Montag, 11. Juli 1983

Love Stories

Nach zwei Monaten Trockenheit kündigte sich am 11. Juli ein gewaltiges Gewitter an. Violett-graue Wolken bauten sich zu Türmen am Horizont auf. Die Luft war schwül, und die Grillen zirpten ohrenbetäubend.

Macy war mit einem Kopf voller Sorgen aufgewacht. Sie hasste diesen Zustand, bereits morgens von Angst zerfressen aufzuwachen, aber sie konnte nicht anders. Vor allem fürchtete sie den Moment, wenn die Polizei vor ihrer Tür erscheinen würde, um mitzuteilen, dass die Leiche ihrer Mutter aufgetaucht war – versteckt in einem Sumpfloch, vom Kentucky Highway Killer mehrere Male vergewaltigt, aufgedunsen in einem Altwasserarm des Congaree, zerstückelt in einer Kühlbox.

Im Bad drehte Macy das kleine, gelbe Radio an, das auf dem Spülkasten stand. Zwischen Michael Jacksons Beat It und Little Red Corvette von Prince warnte ein Radiomoderator in Weltuntergangsstimmung vor Blitzeinschlägen und Tornados. Da ballte sich etwas zwischen Greensboro und Savannah zusammen. In Charlotte waren bereits Hagelkörner so groß wie Tennisbälle heruntergekommen. Ein Blitz hatte drei Kühe erschlagen, und nahe Rock Hill, Cherry Road, war der Highway 77 nicht mehr befahrbar, da der Catawba River über die Ufer getreten war. Macy dachte an all die Schlangen in diesem Fluss, die nun den Highway entlangkrochen und nach kleinen Hunden und streunenden Katzen Ausschau hielten, über die sie sich hermachen konnten.

Dumpf krachte ein Donner. Es war schwül, und kaum hatte sie ihr Kleid angezogen, klebte der Stoff an ihrem Körper wie eine zweite Haut.

*

Im Arbeitszimmer ihres Vaters saß ein Mann in einem durchweichten T-Shirt von Pink Floyd und drehte an einem Tresor, der in die Wand betoniert war. Der Mann hatte sein Ohr an das Schloss des Tresors gelegt. Ihr Bruder lehnte neben dem Schreibtisch und beaufsichtigte die Arbeit. Mit einem fragenden Blick sah Macy ihn an.

»Was denn? Dad sitzt im Gefängnis, und wir wollen ihn freibekommen.«

»Und wenn Mommy den Tresor ausgeräumt hat?«, warf Macy ein.

»Das hat sie nicht. Was fängt sie mit der Eigentumsurkunde des Hauses an? Wenn wir nichts finden, ist der letzte Notnagel, dass wir unsere Bude beleihen.«

Der Mann blickte zu ihnen auf und grinste. »Ich werde aufknacken. Bester Safeknacker!« Er richtete seinen Daumen nach oben, an dem die Fingerkuppe fehlte. Macy hoffte, dass Will alles unter Kontrolle hatte.

Sie warf einen skeptischen Blick zum Fenster hinaus. Eigentlich musste sie Musiknoten abholen, die sie bestellt hatte, doch der bleiern-graue Himmel, über den pechschwarze Wolken jagten, verhieß nichts Gutes.

»So, mein Süßer, Onkel Ivan kriegt jeden Burschen auf.«

Es dauerte keine weiteren zwanzig Minuten, die mit angestrengtem Atmen und Knacken vergingen, und der Tresor war tatsächlich geöffnet.

Macy traute ihren Augen kaum. In einem Comic hätte sie ein Funkeln von Diamanten empfangen. Das Dach hatten sie nicht flicken können, aber im Tresor türmte sich eine gute Million in Dollarscheinen.

»Passen Sie auf Code besser auf«, sagte der Mann und steckte die zweihundert Dollar ein, die ihm Will gegeben hatte.

Als der Safeknacker aus dem Haus war, flüsterte Will: »Ich weiß nicht, was unsere verdammte Mutter getrieben hat, aber Dad hat keine Ahnung von dieser Kohle. Er sagte was von einer Diamanthalskette und der Eigentumsurkunde vom Haus, aber nichts von einer Million in bar.«

Macy starrte das Geld an. Auch sie hatte keine Ahnung, wie es in den Tresor gekommen war, aber ihre Mutter hatte es für sich haben wollen, sonst hätte sie den Sicherheitscode nicht geändert.

*

Schon auf dem Hinweg zum Musikgeschäft hatte Macy das Gefühl, dass ein unsichtbarer Schatten ihr folgte. Vorsichtig lenkte sie ihre Vespa durch den Straßenverkehr, im Rückspiegel behielt sie die nachfolgenden Autos im Auge. Sie wusste nicht, was dieses unangenehme Gefühl verursacht hatte, sie war sich aber ziemlich sicher, dass sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte. Zuerst hatte sie einen gelben GM im Verdacht, dann einen roten Fiat – dennoch konnte sie schlussendlich keinen Wagen ausmachen, der sie wirklich verfolgte.

Der Musikalienladen bestand aus einem lang gestreckten Schlauch, dessen Wände mit Noten und Musikinstrumenten vollgestopft waren, nur unterbrochen von kleinen Lichtschlitzen. Ein Lächeln umspielte Macys Lippen, als sie mit ihrem Finger über die Buchrücken der Notenhefte strich. Das Gefühl des Verfolgtwerdens, dass ein Augenpaar sich auf ihren Rücken geheftet hatte, war sofort vergessen.

Seit drei Wochen hatte sie auf dieses Songbook aus Europa gewartet, doch das Warten hatte sich gelohnt. Mit einem Lächeln drückte sie die Noten an sich, die noch nach Buchleim rochen. Sie verstaute sie in ihrem Rucksack und verließ das Geschäft.

Erste schwere Tropfen fielen bereits auf den Bürgersteig, als sie Gas gab. Sie hoffte, vor dem Unwetter wieder zu Hause zu sein, dass ihr Vater dann mit Will zurück war und auch ihre Mutter irgendwie wieder aufgetaucht war, aber die Chancen auf Wunder standen schlecht. Nur Ian erzählte sie abends vor dem Einschlafen, dass ihre Mutter sich eine kleine Farm mit Bananenstauden und Hühnern im Regenwald gekauft hatte und nur darauf wartete, dass ihre Kinder nachkamen. Zumindest beim Einschlafen half das.

Ein Windstoß fuhr durch die Kronen der Alleebäume. Die Blätter eines Riesen-Rhabarbers knatterten im Wind wie Fahnen. Die Luft roch eigenartig, leicht pfeffrig. Die Gewitterwolken verdunkelten den Himmel, und die Straßenlaternen waren angegangen. Beinahe sah es nach Weltuntergang aus, als könnten sich jeden Moment apokalyptische Reiter aus dem pechschwarzen Himmel stürzen. Doch es waren keine Reiter, sondern nur Blitze, die dem Unwetter vorauseilten.

Sie war keine zwei Blocks weit gekommen, als beängstigende Wassermassen vom Himmel peitschten und ein gewaltiger Sturm ihre Vespa zur Straßenseite drückte. Milchig weiße Hagelkörner peitschten durch Nebel und Wind. Sie musste schnell einen Unterschlupf finden, sonst würde es gefährlich werden. Der Wind zog heulend durch die Straßenschluchten. Die meisten Wagen, soweit noch welche unterwegs waren, waren an den Straßenrand gefahren. Ein abgerissenes Verkehrsschild fegte an Macy vorbei, als wäre es ein Stück Papier. Hagelkörner trommelten wie Gewehrsalven auf ihren Helm.

In der Finsternis erhob sich strahlend weiß ein Kirchenschiff. Das Weiß leuchtete mystisch in der Dunkelheit. Über dem Portal stand ein Engel mit Lichtkranz und breitete erwartungsvoll seine Arme aus. Trinity Church verkündete eine Leuchtschrift.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte Macy und flüchtete sich in die Kirche. Ihre Noten hatten sich bestimmt schon in Papiermatsch verwandelt. Wäre sie doch nicht so ungeduldig gewesen und zu Hause geblieben!

Dieses Unwetter war ein Zeichen, genau wie die aggressiven Krähen mit den feuchten gierigen Augen, die absurde Hitze, die Mokassinschlangen, die aus allen Erdlöchern krochen, und diese schwarzen Regenwürmer. Dieser Sommer war verflucht.

In der Kirche war es warm und eigenartig still, auch wenn um das Gebäude das Unwetter tobte. Die Lichter waren ausgeschaltet. Nur seitlich vom Altar brannten dünne Bienenwachskerzen. Der Innenraum war von jungfräulichem Weiß. In hellblauen Glasvasen standen weiße Lilien mit violetten Lupinen.

Äste schlugen gegen die hohen Kirchenfenster. Die bunten Glasscheiben klirrten in der Bleifassung. Macy zitterte am ganzen Leib, obwohl in der Kirche noch die warme Luft der vorangegangenen Tage stand. Außer einer Nonne, die hastig in die Sakristei huschte, wähnte sich Macy alleine. Über dem Altar schwebte der auferstandene Jesus, der sie mit gütigen Augen ansah. Aus einer silbernen Schale stieg eine feine Weihrauchsäule empor und wand sich um die Beine des Auferstandenen.

Das Wasser aus ihrer mit Feuchtigkeit vollgesogenen Kleidung tropfte auf den Boden, die nassen Gummisohlen rieben quietschend über den Marmor.

In diesem Moment der Stille schwang die Kirchentür auf, ein Schwall nasser Luft wehte herein, und man hörte, wie Donner und Wind draußen tobten, bis die Tür wieder zuschlug. Macy warf einen kurzen Blick auf den Schutz Suchenden, der einen weiten Regenmantel mit Kapuze trug. Die Tropfen, die von seinem Mantel auf den Marmorboden fielen, hallten im Kirchenschiff wider.

Macy drehte sich vor zur Apsis. Sie starrte den schwebenden Jesus an und flüsterte: »Meine Mutter ist eine schlechte Frau, aber warum bestrafst du uns? Ian ist ein guter Junge, und er vermisst seine Mutter.«

Sie hatte nicht das Gefühl, dass gerade irgendeine himmlische Macht Zeit für ihre Anliegen hatte. Sie flüsterte in dieses kalte Kirchenschiff. Vielleicht sollte sie eine der dünnen Bienenwachskerzen anzünden, um Gottes großmütige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Der Regenmantelträger hatte sich in ihre Bank gesetzt. Sein Atem ging schwer. Macy warf ihm einen kurzen Blick zu, doch sein Gesicht lag im Schatten der weiten Kapuze.

Sie starrte die ausgetretenen Marmorsteine an. Es war, als ob Tausende kleiner Augen aus den Rillen zwischen den Fußbodensteinen sie vorwurfsvoll anstarrten.

Der Mann holte ein schmales Paket unter seiner Jacke hervor und schob es in Macys Richtung. Überrascht drehte sie sich zu ihm um.

»Kennen wir uns?«, flüsterte sie, aber in diesem Moment sprang der Fremde auf und stürmte zur Kirchentür. Seine Schuhe quietschten über den Stein. Beinahe wäre er ausgerutscht.

»Was wollen Sie?«, rief Macy, doch der Fremde blieb nicht stehen, sondern riss die Kirchentür auf und verschwand wieder in dem tobenden Unwetter.

Macy starrte das schmale Packpapierpaket an und wartete darauf, dass es explodierte oder sie anfiel. Da aber nichts tickte und das Paket auch keine Beine bekam und sie angriff, zog Macy es zu sich. Vorsichtig riss sie das Papier auf. Zum Vorschein kam ein Buch – die Love Story von Erich Segal. Vorne im Bucheinband steckte ein Brief. Als sie ihn herauszog, bemerkte sie die Widmung. Es war die geschwungene Handschrift ihrer Mutter:

Für meinen geliebten Michael und die wunderbare Zeit, die er mir geschenkt hat. Du wirst immer in meinem Herzen sein, August 1982.

Macy entfaltete den Brief, der an den Ecken aufgeweicht war.

»Was deine Mutter und mich verbunden hat, war etwas ganz Besonderes. Deine Mutter und ich sind uns während der Gruppentherapiestunden bei Dr. Siam Paw nähergekommen. Sie wurde wegen irgendwelcher Angstzustände behandelt, ich wegen meines angeblichen Alkoholismus – eine hysterische Einbildung meiner Mutter. Tatsächlich hatte deine Mutter meiner Mutter den Tipp mit Dr. Siam Paw gegeben.

Der Sommer bei euch war wunderbar. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt war sie mit ihren Gedanken bei einem anderen Mann. Er hat sich wie ein Vampir in ihr Leben geschlichen und sie ausgesaugt.

Dieser andere Mann wollte mich, seinen Rivalen, loswerden. Plötzlich häuften sich unangenehme Zwischenfälle in meinem Leben, die in einem durchtrennten Bremsschlauch meines Autos gipfelten. Ich sollte an diesem Sonntagvormittag sterben. Zwar bin ich nicht gestorben, sondern nur zum Krüppel geworden, aber er hat sein Ziel erreicht. Denn während ich im Krankenhaus lag und später auf Reha war, hat deine Mutter mit ihm eine Affäre begonnen. Das mit mir hat sie beendet. Ich wollte natürlich den Grund wissen, und sie hat mir eröffnet, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gibt.

Dieser neue Liebhaber ist gefährlich. Deine Mutter hat ihn unterschätzt.

Er will sie ganz für sich alleine haben. Er kann nicht teilen. Ich bete zu Gott, dass sie noch am Leben ist. Aber wenn sie sich von ihm trennen wollte, wird er sie mit sich genommen haben.

Bitte lass mich in Ruhe. Ich muss meinen Frieden finden, denn noch bin ich am Leben

Wenn es der Wahrheit entsprach, was Michael ihr mitteilte, musste sie seinen Nachfolger finden, den anderen Liebhaber ihrer Mutter. Sie hoffte, dass Michael den Namen kannte.

*

Das Unwetter war grollend weitergezogen. Als Macy aus der Kirche trat, war der Himmel strahlend blau. Auf der Straße lagen abgerissene Äste, Straßenschilder waren umgefallen, der Sturm hatte Mülleimer ausgeräumt. Ein Waschbär hoppelte fauchend über die Straße. Zwischen den Zähnen trug er ein aufgeweichtes Stück Brot. Ein Auto lag umgedreht am Straßenrand, die Reifen drehten sich noch in der Luft wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen war und hilflos mit den Beinen zappelte.

Macy richtete ihre Vespa auf, die der Sturm umgefegt hatte. Sie war bis auf einige Kratzer im Lack unbeschädigt. Sie musste mit Shailene über die Sache reden. Vor Aufregung hatte sie Magenschmerzen.

*

Vor Shailenes Haus drückte sich Mimi herum. Sie schlich um Shailenes Wagen. Als Macy auftauchte, begann sie zu rennen.

»Sag deiner Freundin, dass ich Bilder gemacht habe«, rief Mimi aus sicherer Entfernung. »Schöne Bilder für Miles.« Um ihren Hals baumelte eine Kamera.

»Verrückte Vogelscheuche«, murmelte Macy. Sie ging um den Jeep der Smiths herum und musste feststellen, dass Mimi einen Kratzer auf der Längsseite hinterlassen hatte. Vermutlich hatte sie einen Schlüssel unter dem Seitenspiegel angesetzt und dann einmal über den Lack gezogen.

Es war nicht gut, dass Mimi es auf Shailene abgesehen hatte. Sie war eine notorisch gewalttätige Person. Unweigerlich musste Macy an Mimis Versuch denken, eine Gabel ins Auge eines Lehrers in ihrer Cafeteria zu stoßen.

»Shailene?«, rief Macy, doch sie erhielt keine Antwort. »Diese verrückte Schlampe Mimi hat dein Auto zerkratzt.«

Da sich niemand meldete, ging Macy um das Haus herum und kletterte über das niedrige Gartentor, um in den Garten zu gelangen. Die Terrassentür war offen, aber das Wohnzimmer war leer. Ein Fernseher quäkte einsam vor sich hin.

Ein schnaubendes Geräusch wie von einem Dachs, der in der Erde nach Würmern sucht, lockte sie in den Garten. Im Schutz einer dichten Buchshecke auf einem quietschenden Gartentisch waren Shailene und Will zugange. Erschrocken ging Macy hinter einem Rosenbusch in die Hocke. Das hatte also Mimi mit der Kamera festgehalten. Miles würde toben. Er würde Shailene umbringen – so gläubig er auch war. Vor Panik brach Macy fast in Tränen aus. Sie hatte keine Ahnung, wie sie Miles beruhigen sollten.

Eigentlich hätte sie aufstehen und Mimi suchen müssen. Mimi war ein Junkie, und Geld war das größte Gut in ihrem Leben. Kein Preis würde Macy zu hoch sein, um die Fotos, die Mimi gemacht hatte, zu kaufen und damit Shailene zu retten. Mit dem Geld würde sich Mimi einen letzten Schuss setzen, und so würde sich auch dieses Problem erledigen.

Macy blieb aber wie angewurzelt hinter dem Rosenbusch hocken, die Augen gebannt auf Shailene und ihren Bruder gerichtet. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden.

Will liebte ihre Freundin, wie auch sie Shailene liebte. Macy kniete sich in die Wiese. Shailene war die Sternschnuppe in ihrem Leben.

*

Macy saß zufällig neben dem Telefon und las Zeitung, Ian lag zu ihren Füßen am Boden und sortierte Buntstifte, als das Telefon klingelte. Es war Detective Clay, der mit ihr über Michael Norton reden wollte.

»Also, wie gesagt, die Polizeiarbeit sollten Sie mir überlassen.« Er sprach sehr langsam mit ihr, sie spürte jedoch, dass er sie am liebsten in der Luft zerrissen hätte.

»Haben Sie Michael Norton verhaftet?«, fragte Macy zaghaft.

»Natürlich nicht. Mit der Familie Norton sollte man sich nicht anlegen.«

»War Michael mit meiner Mutter im Faraway Inn?«

»Ein Blick in die Bücher hat alles beantwortet. Ja, er war dort. Mr. Norton hat das auch sofort zugegeben. Ihre Mutter hatte ihn darum gebeten. Ihm ist es gelungen, sich aus der Klinik zu schleichen. Es gibt dort eine Schwester, die ihn deckt. Im Faraway Inn hatte er Zimmer 117 gebucht.«

»Warum verhaften Sie ihn dann nicht?«, wollte Macy verzweifelt wissen. Sie verstand die Welt nicht mehr.

»Mr. Norton ist unschuldig. Er ist selbst auf jemanden hereingefallen. Zur Tatzeit hat er ein Alibi, denn er war ausgeknockt. Ein Mädchen hat ihm im Motel einen Drink spendiert. In den Drink muss sie etwas gemischt haben, denn Mr. Norton war dann bis zehn Uhr morgens nicht bei Bewusstsein. Aktuell können wir nicht sagen, wer diese Person ist oder was sie im Motel gemacht hat. Mr. Nortons Geschichte wurde von einem Pharmavertreter bestätigt, der ebenfalls in dem Motel übernachtet hat und sich um Mr. Norton gekümmert hat. Das Zeug war nämlich so stark, dass er eine Art epileptischen Anfall hatte. Er hat das Motel die halbe Nacht auf Trab gehalten. Jetzt ist auch verständlich, warum niemand etwas mitbekommen hat. Bisher konnten wir keinen Zeugen finden, der Geräusche oder Lärm aus Zimmer 116 gehört hat.«

»Warum hat Michael meine Mutter in das Motel begleitet?«

»Er sollte sie vor einem Mann beschützen. Er bezeichnet ihn als ihren anderen Liebhaber.«

»Hat Michael einen Namen? Wer ist das?«

»Er hat keinen. Wir werden aber herausfinden, wer das ist. Und das wird meine Aufgabe sein, nicht Ihre. Sie gefährden den Ermittlungserfolg, indem Sie irgendwelchen Spuren nachgehen. Ich bitte Sie ein letztes Mal, etwas mehr Vertrauen in mich und meine Kollegen zu haben.«

*

Macy warf sich unruhig in ihrem Bett herum. Die Sache mit Michael ließ sie nicht los. Sie konnte nicht glauben, dass er im Motel gewesen war, aber nichts mit der Angelegenheit zu tun haben sollte. Es ergab doch keinen Sinn, dass ihn jemand unter Drogen gesetzt hatte. Wütend vergrub sie sich tiefer in ihrer Bettwäsche.

Da sie nur an der Oberfläche ihres Bewusstseins schwamm und noch nicht in die tieferen Schichten hinabgetaucht war, weckte sie das schabende Geräusch. Eine Tür fiel irgendwo ins Schloss.

Macy war sofort hellwach und musste an den ungebetenen Gast denken, der sich in ihr Haus geschlichen hatte. In ihrem Kopf zersprang eine Fensterscheibe. Sie lief ans Fenster und riss den Vorhang zur Seite, um zu sehen, ob durch den Garten wieder ein Schatten jagte. Vor ihr lag das blauschwarze Dickicht, das nur von kleinen Lichtpunkten erhellt wurde; Glühwürmchen, die über die Wiese tanzten.

Eine dünne Mondsichel hing wie eine ausgebleichte Banane am Himmel. Ein kleiner Schatten taumelte durch die Wiese zur Garage. Dort, wo der Schatten huschte, teilten sich die Glühwürmchenwolken und stoben zur Seite.

Es war kein Hund oder ein Reh, sondern eine Kindergestalt. Das musste Ian sein, der wieder schlafwandelte. Vermutlich suchte er noch immer nach diesem Karton in der Garage. Sein unsichtbarer Indianerfreund redete ihm das ein. Sie musste Ian aufhalten, bevor er noch das Messer in dem Handtuch aufstöberte, von dem sie nicht wusste, wer es versteckt hatte und wessen Blut an der Klinge klebte.

Ian kratzte wieder am Holztor der Garage. Seine Nägel fuhren über das raue Holz. Hastig verließ Macy ihr Zimmer.

Sie knipste das Licht über dem Garagentor an, und sofort begann die Glühbirne, nervös zu flackern.

»Ian?« Sie versuchte, ihn wach zu rütteln, doch es half nichts. Er blieb in seiner Trance gefangen und wollte in die Garage gelangen. Letztendlich gab Macy nach und schob vorsichtig das Tor auf. Sie war auch neugierig, was er in der Garage wollte.

Über der Werkbank knipste sie eine weitere Glühbirne an. Zielstrebig, als ob er sich an einem roten Faden entlanghangelte, steuerte Ian durch die Garage. Er kroch unter ein Kabinett, dessen Glastüren mit Spinnweben bedeckt waren. Auch wenn Macy fürchtete, er könnte sich die Hände an dem Holz blutig reißen, ließ sie ihn gewähren.

Ian holte unter dem Kabinett eine mit Rost angelaufene Keksdose hervor. Er packte die rostige Dose, marschierte zu Macy und warf sie ihr vor die Füße. Scheppernd fiel die Dose zu Boden. Der Lärm weckte ihn. Er riss seine Augen weit auf und rief: »Finde endlich unsere Mutter.«

Der Deckel der Dose sprang auf, und ihr Inhalt ergoss sich auf den Boden.

»Ian, du hast geträumt.« Macy streichelte ihrem Bruder über den Kopf, der sie mit glasigen Augen anstarrte.

In der Dose befanden sich verblichene Fotos und alte Dokumente. Da die Fotos ihre Mutter zeigten, hatte Macy einen Verdacht, wer die Dose versteckt haben konnte. Sie war länger nicht geöffnet worden, denn der Rost hatte auch das Papier teilweise verfärbt.

Solche Fotos kannte Macy von ihrer Mutter nicht. Sie war noch nicht diese attraktive Frau, die alle Männer um den Finger wickeln konnte, sondern ein junges Mädchen, kaum älter als Macy, das geblümte Arbeitsschürzen trug, eine schreckliche Dauerwelle hatte, falsche Perlenohrringe in den Ohren und eine ungezupfte Monobraue wie Frida Kahlo. Kein Wunder, dass Charlotte diese Bilder versteckt hatte.

Am Boden der Kiste entdeckte Macy ein Foto, das ihre Mutter mit einem Mann vor einer Holzhütte zeigte, die von einem lichten Wald umgeben war. Im Hintergrund erhob sich eine Villa. Der Mann kam Macy eigenartig bekannt vor.

Hinten auf der Fotografie hatte ihre Mutter notiert: Ich und Luigi, Southport 1961. Und an der Hand ihrer Mutter steckte ein Ehering.

Da war er, ihr Beweis. Ihre Mutter kannte Luigi Gennarone von früher. Sie waren sich in der Vergangenheit begegnet. Auf der Fotografie war Gennarones Gesichtshälfte noch nicht vernarbt. Er war ein Schatten aus der Vergangenheit ihrer Mutter, der aufgetaucht war, und nun war ihre Mutter verschwunden. Wenn das kein Zufall war.

Wenn es stimmte, was Michael gesagt hatte, dann musste ihre Mutter Luigi Gennarone im Faraway Inn getroffen haben. Der alte Muffel Clay konnte sagen, was er wollte, doch Macy wusste, dass sie nach Southport fahren musste. Vielleicht würde sie dort ihre Mutter finden oder zumindest eine Antwort, was mit ihr geschehen war. Auf die Hilfe der Polizei konnte sie erst einmal nicht hoffen.