Das Pikass
Das Pikass war eine heruntergekommene Bar in Kilbourne Heights, die schon mal bessere Tage gesehen hatte. Vor langer Zeit war die Bar geschmackvoll eingerichtet gewesen, aber Mobiliar und Tapete waren speckig geworden und hatten die Farbe von Urin angenommen. Die eine oder andere Kerbe in den Möbelstücken erzählte von Auseinandersetzungen, verletzten Gefühlen und ganz viel Leben, das durch diese Räume geschwappt war. Hier hatte ihre Mutter also gepokert. Macy fragte sich, was Shailene über ihre Mutter herausgefunden und warum sie ihre Freundin nicht in ihre Vermutungen eingeweiht hatte. Das machte sie unruhig.
Das Pikass war schlecht besucht, nur einige Alkoholiker hingen an der Bar herum und betrachteten gedankenverloren die leeren Gläser vor sich. Ein Mann, dessen Haut vom Wetter gegerbt war und der einen Cowboyhut auf dem schütteren Haar trug, flüsterte immer wieder vor sich hin: »Mustangs. Das war was. So junge, wilde Dinger. Die sind übers Gras geflogen.«
»Du bist in Columbia, Alter«, erinnerte ihn ein Mann mit Schnurrbart hinter dem Tresen, der Gläser abtrocknete. Als er fertig war, stellte er einen neuen Drink mit Ananasstückchen vor den Cowboy. Jemand bearbeitete einen klingelnden und leuchtenden Flipperautomaten.
Die Bar strahlte eine seltsame Atmosphäre aus. Hier ging die Zeit verloren. Die Menschen bewegten sich langsam, als steckten ihre Schuhe in Treibsand. Kleine Lampen mit roten Lampenschirmen auf den Tischen tauchten den Raum in ein schummriges Licht.
Macy stellte sich an die Bar.
Der Mann mit Schnurrbart, der Gläser abtrocknete, brummte in ihre Richtung: »Wir bedienen keine Minderjährigen.«
»Ich will nur eine Coke.«
Der Mann verdrehte die Augen, als wäre es unter seiner Würde, in diesen Räumen ein nicht alkoholisches Getränk zu öffnen, holte dann aber eine Flasche Coca-Cola aus einem Kühlschrank und stellte sie vor Macy.
»Ich hätte ein paar Fragen zu meiner Mutter.« Sie legte eine Fotografie von Charlotte auf die Theke. »Und zu meiner Freundin.« Shailene hätte das alles viel besser gemacht. In ein paar Sekunden hätte sie den Mann um den Finger gewickelt gehabt.
»Hätte nie gedacht, dass mir diese Lady so viel Ärger macht«, brummelte der Mann in seinen ungepflegten Schnurrbart, als er die Fotografie von Charlotte betrachtete. »Jeder will von mir wissen, wo sie steckt. Sie hat sich hier nur amüsiert. Mehr nicht. Das ist kein Verbrechen. Deine Mutter hat gepokert und hier ziemlich viel Kohle eingesackt. Sie hatte immer eine gute Zeit in meinem Laden. Vielleicht hat sie sich aus dem Staub gemacht? Das hab ich auch deiner kleinen Freundin gesagt.«
»War meine Mutter alleine hier oder in Begleitung?«
»Ganz schön neugierig. Als ob ich meine Gäste beobachten würde.«
»Sie hatte einen Typen dabei, oder?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber sie soll eine Affäre mit einem meiner Angestellten unterhalten haben. Zumindest war da so ein Gerücht, das mir zu Ohren gekommen ist.«
»Könnte ich mit diesem Angestellten reden?«
»Ich hab ihm gekündigt, weil er sich aus der Kasse bedient hat.«
»Wie sah er aus?«
Der Mann mit dem Schnurrbart schüttelte den Kopf. »Ein junger Typ, dunkelhaarig, ein Draufgänger. Der hat jede Frau um den Finger wickeln können, obwohl er nichts draufhatte. Sein Name ist Thomas Wood.«
Macy hielt sich an der Theke fest, damit sie nicht vom Barhocker kippte. Thomas Wood – dieser Typ war gerissen und hatte es auf ihren Vater abgesehen. Wer zum Teufel war das? »Ein junger Typ?«, echote sie entsetzt.
»Anfang zwanzig. Sehr charmant.«
»Fuhr er einen silbernen Dodge?«
»Jetzt, wo du fragst, ja, er kam manchmal in einem silbernen Dodge.«
Angst und Verwirrung wechselten sich bei Macy ab. Der Kentucky Highway Killer benutzte einen silbernen Dodge. Aber warum sollte er sich Thomas Wood nennen, und wie war er auf ihre Mutter gestoßen?
Als Macy wieder zu Hause war, bot sich ihr ein sonderbarer Anblick. Ian stand in der Einfahrt ihres Grundstücks, ein Torflügel war geöffnet. Ihr kleiner Bruder hatte einen Indianerschmuck auf dem Kopf. In der einen Hand hielt er einen Stock, dessen Rinde er teilweise geschält hatte, mit der anderen umklammerte er sein kleines Schnitzmesser mit dem schillernden Perlmuttgriff. Am Boden lagen vertrocknete Rindenstückchen.
Vor ihm kniete Greg auf dem Boden. »Bitte lass es vorbei sein, kleiner Mann. Ich geb dir alles«, wimmerte er.
»Hau ab«, fauchte Ian und fuchtelte mit seinem Schnitzmesser in Gregs Richtung. »Towa-Hook besucht, wen er will. Ich weiß nicht, warum er in deine Schwester gefahren ist.«
»Bitte«, jaulte Greg. »Du musst mir helfen. Der Indianer gehorcht dir. Ich hab ihn gesehen. Macy hat ihn mir gezeigt.«
»Was ist denn hier los?« Als Erstes nahm Macy Ian sein Schnitzmesser ab und steckte es in ihre Hosentasche, damit er keinen Schaden anrichten konnte.
»Der Mann ist verrückt«, schimpfte Ian.
»Em ist krank, weil dein kleiner Bruder seinen Indianer auf sie gehetzt hat.«
»Dieser Indianer ist ein Hirngespinst, Greg«, sagte Macy. »Em sollte in eine Klinik gebracht werden. Unser Pilztrip hat ihr nicht gutgetan.«
»Es hat mit ihm zu tun. Er soll mitkommen und Em von diesem Indianer befreien.«
»Ganz bestimmt nicht.« Ian verschränkte seine kleinen Ärmchen vor der Brust.
»Greg, ich kann gerne mitkommen und mit Em sprechen. Ian sollte nicht in ihre Nähe kommen. Deine Schwester ist krank.« Und gefährlich, doch das sagte sie nicht. Sie musste an die Attacke mit der Schere auf der Marihuanaplantage denken. Dieser Gefahr wollte sie Ian nicht aussetzen.
»Aber er quält sie.« Greg war völlig aufgelöst.
Nach einiger Diskussion konnte Macy ihn überzeugen, dass es ausreichend war, wenn sie ihn zu Em begleitete und Ian zu Hause blieb. Auf ihrem Pilztrip hatte er gesehen, dass der Indianer auch ihr folgte – Greg fand das überzeugend.
Als sie zu ihm in den Lieferwagen stieg, warf sie einen kurzen Blick zurück zu Ian. Er hatte sich im Schneidersitz in die Einfahrt gesetzt und den halb geschälten Stock vor sich aufgepflanzt. In seinen Augen lag ein unbestimmbarer Ausdruck, der Macy beunruhigte. Sie hatte das Gefühl, dass Ian nicht mit der Wahrheit herausgerückt war.
Sie hielten in der Wister Lane vor Gregs Laden. Um in die Wohnung zu gelangen, mussten sie den Laden durchqueren. Bei ihrem Eintreten erklang ein zittriges Glöckchen.
Neugierig musterte Macy das Ladeninnere, das dunkel, miefig und vollgestopft mit präparierten Tieren, aufgespießten Insekten in Kästen, Schalentieren und anderen Naturexponaten war. In der Mitte stand eine speckige Kommode mit einer altmodischen Registrierkasse. Aus türkisfarbenen Glasflaschen ragten schillernde Federn, die sich beim kleinsten Luftzug bewegten. Die Kommode hatte schmale Schubfächer, in denen ausgestopfte Vögel, Maulwürfe und silbergraue Spitzmäuse mit Glasaugen lagen.
Neben der Kommode stand ein ausgestopfter Wolf, der Macy aus gelben Augen mordlüstern anblickte. Sein Fell war struppig und das Gebiss gewaltig.
Schaudernd folgte Macy Greg. Es war kein Wunder, dass Em in diesem Umfeld verrückt geworden war.
Sie betraten die Wohnung durch einen Glasperlenvorhang. Es roch dort auffällig nach Verwesung – wahrscheinlich wegen all der Tiere, die auf ihre Verarbeitung warteten. Gleich hinter dem Vorhang brummten zwei große Kühltruhen. Ein Gang führte in eine höhlenartige Wohnküche. Kurz, bevor sie die Küche betraten, blieb Greg stehen und flüsterte: »Ich hab dir nicht alles gesagt.« Er druckste herum. »Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, aber sie meint, sie hätte das Oldsmobil deiner Mutter im Lake Murray versenkt.«
»Was?« Macys Augen weiteten sich vor Schreck.
»Sie bildet sich das ein. Es ist schrecklich! Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, zur Polizei zu marschieren. Ich hab ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Das hat sie aber total aus der Bahn geworfen.«
»Was ist mit den Tollkirschen? Sieht sie wieder besser?«
»Das ist auch so eine Einbildung. Natürlich vergiftet sie niemand mit Tollkirschen. Ihre Augen sind leider nicht besser geworden. Der Augenarzt vermutet irgendwas mit der Netzhaut. Wir müssen das beobachten. Außerdem ist ihre Schildkröte, Mr. Jerry, verschwunden. Die Pilze, das Beruhigungsmittel, ihre Augen und jetzt Mr. Jerry – Em ist am Durchdrehen.«
»Und was kann ich jetzt machen?«
»Ihr ins Ohr pusten oder so und sagen, dass Towa-Hook verschwunden ist?« Greg sah verzweifelt aus.
»Ich kann’s probieren«, murmelte Macy. Wie konnte Pusten helfen, wenn Em tatsächlich dringend medizinische Hilfe benötigte?
Zögernd betrat sie die Küche. Die Terrassentür war offen und gab den Blick auf ein kleines Stück verwilderten Garten frei.
Emily kauerte neben einem gusseisernen Ofen am Boden, die Arme um ihre Beine geschlungen. Neben ihr standen bauchige Flaschen, in denen Tinkturen gärten.
»Emily?«, fragte Macy vorsichtig.
»Wo ist der kleine, gemeine Junge?«, fauchte sie. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Obwohl es nur ein paar Tage her war, dass Macy sie zuletzt gesehen hatte, schien sie erheblich an Gewicht verloren zu haben. Sie war fast durchsichtig. »Sein Indianer macht mich verrückt.«
Sie trug einen auffällig bestickten Bademantel, den Macy schon einmal gesehen hatte; sie kam aber nicht darauf, wo. Über das fließende Blau schwirrten Kolibris. Macy wich zurück, als Emilys Hände plötzlich nach ihr schlugen. Ihre Fingernägel waren zackig abgebrochen und mit weißem Staub bedeckt. Ein Haufen weißer Schneegips lag neben ihr.
»Ian ist nicht da. Aber ich kann dir helfen.«
»Du?«, kreischte Em. Dann lachte sie schrill auf. »Der Indianer, er quält mich. Ich sehe ihn. Überall, aber ich bin nicht verrückt. Nein, noch bin ich nicht verrückt. Ich kneife mich und spüre es sofort.« Schmerzhaft quetschte Emily die Haut auf ihrem Arm. Zurück blieb ein rot-blauer Fleck.
»Warum siehst du diesen Indianer?«
»Weil ich das Auto deiner Mutter im Lake Murray versenkt habe. Er foltert mich, um herauszubekommen, wo deine Mutter versteckt ist, aber das weiß ich nicht. Ich hab nur dieses verdammte Auto versenkt.«
»Alleine?«
»Ja«, antwortete Em aufbrausend.
Aber die Polizei ging von zwei Personen aus. Außerdem konnte Em unmöglich der geheimnisvolle Liebhaber sein. Im Pikass hatte ein junger Mann gearbeitet. Sie sponn sich etwas zusammen.
»Wie geht’s deinen Augen?« Macy versuchte es anders.
»Ich erblinde. Jemand hat mir Tollkirschen unter mein Müsli gemischt! Aber ich lebe noch.«
»Du solltest in eine Klinik gehen, Em. Da kann man dir helfen.«
»Wie denn? Ich bin hier gefangen«, zischte sie heiser.
Erst jetzt bemerkte Macy, dass Greg seine Schwester an einem Fußknöchel an den Ofen gebunden hatte.
»Greg?«, fragte sie entsetzt.
»Sie würde sich sonst die Pulsadern aufschneiden«, entschuldigte er sich.
»Sie braucht dringend ärztliche Behandlung. Das ist gefährlich.«
»Ich will sie in keine Klinik einweisen. Das nimmt nur ein böses Ende!« Traurig vor sich hin murmelnd, verließ Greg die Küche, um im Garten eine Zigarette zu rauchen. Macy folgte ihm. Er setzte sich auf einen wackeligen Stuhl im Schatten eines rot blühenden Essigbaumes und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Als er Macy die Packung reichte, stockte sie. Es war diese französische Zigarettenmarke mit der blauen Verpackung. Der Pegasus segelte durch einen Lorbeerkranz – La Vie Est Belle. Als sie an der Verpackung schnupperte, stieg ihr der unverkennbar würzige Duft in die Nase.
»Woher hast du die?«
»Hab ich vergessen. Vielleicht hat ein Kunde sie im Laden liegen lassen.« Sein Blick war leer.
»Ich wollte dich noch was fragen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag, war Dave da bei dir?«
»Das ist die Nacht, in der deine Freundin gestorben ist? Ich hab davon gehört. Ja, Dave kam ziemlich spät zu mir. Em hatte einen Anfall, und er kann sie gut beruhigen. Sie haben eine besondere Verbindung.« Er zuckte mit den Schultern. »Willst du’s mal probieren und Em das Gefühl geben, du hast den Indianer in ihrem Kopf verschwinden lassen?«