Sonntag, 17. Juli 1983

Das Fest der Schlangen

Shailene war tot. Ihr Körper war eine leere Hülle, ihre Seele verschwunden. Ihre beste Freundin war tot. Macy würde Shailene nie mehr wiedersehen. Sie würden nie mehr zusammen lachen. Von jetzt an musste sie ohne eine beste Freundin auskommen.

Als die Schlangen Shailenes Kopf freigegeben hatten, der voller Blut und Hautfetzen war, begriff Macy langsam, wer da im Wasser trieb. Roxie hatte es viel schneller verstanden, da sie Shailenes Kleidung erkannt hatte. In Roxie war auch schneller wieder Leben gekommen als in Macy.

»Ich hol Hilfe«, hatte sie gerufen und war zurück zum Jeep gestürzt.

Fassungslos saß Macy neben Miles, der ihnen gefolgt war, auf der Uferböschung und sah hinunter zu der Leiche im Wasser, um die sich ein Grabtuch aus Schlangen gewoben hatte. Die Tränen, die aus ihren Augen flossen, waren still und verzweifelt. Sie hatte keine Kraft zum Schreien. Es waren nur Hilfslosigkeit und Verzweiflung.

Miles hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und schien zu beten.

»Shailene, meine geliebte Freundin«, flüsterte Macy.

Miles blickte auf, und in seinen Augen standen Ruhe und Gelassenheit. »Es war ein Unfall.«

»Ein Unfall?«, wimmerte Macy.

»Erinnerst du dich an Alan Hurley? Alan ist letztes Jahr umgekommen. Ich durfte die Messe für ihn halten. Er hat mit seinen Freunden am Congaree gefeiert. Als er nachts betrunken am Fluss zurück ist, muss er unglücklich getreten sein. Er ist das Flussufer hinabgerollt, hat sich dabei den Kopf gestoßen und ist ohnmächtig ins Wasser gefallen. Dort ist er ertrunken.«

»Doch nicht Shailene.«

»Schau dir die Böschung an.«

Tatsächlich war die Uferböschung teilweise heruntergetreten, Sprösslinge umgeknickt, und eine dünne Blutspur hatte sich in den Sand gegraben. Plötzlich sah Macy das Szenario vor sich. Auf der Suche nach ihrer Freundin war Shailene in der Dunkelheit unglücklich oder vielleicht sogar auf eine wütende Mokassinschlange getreten. Sie war das Ufer hinabgerutscht, das voller Dornen und Geröll war, hatte sich noch hilflos an Grasbüscheln festzukrallen versucht, hatte sich Kopf und Gliedmaßen an Steinen aufgeschlagen und war im Wasser ertrunken.

»Gott bestraft jede Sünde, und Shailene war eine große Sünderin«, verkündete Miles feierlich.

»Wie kannst du so was sagen?«, schrie Macy. »Du hast sie geliebt!«

»Ich hab sie mehr als alles auf dieser Welt geliebt. Sie war mein Engel. Und doch bin ich ein gottesfürchtiger Mensch. Sie hat sich zu oft versündigt.«

Ungläubig starrte Macy Miles an, wie er mit frommem Gesicht und blutbespritzt neben ihr saß.

»Ich erinnere mich an jeden einzelnen Schlag, den du ihr verpasst hast. Die Polizei wird Fragen stellen, woher diese Wunden auf ihrem Rücken stammen.«

»Sie hat es verdient. Du bist schuld, dass ich sie nicht vollends von ihren Sünden reinigen konnte. Und jetzt ist sie tot.« Seine Stimme klang bedrohlich.

»Was hast du getan, Miles?«, schrie Macy panisch. Sie hatte Angst, dass er Shailene ein letztes Mal für ihre Sünden bestraft hatte.

»Was soll ich getan haben? Es war Gott, der sie bestraft hat. Ihr Leben war nie in meiner Hand, sondern immer in Gottes. Sie hat gegen die Zehn Gebote verstoßen. Gott entgeht nichts.«

»Wo warst du letzte Nacht, Miles? Wer soll dich am Kopf erwischt haben? War das vielleicht Shailene, die sich gewehrt hat?«

»Macy, ich bin ein gläubiger Mann und würde mich nie gegen die Gebote des Allmächtigen versündigen. Du sollst nicht töten. Ich kann verstehen, das du einen Schuldigen suchst, aber es war ganz alleine Shailene. Sie hat sich falsch verhalten, und Gott hat sie bestraft.«

Er hielt sich den Kopf. »Wenn ich nur nicht solche Kopfschmerzen hätte«, jammerte er. »Mein Kopf platzt gleich.«

*

Keine Minute länger hätte es Macy mit Miles ausgehalten. Er und seine Heiligkeit machten ihr Angst. Sie hatte den Verdacht, dass er Shailene etwas Schlimmes angetan hatte, da sie ihn mit Will betrogen hatte. Rache war ein starkes Motiv. Sie hatte immer gefürchtet, dass diese Beziehung ein böses Ende nehmen würde.

Als Streifen- und Rettungswagen auftauchten, wäre sie vor Erleichterung fast in Tränen ausgebrochen. Sie würde alles der Polizei erzählen, wie Miles Shailene misshandelt hatte, wie aufbrausend er war. Sie wollte, dass er bestraft wurde. Er musste für Shailenes Tod büßen.

Vorsichtig wurde Shailenes Leiche aus dem Wasser geborgen. Macy kniete vor der Bahre nieder, auf der ihre Freundin lag. Ihr Gesicht war entstellt, am Kopf klaffte eine große Wunde, die Schlangen hatten an ihr gerissen. Ihre Wimpern und die Unterlippe fehlten. Macy wollte sich zu ihr beugen und ihr einen Kuss auf die braun-blutige Stirn drücken, doch ein Officer hielt sie zurück.

»Nicht zu nahe. Wir wissen nicht, wo noch Schlangen in ihrem Körper stecken.«

Um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen, drückte er mit einem Gummiknüppel gegen Shailenes Wange. Ihr Kiefer ging auf, und ein schwarzer Wurm, ähnlich den schwarzen Regenwürmern, die unter ihrer Eiche hervorkrochen, wand sich aus ihrem Rachen.

»Ich liebe dich, Kleines«, flüsterte sie. Der Wurm kroch über Shailenes aufgerissene Wange und bohrte sich in den sandigen Boden neben Macy. »Hat dir Miles etwas angetan?«, flüsterte sie. Der Officer ließ sie nicht aus den Augen. »Ich brauche ein Zeichen, dass Miles dich verletzt hat. Ich werde nicht zulassen, dass er mit diesem Verbrechen davonkommt.«

Ihr Blick wanderte an Shailenes Körper hinunter. In der Mitte ihrer Brust waren rötlich glühende Bissspuren, ihre linke Brust hatte sich bläulich verfärbt. Shailenes Hand umkrampfte etwas. Eine goldene Kette hing aus ihrer Hand.

»Officer«, rief Macy. »Da ist was in ihrer Hand.« Bevor er etwas sagen oder sie zurückhalten konnte, zog sie an der fragilen Kette. Es war eine Kette, an der ein Kreuz hing. Sie glaubte, diese Kette an Miles’ Hals gesehen zu haben, obwohl das Kreuz fast zu klein war. Sie hatte es größer in Erinnerung. Sie richtete sich mit der Kette auf.

»Das ist Miles Johnsons Kette. Er hat meine Freundin aus Eifersucht ermordet.«

Der Officer, dessen Hände in Latexhandschuhen steckten, nahm ihr sofort die Goldkette ab und verstaute sie mit einer Pinzette in einer Plastiktüte. »Beruhigen Sie sich, Miss. Wir werden das gewissenhaft abklären.«

»Es war Miles«, brüllte Macy.

»Ich hab Shailene nichts angetan. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Nimm dich in Acht, Macy.«

»Ist das Ihre Kette?«, fragte der Officer.

»Ja, das ist meine, aber ich schwöre bei Gott, dass ich Shailene heute Nacht nicht angerührt habe.« Seine Miene verzerrte sich wütend, und die Wunde an seinem Kopf, die gerade ein Sanitäter mit Wattebäuschen betupfte, begann wieder zu bluten.

»Beruhigen Sie sich«, murmelte einer der Sanitäter. »Das ist eine schwere Wunde.« Jemand holte Mullbinden und versuchte, Miles dazu zu bewegen, sich hinzulegen. »Wir werden Sie operieren müssen.«

»Sein Schädel ist offen«, flüsterte jemand. Macy sah, wie Miles mit sanfter Gewalt auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben wurde. Sofort brach hinter der Tür hektische Betriebsamkeit aus. Jemand warf das Blaulicht an, und der Wagen schoss davon.

»Er ist schuldig«, schrie Macy. »Er soll auf dem elektrischen Stuhl sterben.« Sie hatte solche Angst, dass Miles auf dem Weg zum Krankenhaus sterben würde und niemand ihn mehr für seine Tat zur Rechenschaft ziehen konnte.

»Miss Wood? Sie brauchen keine Angst zu haben, dass wir unseren Job nicht gewissenhaft erfüllen. Wir werden jeden befragen, der in der fraglichen Nacht anwesend war. Zögern Sie nicht, und erzählen Sie uns alles, auch wenn es für Sie nicht relevant sein mag. Wir werden den Schuldigen finden, wenn Ihre Freundin eines unnatürlichen Todes gestorben ist.«

»Das war kein Unfall«, beharrte Macy.

Der Officer wies zur heruntergedrückten Böschung hin. »Alles deutet auf einen Unfall hin. Der Congaree hat bereits einige Opfer gefordert. Die steile Böschung, die spitzen Felsbrocken, Schlangen und zu seichtes Wasser.«

Frustriert presste Macy ihre Lippen aufeinander. Miles hatte Shailene misshandelt, und er hatte ein Motiv. Das würde sie der Polizei schon noch klarmachen.

*

Macy bewegte sich wie durch einen Schleier.

Ein Polizeiwagen brachte sie und Roxie zur Wache. Sie erfuhren, dass ein Detective Grape mit der Sache befasst sein würde. Bevor Macy auf den Detective traf, zapfte sie sich an einem Automaten einen dreifachen Espresso mit sehr viel Zucker, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Detective ließ sich Zeit, bevor er Macy in sein Zimmer bat.

Es stellte sich heraus, dass Detective Grape eine übergewichtige Frau war, aus deren Kinn drei lange, schwarze Haare sprossen, an denen sie während des Interviews gewissenhaft zupfte. Die ganze Zeit hatte Macy das Bedürfnis, diese drei Haare auszureißen. Der Detective trug ein blaues Hemd mit Dienstabzeichen an den Schulten, das bis zu ihrem dicken Hals zugeknöpft war. An der Wand hinter ihr hing ein Holzkreuz mit einem leidenden Jesus. Grape nahm ihre schwere Brille von der Nase, um die fettigen Gläser zu reinigen, bevor sie Macy befragte.

»Donut?«, begann sie und zeigte auf einen Karton.

Macy schüttelte den Kopf.

»Sollte Ihr Vater dabei sein?«

Abermals schüttelte Macy den Kopf.

»Wir befragen Sie hier als Zeugin.« Detective Grape belehrte sie über ihre Rechte. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Ihrer Mutter und dem Tod Ihrer Freundin?«

Darüber hatte Macy bisher nicht nachgedacht. Für sie war Miles der Schuldige, aber mit dem Verschwinden ihrer Mutter konnte er nichts zu tun haben, oder war er etwa der andere Liebhaber? Das wäre absurd. Ihre Mutter hätte sich nie von einem Prediger verprügeln lassen.

»Keine Ahnung. Ich sehe keinen Zusammenhang. Aber wissen Sie, Miles hat Shailene …« Doch Detective Grape unterbrach sie.

»Bitte lassen Sie uns die Schlüsse ziehen. Sie müssen nur berichten, wie Sie die vergangene Nacht verbracht haben. Wir bemühen uns, den Ablauf zu rekonstruieren. Sie haben sich vom Lagerfeuer entfernt. Shailene hat sich auf die Suche nach Ihnen begeben, und dann will Miles ihr gefolgt sein.« Sie blätterte ihre Notizen durch. »Ich gehe davon aus, dass sie nicht zum Beten verschwunden sind. Damit an Sie – was haben Sie gemacht?«

»Ihnen ist bekannt, dass Miles Shailene misshandelt hat? Ihr Rücken ist voller Narben und Striemen. Er war sehr eifersüchtig, da sie ihn betrogen hat.«

»Ich will im Moment nur wissen, wo Sie in der letzten Nacht waren. Die Verbindung von Mr. Johnson und Miss Smith werde ich noch untersuchen.«

»Ich habe Dave Hudgens getroffen und mit ihm geschlafen.«

Detective Grape schnippte mit den Fingern. »Interessant. Diesen Namen höre ich zum ersten Mal. Dave war nicht zur Party eingeladen? Warum haben Sie sich abseits der Party getroffen?«

»Dave ist spontan aufgetaucht. Ich hatte auch nicht mit ihm gerechnet.«

»Woher kennen Sie Dave Hudgens?« Sie kritzelte etwas auf ihren Block.

»Er wohnt in der Nachbarschaft.«

»Ist er Ihr Freund? Ich meine, gehen Sie miteinander?«

Macy überlegte, ob sie nun mit Dave zusammen war, kam aber zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war. Außerdem hatte er sich aus dem Staub gemacht.

Detective Grape musterte sie intensiv. »Kannte Ihre Freundin diesen Dave?«

»Natürlich.«

»Ich gehe davon aus, da sie bereits mit Miles und Ihrem Bruder intim war, dass sie an Dave Hudgens kein Interesse hatte.«

»Nein, Shailene wusste, dass mir Dave alles bedeutet.«

»Sie haben miteinander geschlafen. Was ist dann passiert?«

»Ich bin wach geworden, Dave war weg, und ich bin zurück zum Lagerfeuer.«

»Das war gegen vier Uhr morgens. Laut Roxie waren Sie mindestens drei Stunden weg.«

»Ich habe mit Dave Sex gehabt, und dann bin ich eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, war Dave weg. Ich hab auf dem Rückweg weder Shailene noch Miles getroffen. Was ist mit Miles’ Kreuz, das Shailene in der Hand hatte?«

»Sie sind aber hartnäckig! Mr. Johnson hat eine schwere Kopfverletzung, die er sich bestimmt nicht selbst zugefügt hat. Gerade wird er operiert. Ich denke, dass er Ihre Freundin beschützen wollte und selbst was abbekommen hat. Mr. Johnson ist ein gottesfürchtiger Mann und über jeden Zweifel erhaben.« Missmutig starrte Macy das Kreuz an der Wand an und überlegte, ob Detective Grape Miles’ Predigten besuchte und damit voreingenommen war.

»Was ist mit Mimi? Sie hat Shailene gehasst.«

»Mimi Barrymore«, stellte Detective Grape mit einem Blick auf ihren Notizblock fest, »soll die Feier bereits gegen zwei Uhr verlassen haben. Sie wollte nach Hause. Näheres ist uns noch nicht bekannt. Wir werden sie befragen. Mit diesem Dave Hudgens werden wir uns auch unterhalten. Wir brauchten seine Adresse und Telefonnummer.« Grape hielt Macy einen Zettel hin. »Erinnern Sie sich an Alan Hurley?«

Macy seufzte. Jetzt kam schon wieder diese Geschichte.

»Damals beim Fall Hurley sind uns Fehler unterlaufen, die wir dieses Mal nicht wiederholen werden. Lange dachten wir, es würde sich um Mord handeln, und haben nach einem Täter gesucht. Was macht man aber, wenn es keinen Täter gibt, da es ein Unfall war? Wir haben einigen Personen das Leben zur Hölle gemacht. Deswegen sind wir bei Ihrer Freundin sehr vorsichtig. Ich würde mich gerne mit Ihnen morgen am Congaree treffen. Sie sollen mir zeigen, wo Sie mit diesem Dave intim gewesen sind. Falls Sie Dave Hudgens treffen, er soll sich bei uns melden.«

*

Als Macy nach Hause kam, kniete Ian vor der knorrigen Eiche, ein Schraubglas in der Hand, in dem eine undefinierbare Flüssigkeit schwamm. Macy erkannte Fingernägelreste, Haarbüschel und zwei von Ians Lieblingsplastiksoldaten. Sie wischte sich ihre vom Weinen nassen Augen und beugte sich zu ihrem Bruder hinunter.

»Was ist das, Ian?« Mit angewiderter Miene deutete sie auf den Inhalt des Einmachglases.

Ian umklammerte das Glas in der Annahme, Macy wollte es ihm entreißen, und wisperte: »Es ist ein Fluch. Wir sind verflucht. Mommy ist verschwunden, Shailene ist tot. Ein Nightcrawler sitzt in der Eiche, den ich vertreiben muss.«

»Was ist in dem Glas?«

Er druckste herum. »Etwas, das den Fluch auflösen wird.«

»Von wem sind die Fingernägel?«

»Die hab ich mir abgeschnitten.«

Macy betrachtete die schief und kantig geschnittenen Nägel ihres kleinen Bruders. Teilweise hatte er bis zum Fleisch hinuntergeschnitten.

»Ian, es sind Unglücksfälle, Pech. Du hast damit nichts zu tun.«

»Aber es kriechen schwarze Regenwürmer aus der Eiche. Manchmal stinkt der ganze Garten nach faulen Eiern. Unter der Eiche sitzt ein Nightcrawler. Er hat Mommy zu sich geholt. Siehst du nicht, wie der Baum langsam stirbt?«

»Das stimmt nicht, Ian. Die Eiche fault, da sie dieses Jahr ein Pilz befallen hat. Du riechst den Moder des Baumes. Wir brauchten einen Baumdoktor, der sich um den Parasiten kümmert. Und das mit den schwarzen Regenwürmern halte ich für Einbildung.« Sie richtete sich auf. »Wir finden Mommy. Shailene wurde von ihrem irren Freund umgebracht. Das ist nicht deine Schuld.«

Ian umklammerte ängstlich das Einmachglas. »Du musst dieses Haus finden, in dem Mommy schläft.«