Die Vergangenheit muss ruhen
Im Hafen herrschte buntes Treiben. Die Crème de la Crème der feinen segelnden Gesellschaft der Ostküste war angereist, um der Regatta beizuwohnen und sich vor allem in ihrer vollen Schönheit zu präsentieren. Weiße Pluderhosen, bauschige Röcke, feine Leinensakkos, Seidenblusen, rot-blau gestreifte Jacketts und Strohhüte mit bunten Seidenbändern und Blumenbouquets stolzierten die Promenade entlang.
»Dass Southport so schick sein kann, hätte ich nicht gedacht«, meinte Shailene beeindruckt.
»Wir müssen zur Chinaberry Lodge«, erinnerte Macy, die keinen Blick für das bunte Treiben hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Gennarone, wie er mit der Lederrute brutal und gleichzeitig sanft über die Schultern der Frau gefahren war, die demütig vor ihm auf dem Boden gekniet hatte. Sie dachte an den Altar in der Lodge, der ihrer Mutter gewidmet war. Nur diese von Blut durchtränkten Mullbinden in den Schraubgläsern verstand sie nicht.
Außerhalb des Hafens trieben mehrere Segelboote im Wasser, die an der Regatta teilnehmen würden. Der Wind blähte die weißen Segel, zwischen den Masten schwebten Möwen, die Takelage knarzte.
Sie sahen sich im Hafen um, ob ihnen Gennarone auffiel und damit die Luft rein war, sodass sie zur Lodge konnten. Hafen und Promenade waren übersichtlich. Die Chancen standen gut, ihn zu entdecken.
Sie schlenderten im warmen Sand, der zwischen ihren Zehen hervorquoll, die Promenade im Blick. Am Strand herrschte ein aufgeregter Badebetrieb, in dem sie hofften, unterzugehen. Während der Nacht waren Muscheln, Seeigel und Seetang am Strand angeschwemmt worden. Macy hob eine Scherbe auf und hielt sie gegen das Sonnenlicht. Grün-blau brach sich das Licht im Glas.
Das Meer gluckerte verlockend. Shailene raffte ihr Kleid, und Macy krempelte ihre helle Chino hoch. Bei jedem Schritt sank sie schmatzend im Schlick ein. Das Meerwasser war warm und klebrig. Kleine schwarze Punkte tanzten im hellen Schaum.
»Der Congaree ist nichts gegen das Meer«, verkündete Shailene. »Ich liebe den Atlantik.«
Die Sonnenbrille vor die Augen geschoben, beobachtete Macy die Badenden und die Promenade. Mehrere Male meinte sie, den schweren Mann in der Menge auszumachen. Sie täuschte sich aber jedes Mal, nachdem ein heißer Schauer sie für mehrere Sekunden gequält hatte.
»Sei nicht so ernst, Macy«, trällerte Shailene ausgelassen. Sie hatte schon einige Volleyballspieler im Visier. Einer der braun gebrannten Typen hatte mit Shailene Blickkontakt aufgenommen.
»Wollen wir eine Pause einlegen und Volleyball spielen?«, fragte Shailene, doch da entdeckte Macy den olivgrünen Jeep, der vor einem Herrenausstattergeschäft parkte.
»Der Jeep, Shailene.«
Ihre Freundin blickte zur Promenade, auch wenn es ihr schwerfiel, ihre Aufmerksamkeit von den Volleyballspielern abzuwenden. »Bist du dir sicher, Macy?«
»Der Jeep hat so einen Aufsatz. Das ist der Wagen, der vor Gennarones Haus stand.«
Während Macy hinter einem Strandkorb in Deckung ging, da Gennarone ihr Gesicht kannte, pirschte sich Shailene möglichst unauffällig zu dem Geschäft, um einen kurzen Blick durch die Schaufensterscheibe zu werfen.
Als sie zurückkam, reckte sie den Daumen nach oben.
Sie parkten ihren Wagen vor einem Nachbargrundstück in der Nähe der Chinaberry Lodge, um nicht aufzufallen. Da sie schätzten, dass die meisten Kameras auf das Haus gerichtet waren, schlichen sie sich von der ungesicherten Westseite des Grundstücks in den Kiefernwald.
Der Boden war dicht mit Kiefernnadeln bedeckt und von Schatten gesprenkelt. Zwischen den Bäumen wuchsen gedrungenes Heidekraut und Glockenblumen.
Es war eigenartig still. Kein Windhauch ging durch die Baumkronen, kein Vogel zwitscherte. Der Wald wirkte unecht, fast tot. Es war, als ob sie durch einen Plastikwald einer Modelleisenbahn gingen.
Macy hatte das Gefühl, dass ihr Herzschlag den Waldboden erzittern ließ. Auch Shailene atmete schwer neben ihr. Je länger sie durch den Wald schlichen, desto mehr stieg ihre Nervosität.
Die Bäume öffneten sich zu einer Lichtung, auf der die verkohlten Überreste einer Holzhütte standen. In der verwilderten Wiese, die nur an manchen Stellen heruntergetrampelt war, leuchtete blauer Storchschnabel wie Sterne am Nachthimmel.
Wie verfaulte Zahnstumpen, über die sich ein grüner Belag zog, ragten die Überreste der Hütte in den Himmel. Das Dach war teilweise eingefallen. Es hatte mal eine Holzterrasse gegeben, auf der noch ein Schaukelstuhl mit einem moosüberzogenen Kissen stand. Über dem Kissen schwirrten Käfer. Auf der Terrasse waren verbeulte Töpfe gestapelt, in denen Sumpfgräser blühten. Über einem Fenster, das nur noch ein dunkles Loch war, hing ein Windspiel aus angelaufenen Löffeln, die im Wind klimperten.
Es gab einen verwilderten Gemüsegarten mit Sonnenblumen und Johannisbeersträuchern. Aus einem Briefkasten, der auf einem Pfosten befestigt war, von Kapuzinerkresse und Winden fast völlig zugewachsen, ragten aufgeweichte Zeitschriften und Briefe, die sich zu einer Pappmascheemasse verfestigt hatten.
Zufrieden hielt Macy die Fotografie aus dem Jahr 1961 hoch und verglich sie mit der Gegenwart. Der Briefkasten und sogar die Töpfe auf der Terrasse fanden sich auf dem Foto wieder.
»Glaubst du, wir können reingehen?«, fragte Shailene, aber Macy war nicht den weiten Weg gekommen, um die Hütte nur von außen anzustarren – so baufällig sie auch war.
Vorsichtig betraten sie die morsche Terrasse. Das Holz ächzte unter jedem ihrer Schritte. Sie bogen einige Bretter zur Seite, um in das Innere der Hütte zu gelangen. Durch das Dach fiel Sonnenschein. Drinnen wucherte eine wilde Flora. Rot-gelbe Schimmelflechten zogen sich über das verkohlte Holz.
»Pass auf, wo du hintrittst«, warnte Macy Shailene.
Sie schlichen sich zurück in die Vergangenheit.
Die Hütte hatte aus drei Räumen bestanden. Nur noch teilweise waren die Wände vorhanden, sofern sie nicht eingestürzt waren. Der Ort, den ihnen das Mädchen aus der Bibliothek beschrieben hatte, befand sich im größten Zimmer. In einem Halbkreis standen dicke, weiße Kerzen auf dem Boden. Wachs bedeckte teils in mehreren Schichten das Holz. In der Mitte dieses Kreises stand ein Holzstuhl. Gegenüber waren gepolsterte Sessel aufgestellt. Neben den Sesseln auf dem Boden lagen Eisenringe, wie sie Macy in dem Zimmer mit den Masken gesehen hatte. Eine Ledermaske, deren Mund mit Nägeln verschlossen war, lag auf einem Sessel.
»Was ist das hier?«, flüsterte Macy. »Wo ist meine Mutter?« Sie ging zu dem Holzstuhl und wollte sich hinsetzen, als aus dessen Schatten eine Schlange mit breitem Kopf und kleinen Hörnern über den Augen hervorschnellte. Hektisch trat Macy einen Schritt zurück, brach aber in den morschen Boden ein, ruderte mit den Armen und wäre beinahe gestürzt, wenn ihr Shailene nicht zu Hilfe geeilt wäre.
»Raus?«, fragte Shailene ungeduldig. Auch Macy hatte genug, und gemeinsam stürmten sie aus der Hütte.
Draußen wurden sie bereits erwartet. Luigi Gennarone klatschte in die Hände, begleitet von einem breitschultrigen Mann in olivfarbener Tarnkleidung und der Frau, die gestern am Boden vor ihm gekniet hatte und nun kurze, blonde Haare hatte und in ihren Bluejeans mit dem pinken T-Shirt ganz unauffällig wirkte. Grauer Rauch kräuselte sich aus seinem Mund. Zwischen seinen Lippen klemmte eine Zigarre.
»Die kleine Macy Wood. Wolltest du mir verraten, wo sich deine Mutter versteckt hat?« Er klang ungeduldig und nicht sehr freundlich.
»Das könnte ich genauso gut Sie fragen. Was haben Sie ihr angetan?«, schrie Macy aufgebracht. Ihre Stimme überschlug sich.
Irritiert sah Gennarone sie an. Dann brach er in raues Gelächter aus. »Vielleicht sollten wir etwas klären. Die Einzige, die Schuld auf sich geladen hat, ist deine verdammte Mutter. Sie hat uns alle im Stich gelassen.«
Widerstrebend folgten die Mädchen Gennarone durch den Kiefernwald zurück zum Haus. Er führte sie zu einem viktorianischen Gewächshaus, das von bunten Faltern bewohnt war. An einem alten Eisentisch nahmen sie Platz.
Die Frau mit der blonden Bobfrisur brachte eine Wasserkaraffe, in der Orangen- und Zitronenstücke schwammen. Erst als Gennarone selbst mehrere Gläser hinuntergekippt hatte, trauten sich auch Macy und Shailene zu trinken.
Der Mann in der olivgrünen Kleidung hatte sich neben der Tür postiert. Babykopfgroße blaue Falter umschwirrten ihn.
»Wo ist meine Mutter?«, wollte Macy wissen. Sie umklammerte das kühle Metall der Tischplatte.
»Noch etwas Loukoumades?« Die Blondine reichte ihnen ein silbernes Tablett mit klebrigen Süßigkeiten.
»Diese Frage stelle ich mir schon seit einigen Tagen. Deine Mutter hat einen wichtigen Notartermin versäumt.« Sein Lächeln war bitter. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie hat mich wieder zum Narren gehalten. Edith, die große Spielerin. Sie war schon immer eine Falschspielerin, aber ihre Tricks sind brillant.« Er räusperte sich. »Zuerst dachte ich, sie wäre abgehauen, aber wie es aussieht, ist sie ermordet worden. Die Polizei hat mir keine Hoffnung gemacht.« Er schluckte schwer. Der Adamsapfel tanzte an seinem Hals. »Nie hätte sie ihr geliebtes Oldsmobil geopfert. Und in diesem Motel ist definitiv jemand ermordet worden. Ich denke, ihr letzter Kartentrick war schlecht, und sie hat sich die Finger verbrannt. Die wunderbare, Männer verspeisende Edith ist von ihrem Liebhaber ermordet worden.«
»Sie meinen Charlotte«, unterbrach Shailene.
»Charlotte ist ihr zweiter Vorname. Vierundzwanzig Jahre lang wurde sie Edith gerufen. Aber, man kann alles wechseln.«
Macy sah ihn verständnislos an.
»Ich kenne Edith seit ihrer Geburt. Vielleicht sollte ich dir die Augen öffnen, Macy. Du hast das verdient. Dass du es überhaupt bis hierher geschafft hast, verdient Anerkennung. Deine Mutter ist eine Lügnerin.«
Gennarone sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Seine Lippen waren schmal und verkrampft.
»Egal, was sie dir erzählt hat, sie stammt wie ich aus Chicago aus bescheidenen Verhältnissen. Wir sind in Wohntrailern nebeneinander aufgewachsen und haben gemeinsam die Höhen und Tiefen einer Kindheit in der Unterschicht erlebt – kein Geld, Arbeitslosigkeit und zu viel Alkohol. Ihr Vater hat sie genauso verprügelt wie meiner mich. Aber das hat uns nur zusammengeschweißt. Wir waren füreinander da und haben gemeinsam unsere blauen Flecken gezählt. Als wir siebzehn waren, haben wir geheiratet. Es war die einzige Möglichkeit, den Teufelskreis zu durchbrechen. Dann sind wir abgehauen. Wir hatten keine Kohle und keine Idee, was wir mit uns anfangen sollten. Wir haben dann das Housekeeping für uns entdeckt. Tolle Häuser, wir hatten unsere Ruhe und sind gut über die Runden gekommen. Und wenn uns alles gestunken hat, sind wir nach Kalifornien zur Orangenernte getrampt. Es hätte ein gutes Leben sein können, aber dem standen wir selbst im Wege. Ich habe getrunken, Edith hat anderen Männern schöne Augen gemacht. Es war nicht Liebe oder Lust, sondern es ging ihr immer nur um Geld. Keiner kann besser Geld verjubeln als Edith. Ich hab sie mit jedem erwischt – selbst einem Pfarrer. Sie hat keine Gelegenheit ausgelassen. Sie war keine Prostituierte, aber eine Person, die gerne ein schönes Kleid angezogen, Männer aufgerissen und dann später ihre Hand aufgehalten hat. Im Winter 1961, als wir die Chinaberry Lodge gehütet haben, waren wir ganz unten angekommen. Über Neujahr hat uns mein Bruder besucht. Er war verheiratet, Vater zweier Kinder, und natürlich hat sich Edith nicht beherrschen können. Vielleicht wollte sie mich auch für mein Trinken bestrafen. Wir hatten einen schrecklichen Winter hinter uns. Nachdem ich sie mit meinem Bruder erwischt hab, bin ich ausgerastet. Mein Bruder ist sofort verduftet. Eigentlich wollte ich Edith an Ort und Stelle erschießen. Dann habe ich sie an den Herd gekettet. Sie sollte meine Gefangene sein. Ich konnte sie nicht umbringen. Das ging dann mehrere Wochen so. Das Ende muss sie von langer Hand geplant haben. Sie hatte ja viel Zeit zum Nachdenken am Herd. Als ich geschlafen habe, hat sie sich befreit. Bis heute weiß ich nicht, wie sie an diesen Schraubenschlüssel gekommen ist. Sie hat das Haus angezündet und ist geflohen. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich überlebt habe. Sie hat einen falschen Namen angenommen und ist untergetaucht. Hätte man sie geschnappt, wäre sie für viele Jahre ins Gefängnis gewandert. Das hätte mir Rache bedeutet. Und wenn sie genug gelitten hätte, hätte ich sie wieder rausgeholt – als ihr weißer Ritter. Sie war weg. Eine Scheidung hat es deswegen nie gegeben. Edith ist noch immer meine Ehefrau. Während sie Thomas Wood kennengelernt und sich so etwas wie eine bürgerliche Existenz geschaffen hat, habe ich Jesus entdeckt und den Geschmack von einem guten Steak. Ich hab ein Unternehmen aufgebaut und bin zu beachtlichem Reichtum gekommen. Aber keine Minute meines Lebens habe ich Edith vergessen können. Anfangs habe ich noch nach ihr gesucht, aber irgendwann habe ich es aufgegeben. Sie war zu gut. Dann bin ich ihr im Herbst letzten Jahres rein zufällig in Columbia über den Weg gelaufen. Ich war geschäftlich dort und wollte in einer Bar nur Zigaretten holen, als sie plötzlich vor mir stand. Sie hatte sich so verändert, dass ich sie zuerst nicht erkannt habe. Ihr erschrockener Aufschrei hat sie mir aber ins Gedächtnis zurückgeholt.«
»Aber was wollen Sie von meiner Mutter? Sie hat eine Familie.«
»Sie ist noch immer meine Ehefrau. Ihre Ehe mit deinem Vater muss annulliert werden. Er ist pleite, Edith liebt das Geld und war nicht mehr mit ihrem Leben zufrieden. Ich hatte ihr ein sehr gutes Geschäft vorgeschlagen. Sie sollte zu mir zurückkehren und endlich ihre Geldsorgen vergessen. Ian hätte eine gute Privatschule besuchen können und du in Europa studieren. Natürlich hätte ich für euch gesorgt, anders als euer unfähiger Vater. Denn ich glaube noch immer daran, dass wir füreinander bestimmt sind. Wir sind heute andere Menschen als damals, und es könnte gelingen.«
»Wenn das alles so verlockend war, wo ist meine Mutter jetzt?« Charlotte hatte Angst gehabt. Macy konnte ihm nicht glauben. Es war zu widersprüchlich. Erst redete er von Rache, dann wollte er ihr finanziell unter die Arme greifen. »War es nicht so, dass Sie ihr gedroht haben, sie andernfalls an die Justiz auszuliefern? Ich hab beobachtet, wie Sie mit meiner Mutter gestritten haben!«
»Falsch gedacht. Die Taten sind verjährt.«
»Aber es war versuchter Mord. Mord verjährt nicht!«
»Ich wollte mit deiner Mutter neu beginnen. Sie wollte das auch. Wir hatten bereits alles in die Wege geleitet. Es existiert auch eine entsprechende Erklärung mit ihrer Unterschrift, wenn ihr mir nicht glaubt. Nur gab es noch eine Angelegenheit, die sie klären wollte. Keine Ahnung, um was es da ging. Deine Mutter scheint sich die Finger verbrannt zu haben, oder hast du eine Ahnung, was in diesem verdammten Motel passiert ist?«
Macy kniff die Lippen zusammen. »Hat sich meine Mutter mit Ihnen im Faraway Inn getroffen?«
»Nein. Ich war das ganze Wochenende einschließlich Montag im Hotel. Das könnt ihr überprüfen. Sonntagnacht hab ich mit einem Geschäftspartner an der Hotelbar bis in den frühen Morgen getrunken. Die Polizei behauptet, Edith hätte eine Affäre gehabt. Entweder ihr Liebhaber oder ihr Ehemann hat ihr was angetan. Ich tendiere aber zum Ehemann.«
Unweigerlich musste Macy an das Messer denken, das in ihrer Garage hoffentlich noch immer versteckt war.