Samstag, 16. Juli 1983

Eine Party am Old Swamp Side

Bereits seit einiger Zeit stand Macy am Fenster und starrte zur Eiche im Garten. Sie beobachtete eine Erdkröte, die aus dem Dunkel zwischen den Baumwurzeln hervorkroch. Die Kröte bewegte sich schwerfällig. Ihre vernarbte Haut glänzte im Sonnenschein. Wahrscheinlich hatten die schwarzen Würmer sie angezogen.

In der Nähe der Eiche auf einer gekrümmten Blutpflaume saßen Krähen. Hin und wieder flog einer der Vögel knapp an der Kröte vorbei; jedes Mal verfiel das arme Tier in Todesstarre. Die dunklen Vogelkrallen zogen haarscharf an der Haut der Kröte vorbei, obwohl die Krähen kein wirkliches Interesse an der Amphibie hatten. Auffallend häufig besuchten in diesem Sommer Krähen ihr Grundstück. Macy fragte sich, was sie anzog.

Die Spielkarte hing noch immer auf der Wäscheleine. Macy überlegte, ob sie die Polizei rufen sollten.

Da sie aber spät für ihre Schicht im Paper Moon Café dran war, musste sie sich beeilen und konnte keine weiteren Gedanken an die Karte verschwenden. Sie hatte einige Stunden im Café nachzuholen. Ihr Chef hatte bereits gedroht, wenn sie weiterhin so häufig fehlen würde, müsste er sich nach einem Ersatz umsehen – familiäre Tragödie hin oder her.

Macy schlüpfte in Jeans und eine luftige Bluse mit Blumenstickereien am Kragen. Sie suchte nach dem Ring ihrer Großmutter, den mit dem Türkis. Er war aber noch immer nicht auffindbar. Sie schloss die Augen, um sich zu erinnern, wann sie zuletzt den Ring getragen hatte, stattdessen sah sie eine große, dunkle Männerhand in der silbernen Schale auf ihrer Kommode wühlen, in der sie Glasperlenketten, Ohrgehänge und einige Ringe aufbewahrte.

Sie rieb sich die Augen und ging in die Hocke, um unter der Kommode nachzusehen. Dort lagen aber nur eine steinharte, vertrocknete Mandarine, die am Boden festklebte, eines von Ians Matchbox-Autos und ein Ohrring, wobei sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, wem das Schmuckstück einmal gehört hatte. Es war knallrot und aus Plastik, und weder ihre Mutter noch Shailene hätten jemals so etwas Billiges getragen.

Sie hoffte sehr, dass der Ring nicht auch wie das rote Kleid von dem Fremden, der ihr Haus besuchte, entwendet worden war.

*

Der Kiefernwald hinter dem Paper Moon Café duftete heute besonders würzig. Der Meltau hatte sich weiter ausgebreitet. Es war, als ob es über Nacht geschneit hätte. Die Gäste waren durstig und verlangten ungeduldig nach Drinks, und zu allem Überfluss war der Deckenventilator in der Küche ausgefallen. Schweiß und Feuchtigkeit tropften von der Decke, und der Koch war schlecht gelaunt.

Als Macy eine Raucherpause einlegte, sah sie einen blau schimmernden Schwarm Holzbienen über einem blühenden Distelbeet schweben. Der Schwarm nahm unterschiedliche Formen an. Mal formte er sich zu einem Kreuz, mal zu einer Spirale. Sie blickte sich um, ob noch jemand anderem dieser Schwarm aufgefallen war, aber niemand nahm Notiz von den Bienen. Sie beobachtete, wie sich der Schwarm auflöste und auf den violetten Distelspitzen verteilte.

Als Macy zurück im Café war, musste sie feststellen, dass ihr Em einen Besuch abstattete, und zwar in einem ziemlich desolaten Zustand. Zwei ihrer Kolleginnen bemühten sich, sie höflich hinauszukomplimentieren.

»Macy, Macy«, kreischte Em, als sie Macy entdeckte. Vorsichtig näherte sich Macy. Sie musste an die Schere denken, die nur um Haaresbreite ihren Hals verfehlt hatte.

Etwas stimmte mit Em nicht. Ihre Lippen waren rissig, die Wangen glühten fiebrig, die Augen waren stumpf und ohne jeglichen Widerschein, und ihre Pupillen waren riesig und füllten die Iris fast gänzlich aus. Em hatte ihr Haar teilweise abgeschnitten. Dieser schlechte Haarschnitt wirkte fast brutaler als ihr wirrer Geisteszustand. Das weite, gebatikte Kleid, das sie trug, war über ihre spitzen Schultern gerutscht. Macy fragte sich, ob sie Drogen eingeworfen oder einfach ihre Tabletten vergessen hatte.

»Em, was willst du hier?«

»Dieser Indianer, dein Indianer, er beobachtet mich. Die ganze Zeit.«

»Hast du was genommen?«, fragte Macy vorsichtig. Sie führte Em zur Bar, um ihr ein Glas Wasser mit einem Schuss Zitrone zu reichen. Sie hatte wenig Hoffnung, Em von ihrem Trip in der Kürze der Zeit herunterzubekommen. Sie brauchte unbedingt Verstärkung. Einige Gäste warfen ihnen bereits verwunderte Blicke zu.

»Dieser Indianer hat alles gesehen und wird seine Schattenwesen auf mich hetzen. Diese Nightcrawler!«

Macy versuchte, Em etwas Wasser einzuflößen. »Greg? Ist Greg zu Hause?« Sie suchte in Ems Handtasche und fand auch eine von Gregs Visitenkarten. Aber natürlich ging niemand ans Telefon, als sie anrief. Dann versuchte sie es bei den Erens, und Dave war tatsächlich da. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Er würde kommen und Em abholen.

»Dave kommt.«

»Dave?« Ems Augen weiteten sich vor Schreck. Dann brach sie in irres Gelächter aus. »Du bist zum Totlachen.« Vor Lachen fiel sie fast vom Stuhl. Dann plötzlich schnellten ihre Hände in die Luft, und sie schrie panisch: »Meine Augen, meine Augen! Dieser Nebel! Er wird immer mehr.« Dann wandte sie sich an Macy, konnte sie aber nicht mehr fixieren. Sie blickte in ihre Richtung und doch an ihr vorbei. »Der Indianer soll verschwinden«, jaulte sie auf. »Du musst deine Mutter finden, damit der Spuk ein Ende hat.« Tränen traten in das wilde Grün ihrer Augen.

»Hast du was mit dem Verschwinden meiner Mutter zu tun?« Macys Atem stockte. Sie dachte an Michael und das Mädchen, das er beschrieben hatte. »Warst du im Faraway Inn?«

»Nein, niemals! Ich hab ihr nichts angetan. Ich weiß von nichts!« Ems Hände krallten sich in Macys Handgelenk. »Ich werd wahnsinnig. Es sind bestimmt die Tollkirschen, die in unserem Garten wachsen. Es waren fünf Beeren, und jetzt sind es nur noch drei. Die erste macht dich blind, die zweite wahnsinnig, und die dritte tötet dich!«

Macy versuchte, sie zu beruhigen, es gelang ihr aber nicht. Als Dave erschien, um Em abzuholen, verfiel sie in einen zuckenden Schreikrampf.

»Vielleicht doch besser ins Krankenhaus?«, fragte Macy beunruhigt. Em machte keinen gesunden Eindruck.

»Das muss Greg entscheiden.«

»Hast du alles vergessen? Unsere Zeit im Yosemite Park? Du bist so undankbar!«

Dave packte Em unsanft an der Schulter und zerrte sie zu Gregs Lieferwagen. »Wir werden etwas finden, was dir hilft.« Er schubste sie hinein, sodass sie zu Boden fiel. Macy war sich nicht sicher, ob Em wirklich in guten Händen war.

»Keine Angst, Macy. Wir kriegen das hin. Ich weiß nicht, wie lange sie schon ihre Tabletten nicht mehr nimmt. Das nächste Mal einfach kaltes Wasser über den Kopf schütten. Das bringt sie wenigstens kurzfristig zur Besinnung.«

Beunruhigt ging Macy zurück ins Café. Warum sah Em plötzlich Ians Indianer, und hatte sie etwas mit dem Verschwinden ihrer Mutter zu tun? Aber sehr viel Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht, denn die Gäste verlangten nach Drinks und süßem Meloneneis.

Nach ihrer Schicht hatte Macy eine halbe Stunde Zeit zum Verschnaufen. Dann holte Shailene sie ab, und sie fuhren zum Congaree. Ein Freund eines Freundes war günstig an Schaffleisch gekommen, und das wollten sie grillen. Es würde ihr guttun, einfach mal den Kopf freizubekommen. Sie würde trinken, feiern und Musik hören. Sie freute sich auf die Party.