Das rote Kleid
Gegen Mittag traf Macy aus Southport wieder zu Hause ein. Es war ein heißer Tag. Will war nach Orlando aufgebrochen, um den Sportwagen zu überführen, Ian hatte sich in sein Fort zurückgezogen, und ihr Vater war damit beschäftigt, ein Konto auf den Keyman-Inseln einzurichten, um das Geld aus dem Tresor vor Justiz und Steuer zu verstecken.
Macy ging in den Keller, um Wäsche zu waschen. Bisher hatte sich niemand dazu berufen gefühlt, und die Wäscheberge türmten sich vor der Maschine. Sie setzte sich auf den Boden und sortierte Röcke, kurze Hosen, Slips und stinkende Socken. Als ihr ein rotes Kleid mit weißer Spitzenbordüre ihrer Mutter in die Hände fiel, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
Sie erinnerte sich an den Tag, als ihre Mutter das Kleid getragen hatte. Es war das letzte Juni-Wochenende gewesen, noch nicht einmal drei Wochen her. Ihre Mutter hatte an diesem Samstag einen Ausflug mit einer Freundin zum Lake Murray gemacht und war mit einem Sonnenbrand und Windbeuteln zurückgekehrt. Jetzt wurde Macy einiges klar. Sie war mit keiner Freundin unterwegs gewesen, sondern mit ihrer Affäre. Das hatten sie von der alten Dame in dem Café am See erfahren. Mit dem Daumennagel kratzte sie an einem dunklen Fleck auf dem roten Stoff.
Sie hatte furchtbare Angst, dass ihr Vater doch etwas mit dem Verschwinden ihrer Mutter zu tun haben könnte. Er hatte ein Motiv – auch wenn er keine Affäre hatte. Ihre Mutter hatte ihn gedemütigt.
Außerdem hatte Michael Norton ein Alibi, Luigi Gennarone hatte zumindest erklärt, nichts mit der Sache zu tun zu haben, und auch er schien ein Alibi zu haben, aber sonst gab es niemanden, den sie mit dem Verschwinden ihrer Mutter in Verbindung bringen konnte.
Gerade hängte sie die Wäsche auf einer Leine zwischen zwei Ahornbäumen auf – Ian nervte sie schon die ganze Zeit, da er Steinchen über die Leine warf und dabei auch saubere Wäschestücke traf –, als Detective Clay die Einfahrt hinaufkam. Er hatte wieder die Spurensicherung, einen Trupp weißer Gespenster, hinter sich. Macy erstarrte. Da Blut in ihre Ohren schoss, strich sie ihr Haar davor. Sie dachte an das Messer in der Satteltasche.
Ihr Vater trat aus dem Haus und machte ein überraschtes Gesicht.
»Der Durchsuchungsbefehl.« Clay wedelte mit einem Papier in der Luft. »Damit alles vorschriftsgemäß abläuft. Dürfen wir Ihre Garage unter die Lupe nehmen?«
»Warum?«, fragte ihr Vater.
»Ihrer Nachbarin, Mrs. Erens, ist noch etwas eingefallen. Sie hat am Dienstagmorgen, als Ihre Frau bereits verschwunden war, eine Beobachtung gemacht.«
Macy lief puterrot an. Dave hatte sie frühzeitig gewarnt, und sie hätte das Messer entfernen können. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass die Polizei zurückkommen und die Garage durchsuchen würde.
»Was hat Mrs. Erens denn beobachtet?«
»Durchsuchen wir doch zuerst Ihre Garage.«
Es dauerte keine Stunde, und die Spurensicherung hatte das Messer in der Satteltasche des Fahrrads gefunden. Die ganze Zeit hielt sich Macy panisch im Hintergrund und beobachtete die herumkriechenden Gespenster.
»Ist das die Mordwaffe? Haben Sie damit Ihre Frau umgebracht?« Clay, dessen Hände in Latexhandschuhen steckten, hielt das Messer in die Luft, das in dem bräunlich blutigen Handtuch eingewickelt gewesen war.
»Verdammt, nein! Was will Mila beobachtet haben? Ich kenne dieses Messer nicht.«
»Das ist ein Armymesser. Sie waren doch bei der Army?«
»Nein, ich wurde ausgemustert. Ich hatte in meiner Jugend einen Autounfall, und seitdem ist mein Rücken kaputt. Was hat Mila beobachtet?« Ihr Vater rang nach Luft.
»Jemand ist frühmorgens mit einem Bündel auf Ihrem Grundstück herumgeschlichen, hat damit die Garage betreten und ist ohne das Bündel wieder rausgekommen.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Gegen sechs.«
»Das kann ich nicht gewesen sein!« Ihr Vater schrie triumphierend auf, und sein Finger schnellte in die Luft. »Montagnacht habe ich mit Uncle Joe Karten gespielt. Wir haben etwas über den Durst getrunken, und er hat mich am Morgen ins Büro gefahren, da ich noch Restalkohol hatte. Rufen Sie ihn an! Sie können es sofort überprüfen!«
»Das werden wir. Wann genau war das?«
»Ich bin gegen elf Uhr bei ihm gewesen.«
»Aber ich frage mich, wer dann auf Ihrem Grundstück herumgeschlichen ist, Mr. Wood?« Der Detective hatte etwas gegen ihren Vater. Ganz offensichtlich.
»Na, derjenige, der mir was anhängen will! Dieser Liebhaber meiner Frau!«
Macy musste an den nächtlichen Gast denken, der sich in ihr Haus geschlichen hatte. Derjenige, der vermutlich auch die Dinge von dort hatte verschwinden lassen. Aber diese Person war niemandem bekannt.
»Nur wer ist das? Mr. Norton konnten wir ausschließen. Dass Ihre Frau eine Affäre mit ihm hatte, war Ihnen bekannt?«
»Michael?« Doch die Reaktion war zu langsam. Ihr Vater hatte zumindest etwas vermutet.
»Und sagt Ihnen der Name Luigi Gennarone etwas? Offiziell ist Ihre Frau noch mit ihm verheiratet. Es hat sich ein Rechtsanwalt bei uns gemeldet, den Ihre Frau vor ihrem Verschwinden konsultiert hat. Sie wollte ihre Ehe mit Ihnen annullieren lassen. Das anwaltliche Schreiben muss Ihnen am Freitag vor dem Verschwinden Ihrer Frau zugestellt worden sein.«
Clay knackte mit den Fingern. Es sah noch immer schlecht für ihren Vater aus.
Das Telefon klingelte. Es war Kevin.
»Macy, bevor du irgendwas sagst, muss ich mich bei dir entschuldigen. Es tut mir schrecklich leid. Ich hätte meine einzige Freundin nicht verletzen sollen«, sprudelte es aus ihm heraus.
Macy hatte keine Zeit mehr gehabt, über den Vorfall unter dem Jacarandabaum nachzudenken und was er in ihr ausgelöst hatte.
»Es hat mir gefehlt, etwas mit dir zu unternehmen. Kannst du mir verzeihen?«
»Ist schon okay«, flüsterte sie. Natürlich war es nicht okay, aber sie musste damit abschließen.
»Ich hab meine Kontakte bei der Polizei aktiviert und etwas rausgefunden, das dich interessieren dürfte. Ich denke, Michael Norton hat uns angelogen. Er hat die Theorie mit dem weiteren Liebhaber verbreitet. Was, wenn es gar keinen anderen Liebhaber gibt und er sich das alles nur ausgedacht hat und hinter allem in Wahrheit Michael steckt?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Macy überrascht.
»Ich hab die Akte über seinen Unfall gelesen. Die Polizei hat das damals als Selbstmordversuch eingestuft. In der Akte steht, dass Michael Norton psychisch instabil und paranoid ist. Die Gutachter kommen zu dem Schluss, dass es sich um einen Selbstmordversuch gehandelt und keine Manipulation des Wagens vorgelegen hat. Und warum sollte es einen weiteren Liebhaber geben? Deine Mutter hat Michael schließlich weiterhin in der Klinik besucht. Und noch was. Dieser Pharmavertreter, der bestätigt hat, dass er sich im Motel um Michael gekümmert hat, Michaels Alibi, arbeitet für eine Firma, die den Nortons gehört. Ich an seiner Stelle würde dem Sohn meines Arbeitgebers auch ein Alibi verschaffen.«
Macy war beeindruckt, was Kevin alles herausgefunden hatte. »Und jetzt?«, fragte sie unsicher.
»Wir müssen natürlich in die Klinik und Michael zur Rede stellen.«
Macy dachte an den Drohbrief von Michaels Anwälten, entschied dann aber, dass sie sich nicht einschüchtern lassen würde.
Es war fast tröstlich, in dem keuchenden Monte Carlo die Steigungen hinauf zur Klinik zu nehmen. Macy atmete langsam ein und aus und summte ein Lullaby.
Der verwunschene Park, der das Green Hill Hospital umgab, wisperte und knackte in der mittäglichen Hitze.
Macy entdeckte Michael im lichten Schatten sitzend an einen Baumstamm gelehnt. Er trug eine Pilotensonnenbrille und ein viel zu großes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Er kaute auf irgendwelchen Blättern, die er aus der Wiese zupfte.
»Michael?«
»Was macht ihr denn hier?« Mit glasigem Blick betrachtete er sie und Kevin.
»Wir wollen noch mal mit dir über meine Mutter reden.«
»Du denkst noch immer, dass ich ihr was angetan habe?«
»Dein Gerüst aus Lügen fällt in sich zusammen. Warum hat dich meine Mutter hier besucht, obwohl sie doch eine Affäre gehabt haben soll und die Sache mit dir beendet hatte. Gib zu, dass es diesen anderen Liebhaber gar nicht gibt. Du hast dir diese Geschichte ausgedacht – genau wie deinen Autounfall. Das war ein Selbstmordversuch!«
Erschrocken sah Michael sie an. Sein linkes Augenlid begann zu zucken. Macy fürchtete schon, dass er wieder einen Anfall vortäuschen würde. Seine Fingerspitzen bohrten sich bereits panisch in den Boden.
»Wag es ja nicht, dich wieder in einen Anfall zu flüchten. Du bist nicht krank, sondern nur ein guter Schauspieler.«
Michael holte tief Luft. Er nahm all seine Kraft zusammen und sagte mit gefasster Stimme: »Ich hab deine Mutter geliebt. Warum sollte ich ihr etwas antun? Siehst du nicht den teuflischen Plan? Er will es mir anhängen. Die ganze Zeit rechne ich damit, dass ich verhaftet werde. Ich hab dir die Wahrheit gesagt, Macy Wood. Mit dem Verschwinden deiner Mutter hab ich nichts zu tun.«
»Du hast kein Alibi, da du deinen Zeugen bestochen hast. Der Mann arbeitet für die Firma deines Vaters. Und für dieses Mädchen gibt es auch keinen Beweis.«
»Dieses Mädchen kam zu mir an die Bar. Sie war so ein Hippie. Sie trug ein gebatiktes Kleid und hatte ihr Haar hochtoupiert. Sie hat mich ziemlich offensiv angemacht.« Seine Schultern fielen wie Eischnee zusammen. »Ich hab versagt und deine Mutter nicht beschützen können. Denn das wollte sie. Sie hat sich in dem Motel mit dem anderen Liebhaber getroffen, um die Beziehung zu beenden, und ich sollte ihr helfen, falls er ausrastet. Sie hatte Angst vor ihm.«
»Und wer sagt uns, dass du nicht lügst?«, wollte Kevin wissen.
»Ich hab einen Brief von Charlotte, in dem sie von dem anderen Liebhaber schreibt. Das ist der Brief, mit dem sie unsere Beziehung damals beendet hat.«
Michaels Hände zitterten wie Espenlaub.
Michael rückte zwar den Brief nicht raus, denn er war ihm heilig – ein Schriftstück seiner Geliebten. Aber Macy und Kevin durften ihn lesen. Das Papier war mehrfach gefaltet, zerknittert und von Tränen durchnässt worden. Es war unverkennbar die Handschrift ihrer Mutter, und sie schrieb Michael von einem anderen Mann, den sie in einer Bar kennengelernt hatte.
»Was ist das für eine Bar?«, wollte Macy wissen.
»Das Pikass, schätze ich. Charlotte hat dort gepokert. Ich bin dort nie hin. Er soll in der Bar gearbeitet haben. Es hätte mich umgebracht, ihn zu Gesicht zu bekommen. Das konnte ich nicht ertragen. Glaubt ihr mir nun?«
Macy wollte Shailene besuchen und ihr von Michael erzählen. Als sie aber eintraf, hörte sie bereits Shailenes Schreie. Da ihr nicht geöffnet wurde, lief sie um das Haus herum.
Im Wohnzimmer auf dem Boden lag Shailene, ihr Rücken war nackt und mit blutigen Striemen bedeckt. Miles trug eine Soutane und hatte in der Hand eine mehrzüngige Geißel. An den Geißelriemen klebte Blut. Er schrie etwas, Shailene antwortete mit einem Gebet, das Macy ebenfalls nicht verstand, dann schnitt das Leder wieder in ihren Rücken.
»Shailene«, schrie Macy und hämmerte gegen die Fensterscheibe. Alle Schiebetüren waren verschlossen. Jemand hatte Berberitzen und Christusdorn im Garten geschnitten und zu einer Krone gewunden, die auf der Veranda lag.
Miles’ Beten wurde lauter, um Macys Klopfen zu übertönen. Shailene lag auf dem Boden und regte sich kaum. Auf dem Teppich lagen verstreut Fotos. Auch wenn Macy nicht genau sehen konnte, was fotografiert worden war, konnte sie es sich denken. Mimi hatte ganze Arbeit geleistet.
Sie hämmerte weiter an die Scheibe, doch weder Miles noch Shailene reagierten. Er hieb auf ihre Freundin ein, traf ihre Oberlippe, die aufsprang und blutete. Macy konnte das nicht mehr mit ansehen. Sie hatte Angst, dass er Shailene totschlagen würde. Blut lief über ihren nackten Körper. Macy nahm einen der Gartenstühle und warf ihn gegen die Fensterscheibe.
Auch wenn ihre Mutter ihr genommen worden war, Shailene sollte ihr niemand entreißen können. Das Glas zerbarst.
»Das hat dich nicht zu interessieren!«, kreischte Miles schrill, als Macy durch die zersplitterte Scheibe kletterte.
Shailene befand sich fast in einem Delirium. Ihr linker Fuß zuckte spastisch.
»Lass die Finger von ihr. Sie muss für ihre Sünden büßen. Dreimal das Miserere, hörst du, mein Täubchen?« Er wollte Shailene mit der Schuhspitze in die Seite stoßen, doch Macy warf sich schützend vor ihre Freundin. Aus den Augenwinkeln sah sie die Fotografien, die Shailene in Ekstase auf Will zeigten. Kein Wunder, dass Miles wie ein Stier tobte. Sie half ihrer Freundin auf. Miles stand dunkel und bedrohlich vor ihnen, seine Hände umklammerten die Geißel.
»Du tust ihr keinen Gefallen, Macy. Gott wird sie richten, wenn nicht ich ihre Sünden austreibe«, keuchte er.
»Wie kann man nur so pervers sein?«, schrie Macy. »Es gibt keinen Gott, und wenn, will er bestimmt nicht, dass Shailene totgeprügelt wird. Wie kannst du sie lieben und gleichzeitig schlagen?«
Sie ließ Miles schnaubend im Wohnzimmer zurück und schleppte Shailene die Treppe hinauf ins Bad.
»Ich bin böse, Macy«, ächzte Shailene, die wieder zu sich gekommen war. »Salz in meine Wunden.«
»Nein, wir verbinden dich.« Macy setzte sie in die Badewanne, zog ihr das Seidenkleid vom Körper, das sie getragen hatte und das mit Blut getränkt war, und begann mit einem Schwamm, den sie in warmes Wasser getaucht hatte, ihren Rücken zu reinigen.
»Zu viel Blut«, murmelte Macy. Shailenes Körper war warm und geschunden. Anschließend rieb sie ihren Rücken vorsichtig mit Arnika-Salbe ein.
»Miles hilft mir. Ich werde sonst ein schlimmes Ende nehmen.«
»Beruhig dich, alles wird gut, und wir werden Miles loswerden, ist das klar?«
Macy wurde davon wach, dass ihr Mund ausgetrocknet war. Sie hatte mit offenem Mund geschlafen, und auf ihrem Kopfkissen hatte sich ein feuchter, runder Fleck gebildet. Mit einem Glas Wasser ging sie auf die Terrasse. Am Horizont zeichneten sich zarte Silberstreifen ab. Einige Vögel, die bereits wach geworden waren, sangen in der glimmenden Dunkelheit. Ein großer, pelziger Nachtfalter mit einem weißen Totenschädel auf dem Rücken schwebte an ihr vorbei und flog zur Wäsche, die noch immer zwischen den Ahornbäumen hing. Macy schüttelte den Kopf, weil sie die Kleidung vergessen hatte. Der Falter segelte zwischen einer Hose und einem Kopfkissenbezug hindurch. Macy wurde aufmerksam. Sie hatte doch dort das rote Kleid ihrer Mutter aufgehängt. Unruhig lief sie zur Leine, um nachzusehen, ob das Kleid zu Boden gefallen war. Als sie aber unter den Ahornbäumen angekommen war, musste sie feststellen, dass das rote Kleid fehlte. Stattdessen hing dort eine Spielkarte. Jemand hatte ein Pikass mit einer Wäscheklammer an die Leine gepinnt. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, und panisch floh sie ins Haus, als würde noch immer jemand zwischen den Büschen auf sie lauern. Wer war dieser Jemand, der Sachen aus ihrem Haus entwendete und dafür Karten zurückließ? Und vor allem, was wollte er?