Ich spüre dich
Einmal hatte ihn seine Schwester beim Beobachten erwischt und bestraft. Die Narben erinnerten ihn noch immer daran.
»Hatte ich dir das nicht verboten, du kleiner Perversling?« Manche hätten gesagt, dass er noch ein kleiner unschuldiger Junge war, der es nicht besser wusste, aber sie hatte ihn und sein Wesen früh erkannt – noch bevor er es wirklich selbst verstanden hatte.
Zur Strafe hatte sie ihn auf eine glühend heiße Herdplatte gesetzt. Erst als der Geruch nach versengter Haut die Küche erfüllt hatte, hatte sie ihn mit den Worten freigelassen: »Du stinkst. Das ekelt mich an.«
Weinend hatte er in der Küche gestanden, fast ohnmächtig vor Schmerz, bis sein Vater gekommen war und ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Doch im Nachhinein, trotz der Schmerzen, war das für ihn eine wunderbare Erinnerung. Seine Schwester hatte ihn bestraft.
Eine Woche nach dem Vorfall war sie nicht mehr von der Arbeit zurückgekehrt. Sie blieb verschwunden. Ihr Vater hatte erklärt, Nancy hätte die Biege gemacht.
Erst viele Jahre später, als er nach ihr gesucht hatte, da er sich nicht mit ihrem Verschwinden hatte abfinden wollen, hatte er erfahren, dass sie nach Mexiko getrampt war. Dort hatte sie auf einer Farm gearbeitet und eine verhängnisvolle Affäre mit der Frau des Farmbesitzers angefangen. Der herrische Baron hatte sie eines Nachts auf freiem Feld aus Eifersucht erschossen.
Doch es gab keine Nacht, in der er nicht von seiner wunderschönen Schwester geträumt hätte.
Er hatte herausgefunden, dass Charlotte Wood einem lukrativen Hobby frönte, in dem sie sehr erfolgreich war. Seine Liebste ging hin und wieder zum Pokern in eine Bar. Die Bar war in einem schmucklosen Ziegelsteinbau aus den Fünfzigerjahren untergebracht. Nach außen wirkte sie unscheinbar. Im Gastraum wurde Alkohol ausgeschenkt, und es gab Nüsse und Chips. Man konnte Billard spielen, und an den Wänden hingen Dartscheiben. Einige Spielautomaten glitzerten lärmend neben dem Tresen. Aber in einem abgegrenzten Teil hinter einem schweren Samtvorhang, der nur für Eingeweihte betretbar war und von einem bulligen Ex-Soldaten bewacht wurde, wurden Pokerpartien ausgetragen. Hier spielten große Fische. An einem Abend wurde schnell mal eine halbe Million Dollar umgesetzt.
An den runden Tischen saßen beleibte, wohlhabende Männer, die falsche Siegelringe trugen und Zigarren rauchten. Wenn Frauen anwesend waren, trugen sie kurze, glitzernde Einteiler und tänzelten um die Männer herum. Zwischen diesen Schwergewichten saß seine geliebte Charlotte, kippte einen Shot nach dem anderen und begeisterte mit einem Royal Flush.
Das machte ihn an, und er setzte alles daran, in diesen exklusiven Kreis vorzudringen. Da aber der Starteinsatz bei fünftausend Dollar lag, musste er seine Bemühungen schnell aufgeben. Er nahm einen Job hinter der Bar an. Drinks hatte er schon immer mixen können.
Eines Nachts, sie hatte schon zwei Stunden gespielt, verließ sie den Raum und steuerte auf die Bar zu. Auch mit geschlossenen Augen hätte er ihre erotische Ausstrahlung wahrgenommen, die die Luft vibrieren ließ. Sie setzte sich auf einen Barhocker in seiner unmittelbaren Nähe, ließ sich von einem Gentleman Feuer geben und scannte die Umgebung. Mit ihren rot lackierten Fingernägeln fuhr sie durch ihre braune Mähne. Am liebsten hätte er sofort nach diesem Haar gefasst.
»Kann ich Ihnen etwas bringen?«
Ihr Blick wanderte an seinem Körper hinunter. Das gefiel ihm. »Wir kennen uns.« Sie lächelte, konnte sich aber nicht erinnern, wo sie ihm begegnet war. »Sind Sie ein Freund von William?«
»Ich habe ein Paket bei Ihnen zugestellt.«
»Richtig. Der schreibende Postbote. Sie haben viele Jobs. Ich nehme einen Manhattan.«
Mit schweißnassen Händen begann er, einen Manhattan zu mixen. Die Flasche mit Wermut wäre ihm fast aus der Hand geglitten. Die Maraschinokirsche wollte nicht aus ihrem Glas.
Als er den Manhattan vor sie stellte, legte sie plötzlich ihre Hand auf seine. Ein Blitz durchfuhr ihn bei dieser Berührung. Den Kopf schief gelegt, fragte sie mit einem Augenzwinkern: »Verfolgen Sie mich?«
»Natürlich. Sie sind wunderschön«, antwortete er mit einem breiten Grinsen. »Eine solche Lady wie Sie würde ich mir nie entgehen lassen.« Das war okay, dachte er. Er war gut darin, offensiv jemanden anzuflirten, ohne aufdringlich oder lästig zu sein. Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln und entzog ihr seine Hand. Sie sollte nicht denken, dass sie ihn in der Hand hatte. Auch sie musste sich bemühen, sein Herz zu erobern – auch wenn er ihr bereits heillos verfallen war.
»Ihr Postauto, wo hatten Sie das geparkt?«
»Mein Geheimnis.«
»Geben Sie’s doch zu. Sie haben sich verkleidet, um mir dieses Geschenk vorbeizubringen. Es hat mir gefallen. Sie kennen meinen Geschmack besser als mein Ehemann. Woher?«
In diesem Moment musste er einen weiteren Gast bedienen. Erleichtert entzog er sich ihrem hypnotischen Blick und zapfte ein Bier. Lange hätte er diese Anspannung nicht mehr ertragen. Sie reizte ihn. Sein Nacken war schweißnass. Alles dehnte sich, fühlte sich zum Zerreißen gespannt an. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle.
Die darauffolgenden Minuten musste er Getränke mixen und zu Gästen bringen und hatte keine Zeit für sie. Aus dem Augenwinkel konnte er sie aber weiterhin beobachten. Ihr Blick war die ganze Zeit auf ihn geheftet. Sie lächelte schamlos.
Als er gerade einen Tisch abräumte und auf einem Tablett Gläser balancierte, stand sie plötzlich direkt hinter ihm. Ihre zarte Hand lag auf seinem sehnigen Unterarm. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Es war nur ein dummer Scherz. Tut mir leid«, flüsterte sie. »Aber manchmal bin ich unanständig.« Sie schob einen zusammengefalteten Zettel in die Hosentasche seiner Jeans. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Es würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen.«
Es war kurz vor ein Uhr. An diesen Moment würde er sich immer erinnern. Um kurz vor ein Uhr war er einer Fee begegnet. Sie hatte ihren Feenstaub über ihn gestreut und war dann mit ihrem Mäusegespann durch das Blumenbeet davongaloppiert.
Den Zettel in der Hosentasche, von Kopf bis Fuß mit Schweiß bedeckt, starrte er hinter ihr her, wie sie ein Bündel Dollarnoten in ihrer Handtasche verstaute und die Bar verließ.
Alles roch nach Liebe.