

Hier sollte sich ihre Mutter Behandlungen unterzogen haben? Skeptisch musterte Macy das Zimmer.

Der Doktor holte aus einem Päckchen vor sich auf dem Tisch mehrere blaue Fläschchen. Dann erklärte er Macy, in welcher Reihenfolge die Tropfen zu nehmen waren.

»Ich habe gehört, Mrs. Wood ist verschwunden?«, erkundigte sich der Arzt vorsichtig.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie stecken könnte? Wir suchen sie.«

»Ich mache mir große Sorgen um meine Patientin. Ihre Mutter ist psychisch instabil. In letzter Zeit war sie sehr nervös. Jemand hat sie unter Druck gesetzt. Ich hoffe nur, dass sie nicht unter alles einen Schlussstrich gezogen hat.«

»Reden Sie mit der Polizei! Mein Vater sitzt in Untersuchungshaft, da er angeblich meine Mutter ermordet haben soll.«

»Mord?« Dr. Siam Paw kraulte nachdenklich seinen Ziegenbart. »Hat Ihr Vater Narben im Gesicht?«

»Nein. Warum fragen Sie?« Jetzt wurde Macy neugierig.

»Ihre Mutter wurde einmal von einem Mann mit vernarbtem Gesicht abgeholt. Ich dachte, das wäre Ihr Vater.«

*

Den Kasten mit den blauen Flaschen unter den Arm geklemmt, verließ Macy das Behandlungszimmer. Eine gewisse Nervosität hatte auch sie an ihrer Mutter beobachtet. Sie war schnell ausgerastet, aber für Macy gehörte das eben zu Charlotte. Sie war aufbrausend und cholerisch – eine schwierige Person. Doch Angstzustände waren ihr nicht aufgefallen. Es war erstaunlich, was Menschen voreinander verbergen konnten.

Vor der Tür wartete Shailene aufgeregt auf sie. »Ich hab was entdeckt«, flüsterte sie und zog Macy in einen Gang, wo eine Kaffeemaschine und ein Wasserspender standen. An der Wand hingen gerahmte Fotografien – offensichtlich von Patienten. Wir haben es geschafft!, stand in roten Lettern über den Fotografien. Ein Leben ohne Angst. Shailene stellte sich vor eine der Fotografien auf die Zehenspitzen und deutete auf eine Person.

»Deine Mutter«, flüsterte sie aufgeregt. »Erkennst du den Typen neben ihr, der seinen Arm um ihre Taille gelegt hat?«

Macy trat näher an die Fotografie heran. Es war Michael Norton, der ihre Mutter fest umschlungen hielt. »Wir müssen mit Michael reden. Das ist eine Ratte.«

»Vielleicht der Grund, warum er einen Sommer lang bei euch abgehangen hat? Könnten deine Mutter und er eine Affäre gehabt haben?«

Macy starrte fassungslos die Fotografie an. Was hatte Michael bei Dr. Siam Paw gemacht? Ihre Mutter und Michael? Warum war ihr damals nichts aufgefallen? Möglich war es, denn Charlotte konnte – im Gegensatz zu ihr – jeden Mann kriegen, den sie haben wollte. Aber ihr armer Vater – erst betrogen von einem Biest, und jetzt saß er auch noch für ein Verbrechen im Gefängnis, das er nicht begangen hatte.

»Wir sollten uns dringend mit Michael unterhalten«, murmelte Macy aufgebracht.

In diesem Moment legte sich eine knochige Hand wie eine Klaue auf ihre Schulter, und eine zittrige Stimme krächzte: »Macy Wood? Ist das die kleine Wood?«

Überrascht drehte sich Macy um. Vor ihr stand eine Frau, deren Haut wie rötliche Erde schimmerte. Sie trug ein weites Kleid, auf dem Kopf einen Turban. Sie verströmte einen Geruch nach Henna und Bienenwachs, den Macy fast vergessen hatte. Es war Louisa May, ihre ehemalige Zeichenlehrerin, die auch Ian unterrichtet hatte.

»Mein Sternenkind«, murmelte die Dame, und ohne eine Reaktion von Macy abzuwarten, ergriff sie gierig ihre linke Hand und befühlte sie. »Es ist fast zehn Jahre her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Deine Lebenslinie ist noch immer sehr ausgeprägt. Aber wo hast du nur deinen Kopf, Macy? Du bist kein Stückchen weitergekommen in deiner Schule!« Vorwurfsvoll massierte sie Macys Fingerspitzen. »Du befindest dich in der Schule des Liebens, vergiss das nicht. Du musst lernen, Gefühle zuzulassen. Sie verbergen zu wollen und zu glauben, dass dies dich stärker macht, ist ein Irrtum.«

Macy versuchte, ihre Hand den ledrigen Fingern der Frau zu entziehen. Sie hasste dieses bedeutungsschwangere Gefasel. Es klang wie ein Vorwurf, als ob sie wie eine Schlafwandlerin durch ihr Leben stolpern und blindlings auf einen Abgrund zusteuern würde.

»Das mit der Musik ist richtig. Du bist ein intuitiver Mensch. Lebst du deine Kreativität nicht aus, werden sich deine Meridiane entzünden. Die Musik hat bereits gute Lebensspuren hinterlassen. Deine Sonnenlinie hat diese violette Rötung verloren. Ich sehe deine Aura. Gold umgibt dich und viel Grün. Du bist ein Kind, mit dem es die Gestirne gut meinen. Jeder Mensch schwingt in einem besonderen Ton, und was auch passieren wird, du wirst in deine Schwingung immer wieder zurückfinden. Charlottes Kinder sind anders. Du besitzt diese besondere Aura wie auch Ian. Er ist ein sehr sensitiver Junge. Du solltest auf seine Zeichen achten. Für Ian hat sich ein Tor zur Geisterwelt geöffnet.«

»Wissen Sie, wo meine Mutter steckt?«, fragte Macy herausfordernd, fast trotzig.

»Sie soll verschwunden sein. Ich habe davon gehört. Ein dunkler Schatten aus der Vergangenheit hat sich über sie gelegt und alles verdorben. Ich müsste aber die Karten befragen.«

»Können Sie auch meine Hand lesen?«, fragte Shailene neugierig und hielt der Frau ihre Hand hin.

»Ich weiß nicht, ob ich in deiner Hand lesen sollte. Etwas krampft sich in mir zusammen. Willst du es wirklich wissen? Mancher lebt glücklicher, wenn er sein Schicksal nicht kennt.«

Aufmunternd nickte Shailene der Dame zu. Mit offensichtlichem Unbehagen nahm Miss May ihre Hand. Seufzend fuhr sie über die Handfläche und ließ sie gleich wieder los. »Ich habe es doch gewusst«, beschwerte sie sich. »Die Anakonda.«

»Was bedeutet das?«

»Wir sollten auch in deinem Fall die Karten befragen. Sie werden mir helfen, das Wahre zu erkennen.«

*

Die Mädchen folgten der alten Frau zu einem etwas abseits gelegenen zweistöckigen Backsteingebäude mit großen Fenstern. Das Haus war von einem verwilderten Garten umgeben. Es gab einen Brunnen mit plätscherndem Wasser und bunt bemalten Steinen, die in einer Spirale um den Brunnen gelegt waren. Auf dem Gartenzaun steckten blanke Katzenschädel. In einem Birnbaum drehten sich Gestelle, die aus Ästen, Moos und getrockneten Pflanzen geflochten waren. Abgesehen davon, dass das Haus nicht auf Hühnerfüßen stand und kein Butterfass zum Fliegen davor parkte, sondern nur ein verbeulter Seat, wirkte es dennoch wie das Häuschen der Baba Jaga – irgendwie beängstigend.

Im Haus roch es genau so wie in Macys Erinnerung – ein schwerer Duft nach Pastellkreiden, Ringelblumencreme und Koriander. In Töpfen, die auf dem Fußboden standen, wuchsen verholzte Geranien und Myrte.

Die alte Frau entzündete eine Öllampe. Ein großer Salzkristall stand neben einem Käfig mit zwei Tauben, die sich liebevoll mit den Schnäbeln putzten. Das waren also Ians Lieblingstauben.

»Erst du, mein Kind. Dann das Schicksal der Charlotte Wood.«

Shailene nahm an der Kopfseite eines schwarz lackierten Tisches Platz. In einer gleitenden Bewegung fächerte die Frau Tarotkarten auf. Die Kartenrückseiten waren violett, mit grünen Schlangenskeletten bedruckt. Vorsichtig fuhr sie mit ihren arthritischen Händen über die Karten. Ihre langen Fingernägel berührten nur knapp die Rückseiten.

»Die Karten müssen zu uns sprechen. Wir dürfen nichts erzwingen.«

Miss May begann mit den großen Arkana, nachdem sie die Reihe des Wassers und des Feuers gelegt hatte.

»Es sieht nicht so schlimm aus«, murmelte sie.

Shailenes Unterlippe zuckte. Eine weitere Karte wurde aufgedeckt, und da es der Narr war, atmete Miss May erleichtert durch. »Nur der Narr. Ich könnte deine Hand falsch gedeutet haben.«

Die nächste Karte zeigte das Rad des Schicksals. »Gefährlich, unklar, aber nicht bedrohlich. Alles bestens.« Sie lächelte schief.

Miss May schloss die Augen, während sie mit ihrer Hand über die Karten fuhr, als ob sie ihr etwas zuflüsterten. »Die Karten müssen dich finden«, raunte sie, bis sie eine davon leicht mit den Fingerspitzen anhob. Sie hatte sie kaum umgedreht, als sie ihre Finger auch schon wegzog. Fluchend rieb sie ihre Fingerspitzen, als hätte sie sich verbrannt. Dann legte sie einen Finger auf die zugedeckte Karte und sah bleich aus.

»Lassen wir’s gut sein. Kurz vor Vollmond, wenn Pluto so nahe ist, sollte man die Karten ohnehin nicht befragen. Sie können dich täuschen. Es ist zu viel Unruhe in der Luft, alles voller Chaos.«

»Was war das?«, fragte Shailene erschrocken.

Doch Miss May lächelte harmlos und murmelte ausweichend: »Komm in drei Wochen wieder. Dann ist Pluto weitergezogen. Andromeda zeigt sich am schönsten. Ich werde dir erneut die Karten legen. Und ein Tipp: Halte dich von Schlangen fern. Nun zu Charlotte Wood, ihr lieben Karten.«

Sie schob die Karten zusammen und entfaltete sie dann wieder in einem Schwung. Mit beiden Händen fuhr sie über die speckigen Rückseiten. »Wo ist Charlotte Wood?«, flüsterte sie.

Wahllos deckte sie Karten auf, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Immer hektischer wirbelte sie die Karten herum, warf den Mädchen nervöse Blicke zu.

»Warum sprecht ihr nicht zu mir?«, flüsterte sie. »Welche Macht verbirgt sich?«

Macy wollte bereits enttäuscht aufstehen und alles als Hokuspokus abhaken, als Miss May mit einem Pfeifen, wie wenn Luft aus einem Ballon entweicht, in ihren Sessel zurückkippte. Achtlos wischte ihre Hand über den Tisch und fegte die Karten zu Boden.

»Ein Teufel«, zischte sie. »Er versteckt sie.«

»Wer ist der Teufel?«, fragte Macy eindringlich. Der Zustand der Frau machte großen Eindruck auf sie. Es wirkte so echt.

»Eis und Schnee und so viel Kälte.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Ein brennendes Haus, das alles erleuchtet und am Anfang steht.« Plötzlich schlug Miss May die Augen wieder auf und sah die Mädchen verwundert an. »Hatte ich gerade eine kleine Krise? Ich hoffe, ich habe euch nicht erschreckt. Tut mir furchtbar leid.«

Auf der Türschwelle flüsterte sie Macy ins Ohr: »Achte auf den Gesang des Kardinalvogels. Er wird dein Glücksbringer sein.«

*

»Was hat sie gesehen? Halte dich von den Schlangen fern? Soll ich den Kontakt zu Miles abbrechen?«

»Welchen Teufel kenne ich?«, murmelte Macy, in ihren eigenen Problemen versunken.

Sie dachte an das brennende Haus, das am Anfang stand und alles erleuchtete. Vor vielen Jahrzehnten war in ihr Haus ein Blitz eingeschlagen, aber gebrannt hatte es nicht. Ansonsten fiel ihr kein weiteres brennendes Haus ein. Vielleicht stand das brennende Haus metaphorisch für einen Konflikt.

»Und jetzt?«, fragte Shailene.

»Ich brauch einen starken Kaffee, und dann fahren wir zu den Nortons und reden mit Michael.«

*

Ein gewaltiges Tor und eine meterhohe Thujahecke versperrten ihnen den Zutritt zum Grundstück der Nortons. Verdeckt von sehr viel Grün und Eisen, erhob sich eine mächtige Villa. Diese Familie verfügte über ein wirklich beeindruckendes Vermögen. Sie klingelten zaghaft.

Michaels Mutter war zu Hause und öffnete ihnen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Gesichter aus dem Golfclub erinnerte und die Mädchen zuordnen konnte.

»Wie geht’s euch?«, fragte sie höflich.

»Ist Michael zu Hause? Wir wollten ihn sprechen.«

»Ihr wollt mit Michael reden? Aber wisst ihr es denn nicht?« Tränen füllten ihre samtbraunen Augen. Umständlich bat sie die Mädchen in ein pompöses Wohnzimmer, durch das drei weiße Bell-Ratten fegten. Ein dienstbarer Geist huschte kaum merklich zwischen den Möbeln und servierte besten Oolong-Tee und Rosenbiskuits. Erst nach einigen Tassen exquisitem Tee, handgepflückt im chinesischen Morgengrauen von edlen Damenhänden, fand Michaels Mutter ihre Sprache wieder.

»Wir haben das nicht an die große Glocke gehängt und bitten euch auch, es vertraulich zu behandeln. Unser lieber Michael hatte letztes Jahr einen Nervenzusammenbruch. Es blieb uns keine andere Wahl, als ihn ins Green Hill Hospital in Augusta einzuweisen. Er würde sich bestimmt über euren Besuch freuen. Es geht ihm mittlerweile wesentlich besser. Aber erschreckt nicht. Er hatte diesen Unfall. Ihr werdet es selbst sehen.«

Sie bedeckte mit ihren Porzellanhänden erschöpft das Gesicht. Die Mädchen waren bestürzt. Michael war ein Mensch, der vor Zufriedenheit und Selbstbewusstsein nur so gestrotzt hatte. Er hatte alles gehabt – Schönheit, Reichtum und Frauen. Sie verstanden nicht, warum gerade er einen Nervenzusammenbruch erlitten haben sollte.

»Ein Nervenzusammenbruch?«, brach es aus Macy heraus.

»Er hatte einen schrecklichen Autounfall. Das hat er nicht verkraftet, mein lieber, kleiner Junge.«

»Es tut mir leid, wenn ich das frage, aber war er in Behandlung bei Dr. Siam Paw?«

Mrs. Norton sah Macy erschrocken an. Nervös fingerte sie an ihren schweren Perlenohrringen, die ihre zarten Ohrläppchen beschwerten. Dann fing sie sich wieder. »Du weißt das bestimmt von deiner lieben Mutter. Charlotte war auch bei Dr. Paw in Behandlung. Michael hatte damals einige Probleme. Deine Mutter hat uns Dr. Paw empfohlen, da er einen besonderen Ansatz verfolgt. Er hatte einen guten Draht zu Michael, und eine Zeit lang ging es unserem Sohn wirklich gut. Wir haben deiner Mutter einiges zu verdanken. Wenn nur dieser schreckliche Unfall nicht gewesen wäre und diese Paranoia, die dann eingesetzt hat.«

Ihre Mutter hatte Michael zu den Children of Ra gebracht. Der Einzige, der tatsächlich Licht in diese Angelegenheit bringen konnte, war also Michael.

*

»Hast du Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen? Ich hab Heißhunger auf Lobster Savannah. Im Chelsea’s Best ist heute Lobsterabend.«

Macy starrte Dave an. Sie verstand es als Entschuldigung, da er vor der Polizei getratscht hatte. Aber lange hätte sie so oder so nicht auf ihn wütend sein können – er sah einfach zu gut aus. Und es war auch seine Bürgerpflicht, gegenüber der Polizei auszusagen. Sie sollte nicht zu streng mit ihm sein.

Ihr Puls begann vor Euphorie zu rasen, und bald kitzelte das Glück überall in ihrem Körper. Dave wollte mit ihr einen Abend verbringen. Was konnte es Schöneres geben?

Keine Stunde später saßen sie im Chelsea’s Best und hatten Lobster bestellt. Macy konnte kaum begreifen, wie ihr geschah. Dave war der charmanteste Junge, den man sich wünschen konnte. Ihren Blick hielt sie fast ausschließlich auf das Tischtuch gerichtet, da sie jedes Mal, sobald sie Dave in die Augen blickte, puterrot anlief.

Seine Hände lagen neben seinem Teller. Wenn sie nicht gerade das Muster des Tischtuchs anstarrte, sah sie seine Hände an. Er hatte eine rötliche Narbe auf dem Handrücken und mehrere Muttermale. Ihr fiel auf, dass seine Hände nicht wie gewöhnlich schwarz von Öl und Ruß waren. Er hatte sogar seine Fingernägel gereinigt, sodass man die weißen Halbmonde erkennen konnte. Dave hatte sich Mühe gegeben – allein für sie.

Ein Kellner brachte lange Lobsterschwänze mit einer glänzenden Zange und zweizinkigen Gabeln zum Knacken des Gehäuses. Außerdem süßen Weißwein für Dave und Wasser für Macy. Sobald der Kellner verschwunden war, holte Dave einen Flachmann aus seiner Hosentasche.

»Damit es nicht zu traurig für dich wird.« Und mit einem Zwinkern schüttete er etwas von dem farblosen Inhalt in Macys Wasserglas.

»Was ist das?« Vorsichtig nahm sie einen Schluck, schmeckte aber nur eine milde Schärfe.

»Etwas für die Seele. Greg brennt es selbst. Ich nenne es Kummer-Löscher für das Lummerland.«

Damit fand sich Macy ab. Sie vertraute Dave.

»Gibt’s was Neues von deiner Mutter? Tut mir wirklich leid, dass sie verschwunden ist.«

»Die Polizei denkt, mein Vater hätte ihr was angetan, aber das stimmt nicht.«

»Aber er hat sie geschlagen, Macy. Ich halte das für nicht unwahrscheinlich.«

»Das hab ich nie gesehen und glaub es auch nicht.«

»Ist gut, Macy. Tut mir leid, wenn ich ihn in Schwierigkeiten gebracht haben sollte.« Er warf ihr ein zurückhaltendes Lächeln zu. Währenddessen war er damit beschäftigt, das Besteck auf seine Sauberkeit zu kontrollieren. Klappernd hantierte er mit Messer und Gabel, wischte die glänzende Zange ab. »Die Presse spekuliert, dass sie ein Opfer des Kentucky Highway Killers sein könnte. Das wäre schrecklich«, murmelte er.

»Wenn es der Killer war, haben wir keine Hoffnung«, erwiderte Macy tonlos. »Ian hat beobachtet, dass meine Mutter einmal verfolgt worden ist.«

»Wen hat er gesehen?«

»Er erinnert sich nicht mehr. Aber er hat einen silbernen Dodge gesehen, und der Killer fährt einen solchen Wagen.«

»Du bist ein kluges Mädchen und wirst bestimmt rausbekommen, was mit deiner Mutter passiert ist.« Er knuffte sie freundschaftlich in die Seite. »Wie kommst du damit klar, dass sie verschwunden ist?« Fürsorglich legte er seine Hand auf ihre. Macy brach bei dieser köstlichen Berührung der Schweiß aus allen Poren.

»Ich weiß nicht. Sie fehlt mir, obwohl sie ein Miststück ist.«

»Warum ist deine Beziehung zu ihr so schlecht?«

»Viele Gründe. Sie hält mich nicht für schön genug. Ich soll tatsächlich ihre Tochter sein? Sie ist attraktiv, und ich bin eine derartige Enttäuschung. Sie hat daher immer behauptet, dass ihr Baby in der Klinik vertauscht worden ist.« Macy schluckte trocken.

Dave war noch immer mit der Inspektion des Bestecks beschäftigt. Er drehte den Suppenlöffel in der Hand und murmelte: »Was für ein Biest.« Macy räusperte sich, kurz vor einem Tränenausbruch. »Das ist natürlich lächerlich. Du bist eine Prinzessin.« Er grinste und wischte den Suppenlöffel an der Serviette ab, die er anschließend erneut glatt strich. »Lass uns auf das schönste Mädchen in Columbia anstoßen. Deine Mutter ist nur eifersüchtig auf dich, weil du etwas besitzt, was sie für immer verloren hat – ihre Jugend.«

Macy leerte ihr Wasserglas. Die milde Schärfe gefiel ihr. Knackend brachen sie die rot-orangen Panzer auf. Mit den schlanken Gabeln pulten sie das weißliche Fleisch aus dem Chitin. Die ganze Zeit schenkte ihr Dave von dem herrlichen Kummer-Löscher nach, und Macy wurde in Hochstimmung katapultiert.

Als sie das Restaurant verließen, klammerte sie sich an Daves Hemd. Ihre Beine schlingerten etwas. Während er versuchte, ein Taxi heranzuwinken, saß Macy auf dem Bordstein und versuchte, ihre sieben Sinne zu sortieren.

Dave hatte ihr eine Zigarette angezündet, doch es gelang ihr nicht richtig, an ihr zu ziehen. Die Zigarette schrumpfte langsam vor ihr, während die Asche in den Rinnstein schneite.

Die Straßen waren leer, und nach einigen Versuchen setzte sich Dave neben sie.

»Du siehst so gut aus, Dave«, säuselte Macy. Plump legte sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Seinen Schritt verfehlte sie nur unwesentlich. Vorsichtig nahm er ihre Hand und legte sie zurück in ihren Schoß.

»Ich hab was beobachtet, das ich der Polizei bisher nicht erzählt hab. Dienstagmorgen, als ich gerade zu Max zum Arbeiten wollte, hab ich einen Mann, vielleicht deinen Vater, bei eurer Garage gesehen. Er hatte etwas mit einem Handtuch Umwickeltes in den Armen, ein Bündel.« Er zeigte die Größe des Bündels mit den Händen, höchstens eine Armlänge. »Das Handtuch war bräunlich. Das kann auch Blut gewesen sein. Ich hatte es fast vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder. Du solltest in eurer Garage nachsehen. Ich helf dir auch gerne.«

Macy sah ihn erschrocken an und antwortete ruppig: »Danke, ich brauch keine Hilfe.«

*

Am samtschwarzen Himmel stand eine schmale Mondsichel. Macy lehnte am Tor und gönnte sich noch eine letzte Zigarette, bevor sie ins Haus ging. Ihr Schädel dröhnte. Sie dachte über das Bündel nach und ob sie wirklich nachsehen sollte. Eigentlich fürchtete sie sich davor, was sie entdecken konnte. Ihr Vater war unschuldig, und dabei blieb es.

Unschlüssig taumelte sie durch den wispernden und zischenden Garten zur Garage. Kleine Schatten huschten durch das hohe Gras.

Vor der Garage stand bereits jemand. Ian, der kleine Floh, starrte eine Glühbirne an, die wie in einem schlechten Horrorfilm nervös über dem Garagentor flackerte.

»Ian?«, fragte Macy. »Solltest du nicht im Bett sein?«

»Jemand will mir etwas sagen.« Er deutete nach oben zu der Glühbirne. »Morsezeichen.«

Macy starrte in das zitternde Licht. Es war viel zu grell. »Die Birne muss nur festgedreht werden, dann hört das Flackern auf. Das ist ein Wackelkontakt.« Sie nahm einen Stock, und nach einigen Anläufen erreichte sie die Glühbirne und stupste sie an; daraufhin hörte das Flackern kurzfristig auf.

»Können wir in die Garage? Nur zur Sicherheit?«, bettelte Ian.

»Zur Sicherheit?«

»Nightcrawlers«, flüsterte er. Seufzend schob Macy das Garagentor zur Seite. Ein Schwall Wärme, der sich am Tag aufgestaut hatte, strömte ihnen entgegen. Im Inneren roch es nach altem Gummi und Benzin. Macy knipste eine Lampe über der Werkbank an. Im weißen Lichtkegel flüchteten sich Asseln und kleine Spinnen in den Schatten. Sie beobachtete Ian, der zwischen den Autos durch die Garage stapfte und mit seinem unsichtbaren Indianer sprach. Verstohlen suchte sie nach dem Bündel, das Dave erwähnt hatte. Aber wenn sich das tatsächlich hier befinden sollte, war es bestimmt gut versteckt.

»Siehst du einen Schuhkarton? Towa-Hook sagt, da ist ein Schuhkarton mit wichtigem Inhalt für uns.«

»Ein Schuhkarton«, brummelte Macy. Sie hatte keine Lust, heute Nacht viel Staub aufzuwirbeln oder Ratten aufzustöbern, und auf das seltsame Bündel, von dem Dave gesprochen hatte, wollte sie erst recht nicht stoßen. Zumindest nicht heute Nacht.

»Southport. Etwas ist in Southport passiert. Ich soll es für dich finden.«

»Lass uns morgen suchen, Ian. Ich bin müde.«

»Du darfst das mit Southport nicht vergessen.«

Nur widerwillig ließ er sich aus der Garage führen. Als sie beim Haus waren, drehte sich Macy kurz um. Die Glühbirne flackerte noch immer.